Zeitschriftenumschau
Kathleen Hildebrand
Sommer ist Eskapismuszeit, der Spätsommer die Zeit der Sehnsucht. Könnte man meinen. Doch während Literaturbeilagen und Büchertische den Menschen immer unbedingt „etwas Leichtes“ mit in die Ferien geben wollen, haben die Literaturzeitschriften ganz anderes im Sinn. Sie versammeln harte Realitäten statt flauschiger Fiktionen. Die Ausgaben der warmen Monate machen keine Pause vom bedrohlichen Irrsinn der Welt. Aber sie fragen zugleich, was das eigentlich ist, diese Wirklichkeit – und wieviel davon wir wirklich verstehen und beschreiben können.
Den charmantesten Widerspruch zum Urlaubsklischee ihres Erscheinungszeitraums „Juli bis September“ wagt die monothematische „Metamorphosen“ aus dem Berliner Verbrecher Verlag. Ausgerechnet um „Arbeit“ geht es der aktuellen Ausgabe. Und die Autoren machen es sich nicht leicht damit. Im Eröffnungsbeitrag „Variationen der Unfreiheit“ klagt Jens Steiner, der gerade selbst einen der – wie er schreibt sehr seltenen – Gegenwartsromane über Arbeit veröffentlicht hat („Mein Leben als Hoffnungsträger“, Arche Verlag): „Man könnte weniger, aber wer traut sich schon? Man könnte ein bisschen lockerer, aber wer hat noch die Kraft dazu? Man könnte gar nicht mehr, aber die Angst.“ Steiner führt akribisch auf, wie in den vergangenen Jahren im deutschsprachigen Raum über Arbeitswelten geschrieben wurde. Eine kluge Erkenntnis: Die Mühen der mächtigen Manager taugten Autoren wie Kathrin Röggla oder Rainald Goetz zu dokumentarischen Dramen. Während Texte über das Leben kleiner Angestellter meist zum Komödiantischen neigten.
Utopien vom besseren Arbeiten sucht man in diesem düster-kritischen Heft leider vergebens. Das einzig Erfrischende: Mit Karl Ove Knausgård bekommt einer der großen Asketen der Gegenwartsliteratur eine Watschen ab. Dessen Monumentalprojekt „Min Kamp“, das seinen entbehrungsreichen Weg zum Schriftstellerdasein beschreibt, sei letztlich ein Arbeitsprotokoll voller protestantischen Betriebsamkeitsethos’, schreibt „Metamorphosen“-Redakteur Karl Clemens Kübler im Rezensionsteil des Hefts. Knausgårds Hauptfigur perpetuiere „die positive Besetzung von vereinzelter, selbstzerstörerischer Arbeit, wo doch gerade eine Kritik an ihr wichtig wäre.“ Kübler fordert, dass jemand diesem Knausgård doch mal Geschichten von dem erzählen sollte, was es außerhalb des Schaffens gibt, nämlich „Genuss, Sinnlichkeit und Freude“.
In der Türkei ist es damit gegenwärtig nicht weit her. Die Zeitschrift „allmende“ geizt in ihrer Istanbul-Ausgabe deshalb nicht mit Kritik an den politischen Zuständen unter Erdoğan. Das Heft, das Texte von türkischen, deutschen und deutschen Autoren mit türkischen Wurzeln versammelt, ist ein einziger Hilfeschrei, jedoch ein ziemlich verzweifelter. Die Literatur ist kaum eine Hilfe mehr. Gedichte, die 2013 während der Proteste im Gezi-Park überall an Hauswände geschrieben wurden, sind längst übermalt, im Heft sind einige von ihnen abgedruckt.
Wie blickt die türkische Jugend auf diese neue Realität, fragt sich der Autor und Regisseur Nuran David Calis, als er bei einem Besuch an der Istanbuler Universität einen seiner Filme vorstellt. Der Raum ist voll mit jungen Menschen, an die Wände haben Studenten die Namen von türkischen Freiheitskämpfern gekritzelt. Aber was passiert, als sein Vortrag vorüber ist? Niemand stellt eine Frage, die mehr wäre als brave, konventionelle Höflichkeit. Eine kritische Diskussion, geschweige denn eine politische, bleibt aus.
„Ihr müsst uns nichts lehren“, antwortet ein Student, den Calis nach dem Grund für diese Zurückhaltung fragt. Und Calis versteht: „Ich weiß nicht, was ‚Untergrund‘ hier bedeutet, ich weiß nicht, was ‚Kunst‘ oder ‚Freiheit‘ hier bedeuten, ich weiß gar nichts und maße mir an, über dieses Land und dessen junge Generation zu urteilen?“ Das Fazit seines Ausflugs zur Jugend von Istanbul ist schmerzhaft, aber wahrscheinlich sehr wahr: Die junge Generation der Türkei muss ihr Land selbst verändern. Sie habe sich von den westlichen wie den eigenen Autoritäten entfremdet, schreibt Calis. „Alles und nichts ist möglich. Eine wirklich undurchschaubare, unwirkliche Zeit.“
Was kann, was will ich überhaupt wissen über meine Mitmenschen? In der Juli-Ausgabe der Schweizer „Reportagen“ finden sich zwei hervorragende, berührende Texte, die diese Frage ganz gegensätzlich beantworten. In „Der Araber vor der Kita“ ergründet die Autorin Susanne Donner, was in gebildeten, liberalen Eltern vorgeht, die ihre Kinder in eine exklusive Berliner Tagesstätte bringen – und dort plötzlich Tarik Zeki begegnen. Einem Mann, der viel zu jung aussieht und vor allem viel zu arabisch. Der ägyptische Vater der kleinen Soraya spürt die Angst der anderen Eltern. Ihren Verdacht. Er spürt ihn so deutlich, dass er sich aus Scham und Schüchternheit vielleicht tatsächlich zu benehmen beginnt, als sei er der Terrorist, den die anderen in ihm sehen.
Die Lösung ist in Donners Text: Aufklärung. Als die anderen Eltern Zeki als ganz normalen Vater erkannt haben, auch vermittelt durch ihre vorurteilsfreieren Kinder, legt sich ihre Sorge. In der Ich-Geschichte von Lara Stern, „Mein Mann, ein Monster?“ wäre das keine Hilfe. Denn die Erzählerin hat Luke geheiratet. Der ist zwar ein freundlicher, sanfter Mensch, aber ebenso ein verurteilter Sexualverbrecher. Als die Polizei mit einer martialischen Routinekontrolle ins friedliche Suburbia-Idyll des Paares platzt, muss Lara Stern den Nachbarn erklären, was da los war. Sie lügt. Denn sie findet: Aufklärung würde hier alles nur noch schlimmer machen. Auch für sie selbst ist Nichtwissen die Lösung, nicht Wissen. Die Sicht der jungen Frau, deren Aussage Luke einst ins Gefängnis brachte, will sie nicht erfahren. Sie will an seine Unschuld glauben. Und auch die Leser müssen sich mit einem Rest Unwissenheit begnügen: Luke und Lara sind Pseudonyme.
Einen Schriftsteller, der als Person immer sehr offen präsent in seinem Werk ist, stellt „Text + Kritik“ vor. Wolf Wondratschek inszenierte sich oft so, wie auch das lyrische Ich in seinen Gedichten klingt: rau, traditionell männlich, etwas sentimental. „Ja der Wondratschek“, sagte er einmal über sein Vermächtnis, über den Blick, mit dem die Nachwelt wohl einst auf ihn schauen werde: „der Wondratschek mit seinen Huren und seinen Boxern und seinen Cowboystiefeln und seinem Macho-Getue“. Seiner Wahrnehmung in den Feuilletons habe es nicht gut getan, dass seine Figuren fragwürdigen Stereotypen von Frauen und Männern entsprechen. Das schreibt Nikolaus Buck in seinem Beitrag über den Roman „Einer von der Straße“. Und setzt dann freilich an, doch noch die Literarizität von Wondratscheks Werk zu belegen. Dass im gesamten Heft ausschließlich männliche Autoren dem Missverstandenen die Ehre retten – und keine einzige Frau – das ist dann aber doch ein wenig schade.
Wolf Wondratschek selbst scheint es schon seit Langem zu viel zu sein mit der Überschneidung von Realität und Fiktion. Mitte der Neunzigerjahre zog er nach Wien. „Ich musste nach Wien gehen“, erklärte er 2016 in einem Interview, „ich hatte die Schnauze voll von meinem Leben in München. Ich habe mir gesagt, ich will von der Bildfläche verschwinden. Ich war mehr oder weniger nur noch der Darsteller von Wolf Wondratschek.“ Nur weg, weg vom eigenen Ich: Ein wenig Eskapismus-Sehnsucht ist also doch noch zu finden in den Literaturzeitschriften dieses Spätsommers.