Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Lothar Müller
Copyright: Clara Polley

Lothar Müller

Lothar Müller , geboren 1954 in Dortmund, ist Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitug mit Sitz in Berlin und Honorarprofessor für Neue Deutsche Literatur an der Humboldt Universität.

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Lothar Müller

Metamorphosen des Essays. Zeitschriftenumschau

I do not ask you who you are not.“  Kursiv gesetzt, steht dieser Satz unter einem Bild, das weiß-rosa-orange schimmernde Flamingos vor dunklem Hintergrund zeigt. Mit ihrer im Herbst 2019 ausgelieferten Nummer 78/79 hat die Leipziger Zeitschrift Edit ihr Cover verändert. Es enthält nun immer ein Zitat aus einem Text im Heft. Das Bild, das ihn begleitet, steht für sich. Aber natürlich ist es möglich, den Satz als surrealistische Pointe in die stumme Flamingo-Szene hineinzulesen, in der jedes dieser eleganten Tiere nur mit sich selbst beschäftigt ist. Der Satz entstammt dem von Uta Gosmann erstmals ins Deutsche übersetzten Essay „Sichtung der Fakten“ der amerikanischen Autorin Susan Howe aus dem Jahr 1996. Sein Gegenstand sind Filme von Dsiga Wertow, Andrej Tarkowski und Chris Marker, die er beschreibt, reflektiert, mit Strängen des eigenen Lebens verknüpft. „Sorting Facts“ heißt der Essay, weil  die Autorin an der Verarbeitung von dokumentarischem Material, Kriegsbildern, Wochenschauen in den Filmen interessiert ist, an ihren nicht-fiktiven Elementen. Susan Howe ist 1937 in Boston geboren, sie berichtet, wie in Cambridge, Massachusetts, wo sie aufwuchs, die Kinder samstags morgens um 10 Uhr ins Kinotheater der Universität gingen: „Wir sahen Wochenschauen, Cartoons, Vorschauen und zwei Filme. Wir sprachen nicht. Wir spalteten das Verbrechen vom Gesehenen ab.“

In einem Essay garantiert nicht schon die Verwendung der ersten Person Singular, dass das Ich des Autors, der Autorin im Text anwesend ist. Und umgekehrt kann er oder sie anwesend sein, wenn das grammatische Ich im Essay gar nicht auftritt. In „Sorting Facts“ ist das Ich der Autorin anwesend, als Kriegskind und Witwe des deutschstämmigen Bildhauers David von Schlegell, der 1920 in St. Louis geboren wurde, von 1943 bis 1945 Bomberpilot in der 8. US-Luftflotte war und – ein Faktum, datiert – „am Montag, den 5. Oktober 1992, um 5 Uhr morgens starb“.  Das Kriegskind und dieser Tote haben den Blick mitgeformt, den Susan Howe auf Wertows „Mann mit der Kamera“, auf Markers „Sans Soleil“ und „Am Rande des Rollfelds“, auf Tarkowskis „Iwans Kindheit“ und „Der Spiegel“ wirft. Die Schriftstellerin erkennt die Verwandtschaften zwischen dem, was sie in den Filmen der beiden Russen und des Franzosen gesehen und dem, was sie in der amerikanischen Literatur gelesen hat: „Kürzungen, gemischte Würdigungen, Nachrichten, Archivmaterial, nicht-fiktive Wissenschaft, Science Fiction, Groschenliteratur, Reiseerzählungen, Epigraphen, Balladen und Bibelpassagen bilden den verzögerten Anfang von Herman Melvilles Moby Dick. Wenn ein Essay glückt, sind seine Pole, das Ich und die Versenkung in einen Gegenstand – des Lebens, der Kunst, der Gesellschaft, der Natur, all dessen, was der Fall ist – die Brennpunkte einer Ellipse.

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In ihrer Nr. 177 vom November 2019 feiert die Wiener Zeitschrift wespennest ihren 50. Geburtstag mit einem Schwerpunkt zum Thema „Essay“. 1969 gegründet, war sie in ihrer Frühzeit als „Zeitschrift für brauchbare Texte“ die realistisch-sozialkritische Antipodin zu den avantgardistisch-experimentellen manuskripten aus Graz. Nun führt Josef Haslinger, im Interview das Aufkommen essayistischer Schreibweisen im wespennest auf das Unbehagen an der „großen Immerselbigkeit“ von Werkkreisliteratur, Arbeitertheater und Lehrlingstheater zurück.  Und Franz Schuh definiert in „Warum ich ein Essayist bin“ das Politische des Essays als „die Behauptung, dass die ,einzelmenschliche Erfahrung’ etwas wert ist, und nicht nur das, dass sie zu einem notwendigen und nicht bloß beliebigen Teil der Objektivität gehört“. Es ist von solchen Sätzen nie weit zu einem Montaigne-Zitat. So auch hier. Das vielzitierte Ich Montaignes, der einzige Gegenstand seines Buches, ist aber eher ein fernes Rätsel als ein allzeit bereiter Bundesgenosse der Essayisten von heute. Einen Seitenblick auf die Geburtswehen des frühneuzeitlichen Ich wirft Stephan Steiner in seinem Bild-Text-Essay „Ich-Sagen“ auf Matthäus Schwarz, den Hauptbuchhalter des Handelshauses Fugger, der sich zwischen 1520 und 1560 einhundertdreißigmal abbilden ließ. Hier wird der Essay zur Bildunterschrift. Theodor W. Adorno und der junge Georg Lukács, Autor des Essaybandes Die Seele und die Formen, treten noch auf, wenn es um die Bestimmung der Form des Essays geht, etwa in den skeptischen Überlegungen, die Wolfgang Müller-Funk zur Zukunft der Gattung anstellt („Es ist wenig riskant zu vermuten, dass es mit dem ,klassischen’ Essay zu Ende geht.“)  Aber mit höherer Temperatur als über Montaigne schreibt Franz Schuh über den 2018 verstorbenen Generationsgefährten Michael Rutschky („Der größte Essayist meiner Generation im deutschsprachigen Raum“). Und wenn Andrea Roedig in ihrem Text „Frauen“ den guten Essay mit einer Handtasche vergleicht, „die zugleich Schweres und Leichtes tragen kann, die sich klein falten lässt und groß ausdehnen, die genug Fächer hat für die verschiedensten Dinge und trotzdem eine gewisse Ordnung wahrt“,  ist das der Beginn eines kleinen Spaziergangs durch die Essays von Zadie Smith, durch das Labyrinth von Erinnerungen, genealogischen Splittern, Fotografien und Reflexionen in Maria Stepanovas  Nach dem Gedächtnis und das Eiscafé Europa von Enis Maci, in dem Instagram-, Facebook- und Twitterfundstücke serviert werden.

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Seit 2013 erscheinen die Metamorphosen. Magazin für Literatur und Kultur in Berlin. Mit dem Heft „Utopien“ (Okt 2019–Jan 2020) sind sie bei Nr. 25 angekommen. Das doppelte Unbehagen, dem es entsprungen ist, gilt der Kaperung technischer Utopien durch Global Player wie Jeff Bezos und dem Aufschwung literarischer Dystopien, die inzwischen das Zeug haben, zum Wohlfühlgenre zu werden. „Der Antagonist der Utopie“, schreibt Lukas Valtin im Editorial, „ist nicht die Dystopie. (Die Dystopie ist nur kleingeistiger, narzisstischer, gegenwartshöriger, feiger und perverser Eskapismus, eine degenerierte Version der Utopie, die als Korrektiv im Angesicht einer übermächtigen, sich berauschenden Gegenwart einmal nötig war, deren Zeit aber vorerst abgelaufen ist).“ So apodiktisch will das in Form von 10 Thesen verfasste Editorial aber eigentlich nicht sein („10b. Thesen, und noch dazu genau 10, sind das vielleicht unutopischste Theorieformat, das es gibt ...“). Es wäre lieber einer der Essays, die im Heft folgen, von Pascal Tarris über Ursula K. LeGuins „Archaeology of the Future“ oder von Jonas Rump, der in „Psychedelika, Raumfahrt und die Überwindung der Überwindung des Status quo“ ein Update von Aldous Huxleys Doors of Perception und das Buch des amerikanischen Autors Tao Lin Trip. Psychedelics, Alienation and Change (2018) übereinander legt. Hier wird  – lockerer Ton, polemisch in der Substanz – das Unbehagen an der zur Selbstverwirklichung fest entschlossenen Jeff-Bezos-Utopie essayistisch produktiv.

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Der große Essay von Susan Howe ist im Edit-Heft 78/79 außer Konkurrenz dabei. Ihm benachbart findet sich die „Edit Essaypreis Shortlist“ mit fünf Texten von Autorinnen und Autoren der jüngeren Generation. Kurz nach Erscheinen der Ausgabe wurde der Preis geteilt und an Sophia Eisenhut für „Anorexie und Gottesstaatlichkeit“ und an Mazlum Nergiz für „Kopf, verkopft, Kopf locker, kopflos“ vergeben. Bevor in Eisenhuts Essay von der „Fallhöhe im aristotelischen Drama oder Vanitas im barocken Sonett“ die Rede ist, stürzt ein Satz ab: „Mein erzählerisches Augenmerk richtet sich jetzt also auf ihre Gleichgültigkeit gegenüber jedes Entweder-oders in Form dieser manuell konditionierten Leichtigkeit.“ Solche Abstürze kommen bei Virtuosen vor, die auf dem Hochseil balancieren. „Materialien zu Katharina von Manresas  „,Exerzitien’“ heißt der Essay im Untertitel, sein Hochseil ist über Abgründen von Gelehrsamkeit gespannt, über Marginalien und Fußnoten, Zitaten von Augustinus über Herder und Hegel bis Lukács und superaktuellem Jargon.  Das Ganze ist eine Variation auf das alte Muster der Zurichtung eines weiblichen Körpers und Verstummens einer weiblichen Stimme/Schrift, angesiedelt im Klima und (scheinbar) in der Epoche der Gegenreformation. Das ist der Stoff, der mal anstrengend, mal komisch zu lesende Essay macht daraus eine Feier der Lust an der Sprache, die ihn vorantreibt. Das essayistische Ich trägt hier selbstbewusst die Maske der Eitelkeit: „Ich bin eine Puppe, ich vogue und schlage die Beine in gezierter Manier auseinander, wie die Tänzer in dem immer wieder stockenden Video zur Pathosformel des Laufstegs erstarren. Darin besteht die Trinität des Schreibens. Ich bin Marlene, Katharina, ich Sternberg.“

Mazlum Nergiz, Gewinner der anderen Hälfte des Preises, zitiert die Essays von Enis Maci so, wie Michael Rutschky in jungen Jahren Adorno zitierte. Doch das Zitat, das  seinen Essay grundiert, stammt von Ilse Aichinger: „Form ist nie aus dem Gefühl der Sicherheit entstanden. Sondern immer im Angesicht des Endes.“ Ein ,klassischer’ Essay umkreist, entfaltet, umspielt nicht selten einen ästhetischen Gegenstand. Dieser ist das Reenactment einer Theaterprobe, bei der dem Nobelpreisträger Harold Pinter in London kurdische Laiendarsteller durch ihre Verhaftung abhandenkamen, und einer Reise, die Pinter gemeinsam mit Arthur Miller einige Jahre nach dem Militärputsch des Jahres 1980 in die Türkei unternahmen. Das Ich in diesem Essay geht ins Kino, liest Pinter, vor allem aber zitiert es Ereignisse wie den Giftgasangriff auf 5000 Kurden, den Saddam Hussein am Ende des Ersten Golfkrieges befahl. Das Politische an diesem Essay entspringt nicht der „einzelmenschlichen Erfahrung“ des Ich, sondern der Botschaft, die er übermittelt: „Wiederholt wird immer nur die Auslöschung.“

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Essays gibt es nicht nur in der Schrift. Susan Howes Essay sucht im Film nach Verbündeten. Im wespennest enthält Christine de Grancys Selbstkommentar zu ihrem Fotoessay „Von den wilden Weiten“, dessen Bilder einen Dialog zwischen den Gesten, Haltungen, Blicken von Kindern, Fischern, Frauen an der Wolga im Russland der Jahre 1995/96 und in Mali am Niger im Jahr 2008 herstellen. Und wie zum Bild sucht der moderne Essay die Nähe zum Ton, zum Sound. Ein Text der Shortlist zum „Edit Essaypreis“, Lisa Krusches Plädoyer für das Weinen und gegen Männer, die mit Tränen nicht umgehen können, erhielt den „Radio-Essay-Preis“, den die  Redaktion von SWR 2 für einen Text gestiftet hat, „der sich für eine akustisch opulente Umsetzung am besten eignet“. Darum kann man diesen Essay nun nicht nur in „Edit“ lesen, sondern auch in der Mediathek des SWR anhören, der ihn – wie versprochen „opulent“ – produziert und am 16. Dezember 2019 gesendet hat. Die Theorie der Verwandlung von Text in Sound findet man im Essay-Schwerpunkt des wespennests.  Unter dem Titel „Der Radio-Essay als akustische Welterschließungsmaschine. Oder:  Das Radio ist ein poetischer Apparat“ rechnet der SWR-Redakteur Michael Lissek mit den nur scheinbar „goldenen Zeiten“ des „Radio-Essay“ in den 1950er und 1960er Jahren ab. Seinen Vorgängern, die Essays über Artaud, Bataille, Barthes, Foucault, „das Gefängnis, die Revolte, die Psychoanalyse und so weiter“ produzierten, gesteht er allenfalls zu, „inhaltlich“ sei ihnen nichts vorzuwerfen. Sie hätten aber ihr Medium missverstanden, an die Stelle der Entwicklung einer eigenständigen Form des Radio-Essays seine Unterordnung unter den Text, das Format der Vorlesung gesetzt.  „Der Text eines Radio-Essays ist wichtig nur in seiner Funktion als Produktionsvorlage. Der Radio-Essay muss dem Text entkommen wie Edmond Dantès dem Château d’If: mit geschlossenen Augen fliegend. Das macht der Radio-Essay durch alles, was Radio kann.“ Diese Graf von Monte Christo-Theorie des Radio-Essays kommt stilistisch locker daher, ist aber kompromisslos wie alle Manifeste, beinhart in der Polemik gegen das überwundene Ancien Régime.  So schreiben Sieger.  Die Essay-Form, deren Nähe zu Neugier und Zweifel, auch Selbstzweifel beschwört wenige Seiten zuvor John Palattella unter dem Titel „Einige lockere Sentenzen“ noch einmal. Die Welt des Radio-Essays aber ist eine Welt der Gewissheit. Die „Magie des Radios“ kann es ihr zufolge im Format „Ein Text wird vorgelesen“ nicht gegeben haben. „Akustisch waren die intellektuellen Programme der ARD mainstream und staubbedeckt, wenn nicht sogar reaktionär.“ Aber braucht man nicht, um etwa Büchern wie Gisela von Wysockis Wiesengrund gerecht zu werden, der Geschichte einer jungen Frau, die in den Fünfzigerjahren von der Radio-Stimme Adornos in den Bann geschlagen wird, eine kleine essayistische Theorie der Stimme im leeren Raum der Studios der Nachkriegszeit? Hatte der vom Autor oder ein zwei Sprecherstimmen gelesene Essay nur Schwächen, nicht auch Stärken? War er nicht auf seine Weise ebenso „Sound“ wie sein heutiger Nachfolger, der aufwendig produzierte „spoken essay“, der an die Stelle des geschriebenen Textes die Live-Produktion der Gedanken im Gespräch zweiter Protagonisten setzt?

In der SWR-Produktion von Lisa Krusches Essay „Heul doch“ wird der Text von zwei Sprecherinnen gelesen. Schon ehe der Text den Song aufruft, beginnt „Cry me a River“ auf der Tonspur. Wenn der Text dem Tränenverächter Jan Fleischhauer, der die Ungerührtheit von Angela Merkel gelobt hat, empfiehlt, in voller Lautstärke „Waves“ von Dean Lewis zu hören, spielt die Regie auch diesen Titel sogleich ein. Ihr gilt die  in der Schrift enthaltene Musik eine Gräfin von Monte Christo, die befreit werden will, auf Flucht sinnt. Aber will sie in den naturalistischen Sound des Song-Zitats fliehen oder in die Stimme, die den Text in Sound verwandelt? Es ist eine offene Frage, ob das intime Stimmen-Theater der Sprecherinnen durch das Naturalismus-Konzept an Intensität gewinnt – oder einbüßt. Womöglich ist auch der Radio-Essay elliptischer Natur, oszilliert zwischen den Brennpunkten des reinen Stimmen-Sounds und des Soundmix aus Stimmen, Geräuschen, Musiken. Und erhöht wie der schriftliche Essay seine innere Spannung, wenn die Pole, zwischen denen er sich bewegt, eine starke Opposition bilden, als wenn er auf ein normatives Monopol zusteuert.