Der neue Bereich unseres Portals macht es sich zum Anliegen, die internationalen Literaturszenen Berlins zu kartographieren, die handelnden Personen und ihre Schauplätze sichtbar und zugänglich zu machen. 
Die Entstehung der Rubrik wurde durch eine Förderung des Hauptstadtkulturfonds ermöglicht. 

Nesrin Kismar

Autor/In

Übersetzer/In

Steckbrief

Geboren am: 1973
Geburtsort: Kocaeli
Geburtsland: Türkei
Lebt in: Berlin, Kreuzberg


Ausgangssprache: Türkisch
Zielsprache: Deutsch
Arbeitssprache: Deutsch, Türkisch

Vita

Nesrin Kismar, geb. 1973 in der Türkei, lebt derzeit mit ihrer Familie in Berlin. Nach dem Physik-Studium an der ITÜ Istanbul kam sie 1994 nach Deutschland. Neben langjähriger Tätigkeit im Gastronomiebereich hat sie einen Kochblog geführt, an der VHS Mitte Türkisch Kochkurse und an der Oberschulen Märchenkurse geleitet. Sie liebt Volksmärchen und unternahm einen Versuch türkische Volksmärchen ins Deutsche und deutsche Volksmärchen ins Türkische übersetzen. Schließlich hat sie angefangen Kinderbücher und Romane zu schreiben. In letzter Zeit hat sie unter dem Pseudonym 'Defne Seidel' Romane über Migration, Integration und kulturelles Miteinander veröffentlicht. Zurzeit schreibt sie für das deutsch - türkische Berliner Stadt Magazin "Merhaba" und macht literarische Übersetzungen, arbeitet über ihren neuen Buchprojekten.

6 Fragen

Was hat Sie nach Berlin verschlagen? Die Liebe? Der Zufall? Die Weltpolitik?

Es ist eine lange Geschichte, die mit Liebe, Zufall und Weltpolitik zu tun hat. Aber alles hat in den 1960er Jahren angefangen, als mein Großvater als Gastarbeiter nach Deutschland kam... Es war das Jahr 1974. Ich war erst anderthalb. Meine Mutter, ich und meine ein Jahr ältere Schwester waren zum ersten Mal in Berlin. Mein Opa hatte in der Schloßstraße in Tegel eine Zweizimmerwohnung im Dachgeschoss. Da wohnte außer meinem Opa noch meine Oma, meine Tante, mein Onkel und mein Vater. Mein Opa ist leider zu früh gestorben und mein Deutschlandgeschichte war erstmal zuende, denn meine Oma wollte ohne meine Opa nicht mehr in Berlin bleiben. Und da sie in der Türkei nicht mutterseelenallein bleiben wollte, nahm sie mich mit. Sie hatte mich ausgewählt, weil (das ist meine Hypothese) ich sehr ruhig war und meine Schwester ständig heulte (sie ist immer noch so und ich bin ganz das Gegenteil). Von da an war die Geschichte meines Opas beendet und meine Geschichte als Kofferkind fing an, aber irgendwie blieben unsere Geschichten miteinander verflochten. Meine Oma erzählte immer sehnsüchtig von meinem Opa. Er war unser Held. Immerhin hatte er es geschafft, in seinem kurzen Leben ein Haus in der Heimat zu bauen, mit großem Garten, mit Obstbäumen, Rosensträuchern und Ranken aus Heckenkirschen … Meine Kindheit in diesem idyllischen Garten war traumhaft und die glücklichste Zeit in meinem Leben. Von den Wohnzimmermöbeln, dem Fernsehschrank und der Musiktruhe bis zu dem Madonnenbild an der Wand sah unser Wohnzimmer wie aus einem deutschen Versandhauskatalog entsprungen aus. Einen solchen Katalog gab es auch noch, wir haben ihn lange Jahre aufbewahrt, so in etwa wie ein heiliges Buch, das keiner anfassen durfte, genauso wie eine Puppe mit blauen Augen und hellblonde Locken, die auf der Vitrine thronte und von oben auf uns herabschaute. Meine Oma war eine sehr hübsche Frau, als sie jung war, und mein Opa ähnelte auf den Fotos einem Hollywoodstar jener Zeit. Oma hatte im Schrank hübsche knielange Kleider, Miniröcke und schicke enge Blusen von früher. Die konnte sie in unserer Wohngegend nicht mehr anziehen. Ich verkleidete mich mit ihren Sachen und schlüpfte damit in eine andere Welt. Sie lächelte nur. Im Schrank gab es noch ein dickes Fotoalbum aus der Deutschlandzeit und viele Schallplatten. Mein Opa hörte gern türkische Musik. Er war ein begabter Schreiner in unserem Dorf. Sogar einen Couchtisch hatte er selbst entworfen, jedes Tischbein ähnelte einem Frauenbein. Als derart talentierter Mensch musste er bei Thyssen schwere Arbeit in der Gießerei leisten. In meiner Jugend und auch später in Deutschland erzählte mir jeder, der meinen Opa gekannt hatte, bewundernd kleine Anekdoten über ihn. So hat er mich viele lange Jahre begleitet. Ich hatte immer geglaubt, dass Oma und Opa ein Traumpaar waren, weil Oma immer voller Gefühl und Sehnsucht über ihn sprach. Viele Jahre später erzählte mir eine redselige Cousine, dass mein Opa eine Geliebte gehabt hatte, eine gewisse Frau Schmidt, die damals in der Schloßstraße einen Kartoffelladen besaß. Ich fiel aus allen Wolken, mein Kindheitstraum war zerstört. Mit diesen Enthüllungen aus unserer Familiengeschichte kam ich erstmal nicht klar. Vermutlich hatte sich mein Opa so ganz ohne Frau und Kinder und ohne weitere Verwandte sehr einsam gefühlt und fand Trost bei einer anderen Frau. Die Cousine sagte noch, dass damals viele türkische Männer solche Affären gehabt und uneheliche Kinder gezeugt hätten. Sie taten es aber heimlich, nur mein Opa hätte seine Liebe offen gelebt bis meine Oma nach Deutschland kam. Endlich konnte ich mich mit der Geschichte abfinden, da ich begriffen hatte, dass mein Opa Frau Schmidt wirklich gern hatte. Er war ein ehrlicher Mann und Heimlichtuerei war ihm fremd. Alles passte so gut zueinander, dass es keine Lücke mehr in der Familiengeschichte gab. Vielleicht wünschte sich mein Großvater, als er nach Deutschland kam, eine neue Welt zu erobern, wer weiß? Er hat nur die Möglichkeit benutzt, um für das Wohlergehen seiner Familie zu sorgen. Eine liebe halbgriechische Freundin hat neulich von ihres Papas Hausregel erzählt: "Ein Drittel Gastarbeiter geht wieder zurück. Ein Drittel geniesst das Leben und fühlt sich wohl hier. Und ein Drittel wird unglücklich..." Ich habe mir Gedanken gemacht: Zu welchem Drittel sollte mein Großvater gehören? Ich selbst erinnere mich nicht mehr an ihn, aber ich habe von vielen Bekannten und Freunden vieles über ihn gehört. Deshalb denke ich, er war hier doch glücklich. Er hat es immerhin in seinem kurzen Leben geschafft, in seiner türkischen Heimat ein Haus zu bauen, was er sich so sehr gewünscht hat. Ich wohne und lebe immer noch in der gleichen Gegend. Jedes Mal, wenn ich an dem Haus in der Schloßstraße, in dem meine Großeltern damals gelebt hatten, vorbeigehe, schaue ich nach oben zum Dachgeschoss, in der Hoffnung, jemanden zu erblicken. Wer dort jetzt wohnt, weiß ich nicht. Aber die ganze Geschichte gibt mir Halt und Trost. Meine Vorfahren haben ihre Spuren in der Gegend hinterlassen, in der ich gerne lebe. Dadurch fühle ich mich zuhause und nicht, als ob ich tausende von Kilometern fern der Heimat wäre. Seit über 60 Jahren haben wir eine Geschichte in Deutschland, über mehrere Generationen verteilt. Es gibt noch vieles erzählen und es wird noch viel passieren. Die Geschichte geht weiter.


An Berlin liebe ich:

Die Natur, die Umweltfreundlichkeit, das kosmopolitische Gesicht der Stadt, Die Ruhe, die ich in meinem Zuhause empfinde und die Freunde, die in meinem Leben getreten sind. Eine war die liebe Jutta, und diese ihre Geschichte... Vor einigen Jahren, an einem ganz normalen Morgen, stand ich wie immer früh auf. In meinem Mailfach fand ich eine Message von einer gewissen Jutta. Damals schrieb ich noch an meinem Kochblog. Es war nicht unüblich, oft bekam ich Mails von türkischen und auch deutschen Leserinnen. Viele hatten Fragen zu meinen Rezepten oder schickten mir einfach Tipps, manchmal auch neue Rezeptideen. Zuerst schrieb Jutta über ihr eigenes Leben und ich überflog schnell die Zeilen. Die Dame war im Rentenalter. Lange Jahre arbeitete sie als Deutschlehrerin und anschließend leitete sie sogar ein Gymnasium. Dazu besaß sie den Titel als Professorin und lehrte in einer Uni Geschichte. Sie war eine sehr gebildete Frau, mit Erfahrung. Aus ihrer ersten Ehe hatte sie einen erwachsenen Sohn, der sie stolz machte und in Freiburg lebte. Er schrieb gerade über Philosophie seine Doktorarbeit. Bereits seit 15 Jahren lebte sie mit ihrem zweiten Ehemann glücklich zusammen. Vor 6 Monaten erlitt sie einen schrecklichen Unfall. Seitdem saß sie im Rollstuhl. Es waren schwierige und schmerzvolle Zeiten für sie. Mehrere OPs und Physiotherapien folgten. Was ihr half wieder auf die Beine zu kommen, war ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk für ihren Sohn zu kreieren, ein Familienkochbuch. Da sie im Rollstuhl saß, hatte sie dafür jede Menge Zeit und fing an, die Lieblingsrezepte von ihrem Sohn zu sammeln. Dazu schrieb sie kleine Anekdoten vom Alltag auf, aber auch aus ihrem langjährigen Arbeitsleben fügte sie hinzu. Die Familiengeschichte, die von Generationen zu Generation weitergegeben wurde, durfte nicht fehlen. Ihre gesammelten Notizen schickte sie mir als E-Book. Dazwischen befanden sich immer wieder nette Zeichnungen von ihrem Mann, der sich in seiner Freizeit als Künstler versuchte. Nun war sie auf der Suche nach türkischen Rezepten, und fand im Internet schnell meinen Kochblog, der einst im deutschen Sprachraum ganz beliebt war. Dann kam sie zu dem Punkt, warum sie mir überhaupt schrieb: Es war eine tolle Idee: Sie wollte ein zweisprachiges Kochbuch mit Rezepten aus zwei Ländern, türkisch und deutsch erstellen. Und fragte mich, ob ich Lust und Zeit hätte, es mit ihr zusammen zu machen. Jutta wollte, dass ich für dieses Projekt auch die Übersetzungsarbeit übernehme. Ich schrieb sogar den Kochblog in zwei Sprachen, aber hatte nie behauptet, dass mein Deutsch dafür ausreichend war. Ich betrachtete das Ganze, was ich bisher leistete, als Hobby. Mein Deutsch war weit entfernt davon, als perfekt zu sein. Aber immerhin habe ich mich geschmeichelt gefühlt. Nach kurzem Überlegen fing ich an, mit ihr zu arbeiten. Nun schrieben wir täglich Mails, tauschten uns aus und diskutierten angeregt miteinander. Zum Schluss lasen wir noch einmal Korrektur und ich fing freiwillig an alle Rezepte zu testen. Sie suchte für meinen Blog immer weiter türkische Rezepte für den deutschen Gaumen. Nach einer Weile tauschten wir uns nicht nur mehr für unser gemeinsames Buchprojekt aus, sondern wurden inzwischen Freundinnen. Irgendwann hatte Jutta mir geschrieben, dass sie mit ihrem Mann in den Sommerferien innerhalb Deutschlands mit dem Auto verreisen wollten. Sie würden mich gerne in Berlin besuchen und fragten mich, ob sie bei uns übernachten könnten. Die zwei Terrier Hunde hatte sie mir allerdings verschwiegen. :) Natürlich habe ich sofort ja gesagt, schließlich gab es die türkische Gastfreundschaft ... Mit Freude und viel Aufregung hatte ich mich auf ihren Besuch vorbereitet. Meine Mutter und Schwester rief ich zur Unterstützung. Da Jutta und ihr Mann auch ganz schnell feststellten, dass meine mündlichen Deutschkenntnisse noch schlechter waren, als meine schriftlichen, sollten sie Jutta und ihren Mann Gesellschaft leisten. Als es langsam dunkel wurde, machte ich im Gästezimmer die Betten. Für die beiden Hündinnen gab es im Zimmer auch Platz. Als Burkhard, Juttas Mann, ins Zimmer kam, war er aber enttäuscht: "Was, muss ich auch hier Staub saugen?" Aus Versehen hatte ich den Staubsauger mitten im Zimmer gelassen. Da zuhause Staubsaugen zu seinen Aufgaben gehörte, dachte er, hier gleich weiter machen zu müssen. Bis ich verstand, was hier los war, brach schon das große Gelächter aus. In der Hektik, war ich mal in der Küche, mal im Garten. Ich versuchte, mein Bestes zu geben. Plötzlich war es etwas ruhiger. Mein Mann hatte Nachtschicht und ließ uns allein. Burkhard nippte sein Bier aus einer Apfelschorleflasche, damit die Kinder nicht mitbekamen, dass er Alkohol trank. Die Kinder kümmerten sich liebevoll um die beiden Hündinnen. Jutta und meine Mutter waren in Gästezimmer. Ich wollte schauen, ob sie etwas brauchten und warf von der Tür aus ein Blick auf die beiden. Zusammen saßen sie auf dem Gästebett nebeneinander und sprachen mit leiser Stimme miteinander. Jutta sagte: "Mein Sohn ist 27 geworden und hat eine Freundin. Er will heiraten, Kinder bekommen, doch sie denkt nur an ihre Karriere. Besser wäre es, er hätte sich mit einer gutmütigen jungen Türkin getroffen." Meine Mutter erwiderte verständnisvoll: "Ja, ja, es ist Zeit für ihn eine eigene Familie zu gründen und Kinder zu bekommen. Gott ist allmächtig!" Verdutzt sah ich beide Frauen an, die nicht unterschiedlicher hätten sein können. Die eine Mutter hatte drei Töchter und in ihrem ganzen Leben als Küchengehilfin in einer Fabrikküche gearbeitet. Und die andere war eine intellektuelle Karrierefrau. Diese seltsame und intime Szene habe ich lange Zeit in meinen Erinnerungen behalten, bis ich sie später in einem Roman verwendet habe. Das Leben ist seltsam! Vor Kurzem habe ich erfahren, dass die Jutta von unserem Leben Abschied genommen hat. Liebe Jutta, ich vermisse dich sehr ...


In Berlin vermisse ich:

Meine Wurzeln und das Gefühl der Zugehörigkeit. Und darum schreibe ich: Schon als kleines Kind habe ich immer gern Bücher gelesen. Irgendwann habe ich begonnen Tagebuch zu schreiben. Und dann eine lange Zeit danach gestrebt, selbst ein Buch zu schreiben. Zu allererst wollte ich die Geschichte meiner Familie aufschreiben, obwohl an ihr nichts Besonderes ist. Wir teilten das Schicksal hunderttausender Familien, die in 60er und 70er Jahren aus der Türkei als Gastarbeiter nach Deutschland einwanderten. Ich erinnere mich immer noch, als ob es gerade eben passiert wäre. Ich war ungefähr zwölf und lebte bei meiner Großmutter in der Türkei. Es war eine heisse Sommernacht. Meine Familie war aus Deutschland hierher in die Ferien gekommen. Meine Oma hatte einen schönen Garten. Wir saßen auf der Terasse und hatten zusammen gegessen. Nach dem Essen gingen alle wieder hinein, außer ich und meinem Vater. Er saß traurig unter honigduftenden Girlanden, schaute gedankenvoll in den dunklen Himmel mit den leuchtenden Sternen und rauchte eine Zigarette. Und sagte: "Wir sind in Deutschland Ausländer und hier Deutschtürken. Nirgendwo gehören wir richtig hin." Seine Worte habe ich nie vergessen. Nach seinem Tod habe auch ich mein Land verlassen und bin nach Deutschland gekommen. Jahre sind vergangen, aber ich habe seine Worte nicht vergessen. Bin ich auch hier wie mein Vater Ausländerin und in der Türkei Deutsch-Türkin und gehöre nirgendwo richtig dazu? Vielleicht ja. Vielleicht auch nein. Als ich mit 21 nach Deutschland einwanderte, war ich eine erwachsene junge Frau. Wäre ich in der Türkei geblieben, hätte ich vielleicht schon früher mit dem Schreiben angefangen. Vielleicht hätte ich mich mit Frauenrechten oder Klimawandel beschäftigt, oder was immer auch populär und aktuell gewesen wäre. Oder ich hätte Kinderbücher geschrieben, vielleicht auch Kunstmärchen. Aber als ich in Deutschland ein neues Leben begann, wusste ich nicht mal in welcher Sprache ich schreiben sollte. Auf Deutsch oder auf Türkisch? Mein sechster Sinn sagte mir, dass ich unbedingt Deutsch lernen sollte. Und es hat leider Jahre gedauert, bis ich genau wusste, wohin ich richtig gehöre und wozu ich schreibe.


Ein Lieblingsort in Berlin:

Berlin hat nicht nur für mich sondern auch für vielen deutsch türkischen Autoren seit hundert Jahre eine besondere Ort, in fast jede Ecke haben wir Fußstapfen... Berlin, die Stadt der Literatur Es ist natürlich, dass das von einem deutschen Schriftsteller mit türkischer Herkunft verfasste Buch in Deutschland spielt, wo er lebte, seine Kindheit verbrachte, Erinnerungen sammelte und versuchte, Wurzeln zu schlagen. Sein Kampf mit dem Leben hier. Deutschland ist das eine, Berlin das andere sagt man. Eine Stadt, in der türkische Einwohner sich wohlfühlen und sich identifizieren können, ein Ort der Weltoffenheit. Auch in der deutsch-türkischen Literatur spielt Berlin eine besondere Rolle. Wie entscheidet ein Autor, wo sein Roman spielt? Warum gerade Berlin? Diese Frage überraschte mich nicht. Als ich vierzig Jahre alt war, habe ich angefangen Romane zu schreiben und die letzten dreißig Jahre meines Lebens verbrachte ich in der Stadt. Ich dachte, ich sollte an einem Ort anfangen zu schreiben, den ich kenne. Ein Sprichwort sagt: „Es ist sicherer, in vertrauten Gewässern zu schwimmen.“ Aber warum sollte dieser Ort Berlin sein und nicht die Stadt meiner Träume oder die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin? Vielleicht wollte ich Spuren an den Orten hinterlassen, an denen die Themen meiner Romane spielen. Oder ich wollte als Schriftstellerin mit Migrationshintergrund in der Stadt, in die ich kam, Wurzeln schlagen. Vielleicht wollte ich ein Teil dieser Stadt sein. Indem ich Geschichten über Berlin schreibe, kann ich zeigen, wie tief ich diese Stadt kenne, dass es sinnlos ist, mich von ihr zu trennen, und dass man an mich denken sollte, wenn Berlin erwähnt wird. Vielleicht war ich von türkischstämmigen Schriftstellern beeinflusst, die wie ich zufällig in Berlin waren. Vielleicht suchte ich nach ihren Fußabdrücken und folgte ihnen nach. Vor Jahren las ich Sabahattin Ali‘s Roman „Madonna im Pelzmantel“, empfohlen von einer lieben Freundin Füsun mit den Worten: „Du solltest das Buch unbedingt lesen, die Geschichte spielt in Berlin.“ Vielleicht gab mir meine Freundin diesen Rat, weil sie mich mit Berlin identifiziert hat… Der junge Raif, der Held des Buches, wohnt in einem Wohnheim in Berlin, wo er zur Ausbildung kommt. Während des Frühstücks liest er, dass eine Ausstellung eröffnet wird, und bekommt sofort Lust die Eröffnung zu besuchen. Ein Gemälde, das ihm ins Auge fällt, ist das der Madonna im Pelzmantel. Von diesem Bild fasziniert, beobachtet Raif es von der Eröffnung bis zum Ende der Ausstellung. Eines Tages spricht ihn eine Frau an und fragt ihn, ob die Frau im Gemälde ihm wie jemand bekannt vorkommt. Raif, schüchtern wie er ist, vergleicht die Frau mit seiner Mutter, ohne ihr ins Gesicht sehen zu können. Später trifft Raif auf die Frau, die im Pelzmantel auf der Straße. Am nächsten Tag wartet er am gleichen Ort auf sie. Und tatsächlich sieht er sie wieder. Er folgt ihr in einen Nachtclub namens Atlantis. Die Madonna im Pelzmantel singt und spielt Geige. Als ihr Lied endet, setzt sich die Frau an Raif Efendis Tisch und stellt sich als Maria Puder vor. Das Gemälde ist ihr Selbstporträt. Von da an beginnt eine aufrichtige Freundschaft zwischen Maria Puder und Raif Efendi. „Ich umarmte seine Hände und küsste sie. Ich glaube, meine Augen waren voller Tränen. Für einen Moment sah ich, wie sein Gesicht auf mich zukam und seine Augen mich mit einem wärmeren Ausdruck umarmten, als ich je gesehen hatte. Mein Herz fühlte sich an, als würde es stehen bleiben, als ich das Glück näherkommen sah. Doch plötzlich nahm er seine Hände weg und stand auf: -Wo wohnst du? -Ich wohne auf der Lützowstraße! -Es ist nicht weit!... Dann komm und hol mich morgen Nachmittag hier ab!“ (Kürk Mantolu Madonna, Sabahattin Ali, Yapı Kredi Yayınları) Wer weiß, wenn Berlin 1928 ein kleines Istanbul wie heute gehabt hätte, könnte Sabahattin Ali vielleicht „Madonna im Pelzmantel“ nicht geschrieben haben. Denn Raif Efendi hätte wahrscheinlich in einem einfachen Hostel in Kreuzberg, Klein-Istanbul, übernachtet, Zeit mit seinen türkischen Freunden verbracht und nicht die moderne Galerie besucht, in der er die Malerin Maria Puder hätte kennenlernen können. So erlebte Berlin in den 1920er und 1930er Jahren seine Blütezeit in Kultur und Kunst. Nachdem Sabahattin Ali Berlin verlassen hatte, standen harte Jahre bevor. Bald darauf stieg die junge Schriftstellerin Suad Derviş, die zum Literaturstudium kam, aus einem Zug, der 1931 von Istanbul abfuhr und in Berlin ankam. Sie hatte nur 80 Mark in der Tasche, ihre Tantiemen. Sie wollte, dass das Geld nie ausgeht, aber bald war sie pleite und versuchte, mit Schreiben Geld zu verdienen. Doch kein Verlag akzeptierte ihre Übersetzungen. „Wir lesen gern deutsche Autoren, warum sollte hier eine türkische Autorin gelesen werden?“ fragte sie sich. Nach einer Weile entdeckte sie eine Anzeige: Wie stehen die Friseure in der Türkei? Sie schrieb für das Magazin einen Artikel und erhielt 25 türkische Lira für ihre Mühe. Daraufhin begannen Verlage, ihre Artikel zu drucken. Jahre später fand die Türkei ihren Platz in der Stadt mit ihren goldenen Jahren. Einige Jahre später, als sie nach der Türkei zurückkehrte, schrieb sie in ihrem Roman „Cilgin Gibi (Ithaki Yayinlari)“ in der Geschichte des Fazil Beys, der in der Berliner Botschaft eingesetzt wurde, goldene Jahre und hohe Inflation im Höhepunkt der Unterhaltung und die Stadt Berlin ihren Platz auch findet. „Er begann, dieses Geld nach dem Waffenstillstand in Bars und Unterhaltungslokalen im verrückten Deutschland auszugeben. In den Inflationszeiten nach dem Krieg konnte er dieses Geld jedoch nicht ohne weiteres abheben.“ Als die Deutsche Mark schließlich stieg und Unterhaltung in deutschen Städten teurer wurde, verließ Fazıl Bey die deutsche Hauptstadt und reiste in andere Großstädte Europas. Das damalige Nazi-Deutschland; Grausamkeit gegenüber Juden ist Teil des täglichen Lebens. Das damalige Nazi-Deutschland: Grausamkeiten gegenüber den Juden, eine triste Gewohnheit. Eines Abends saß Suat Derviş im gemütlichen Hause seiner ungarischen Freunde zu Tisch. Als sie hinaus trat, prasselte der Spott der Nazis auf ihr nieder. Mit Mühe erreichte sie ein Taxi, der Gewalt entkam sie gerade knapp. Als ihr Vater erkrankte, wollte sie ihn behandeln lassen, doch als die Krankheit den Vater forderte, führte der Weg sie zurück in die Türkei. Das Deutschland-Zeit war beendet. Eine andere wichtige Autorin von damals Füruzans melancholische Betrachtungen über das schmerzliche Schicksal dieser schönen Stadt nach dem Krieg lassen uns fühlen: „Sie erinnerte sich, wo sie stand. Was für eine unglaubliche Ruine es damals war. „Selbst wenn ich es erzählen würde, dass diese Orte durch Bomben völlig zerstört wurden und aus Feuer und Asche auferstanden sind, wird mir niemand glauben“, dachte Frau Lemmer. „Ich kann sie nicht überzeugen. Auch die größten religiösen Führer als Zeugen nutzen nichts. Nichts bleibt zurück... Was ist mit meinen Erinnerungen?' Hat der Krieg früher angefangen, als sie dachte? War da niemand, der durch die Menge schritt und diese Erinnerungen in sich trug? Sie war überzeugt, dass das heutige Bundesallee-Gebiet damals nur ein Haufen aus Erde, Stein und Eisen war.“ (Berlin'in Nar Çiçeği, Füruzan, Yapı Kredi Yayınları) Was geschah mit Hitlers blonden, blauäugigen arischen Jugendlichen? Gefangen zwischen Ruinen? In einem Roman, frisch aus der Feder eines Literaten Feridun Zaimoglu, der heute Deutsch in Perfektion spricht, lesen wir: „Du kommst als junges Mädchen hierher. Für dich ist es ein Abenteuer. Alles perfekt. Doch Berlin, es war ein armes Zuhause.“ „Das Leben, das ich lebe, ist nicht einfach“, gestand Isabel. „Du Dussel“, konterte Helga, „ich habe die Trümmer weggetragen.“ Ich schnitt Haaren, rasiert, die Nase des Kindes abgewischt, kaum für zwei Kartoffeln. Nichts genug. Wann? Tausende Tote. Männer, Frauen, Kinder. Blut und Baumaterialien füllten die Krater. Leichen fielen wie der Regen. Krieg? Am Ende, in den letzten Tagen. Wir warfen sie in die Krater, die Bomben hinterließen. Die Toten, einen nach dem anderen, Scharen. Zeit, sie zu beerdigen? Zeit für Menschlichkeit? Fehlanzeige. Nur das: Pest. Arische Mädchen bei den Soldaten, die den Krieg gewannen. Hündinnen. Auch ich war eine von ihnen. Ich tat es für Mehl, Butter, Zucker, Seide und Kaffee. Bier, Vanillemilchsuppe. Socken für Damen. Amerikanische Zigaretten. Fälschungen. Ich kannte sie alle. Ich hatte glatte, streichelbare Haut... Isabel hörte nicht mehr zu.“ (Isabel, Feridun Zaimoğlu, Kiwi Verlag) Die Berliner Mauer, die als Mauer der Schande in die Geschichte eingeht, entspringt nach dem Krieg, als die Sieger die Stadt besetzen. Aras Ören, ein Arbeiter und Literat, seit 1969 in Deutschland lebt, bringt es in seiner Berlin-Trilogie auf den Punkt. Auch wenn sein Leben in Deutschland weitergeht und er beharrlich Türkisch schreibt, sichert er sich einen Platz in der deutschen Literatur. „Es ist eine gigantische Stadt innerhalb der Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein großer Teil herausgerissen, wo fast zwei Millionen lebten. Viele glauben, dass dies eine Stadt in Westdeutschland ist; doch nein, sie ist „unter der Kontrolle der Alliierten“. Die Stadt besteht aus 12 Bezirken, insgesamt 20. West-Berlin misst 480 Quadratkilometer, die Gesamtfläche 883… Dies ist ein „Inneres Berlin“, umgeben von übermenschlichen Mauern. Widersprüche durchziehen sie wie die Städte klassischer Gesellschaften. Kaufhäuser, Verwaltungen, Unterkünfte und Freizeitangebote haben sich am Rand niedergelassen, während mehrere neue ‚Zentren‘ entstanden …“ (Berlin Üçlemesi, Aras Ören, Remzi Yayınevi) Mitte der siebziger Jahre... Eine junge türkische Theaterschauspielerin, Emine Sevgi Özdamar, kam aus Istanbul nach Berlin. Lebend bei zwei deutschen Schwestern in Wedding, begann sie, ihren ersten Roman auf Deutsch zu schreiben. Tagsüber überquerte sie mit Sondervisum die Grenze, besuchte Theaterproben in Ostberlin. Özdamar, die den Puls der Stadt hielt, prägte nachhaltig die deutsche Literatur. „Heute Morgen, am letzten Weihnachtstag, war nur ich im Zug. Der Zug verlangsamte und als er durch die verlassenen Ostberliner Bahnhöfe fuhr, drang die Dunkelheit ein. Ich staunte über die Lichter im Zug. Die Fensterläden in der Passage der Friedrichstraße blieben immer geschlossen. Im Westzug riß ich über die westdeutsche Zeitung das Pasolini-Foto ab, das ich nicht nach Ost-Berlin mitnehmen durfte.“ (Seltsame Sterne starren zur Erde, Emine Sevgi Özdamar, Kiwi Verlag) Unsere literarische Reise durch Berlin führt uns fort über die türkischen Arbeiter, die am Rande Westberlins ihren Platz fanden, mit den Worten von Kati Hirschel, der von Esmahan Aykol geschaffenen Heldin: „Das Haus meiner Mutter lag im türkischen Teil von Kreuzberg, den selbst Nicht-Türken ‚Klein-Istanbul‘ nannten. Für jemand, der die Postkarten von Istanbul sah, war es unmöglich, diese arme Umgebung mit Istanbul zu vergleichen“, aber das ist eine andere Geschichte. Das Viertel, durch die Berliner Mauer gesichert, wenig beliebt, mit niedrigen Mieten. Dort ließen sie die Türken nieder, die 1965 als „Gastarbeiter“ kamen. Zuerst die Arbeiter, dann die deutschen Linken der späteren Zeit... (Hotel Bosporus, Esmahan Aykol, Diogenes Verlag) Doch wie alles andere wird auch die Mauer der Schande eines Tages fallen. Während wir den Mauerfall und die Vereinigung der beiden Deutschlands erleben, begegnen wir einem anderen türkischen Schriftsteller, Yade Kara, dessen Thema Berlin ist. Hasan Kasans Familie zerbricht mit der Mauer. Der Held, Hasan, in Westberlin geboren, ein Enthusiast, der das Leben in vollen Zügen auskosten möchte. Seine Mutter ist die Hausfrau aus Istanbul, sein Vater leitet ein Reisebüro, und die sind zufrieden mit ihrem Leben, bis zu diesem Zeitpunkt. „Die Weihnachtsfeiern wurden mit Begeisterung gefeiert. Keine Weihnachtsfeier wurde nach dem Fall der Mauer so gefeiert. Ost-West-Besuche und so intensive familiäre Gefühle waren in Deutschland sehr selten. Am 22. Dezember 89 wurden die Brandenburger Tore geöffnet, die großen Führer aus dem Osten und Westen gingen zusammen durch die Ruinen der Mauer - und so ging Ingrids Cousin Erika in die Mitte unseres Lebens, und da war nichts mehr wie früher... " (Selam Berlin, Yade Kara, Diogenes Verlag) In ihren Werken werden die Autoren, die den Puls der Stadt und den Wandel, den sie in der Geschichte erlebt haben, und den Atem der Stadt erzählen, nicht nur die Stimme derer sein, die in den Grenzen der Gesellschaft reisen, sondern auch die Stimmen derer, die nicht nur das sichtbare und das in der Mitte sind. Berlin, das seit fast hundert Jahren die Kultwerke der türkischen Schriftsteller beherbergt, wird jeden, der in die Stadt seine Wege sich kreuzt und sich für Kunst interessiert, weiterhin inspirieren. Und hoffentlich wird es in allen Dingen, die über Berlin gemacht werden, türkische Spuren geben, weil die türkische Bevölkerung jetzt zu einem unverzichtbaren Teil dieser Stadt geworden ist.


Sind Sie in Berlin ein anderer Mensch, eine andere Autorin, ein anderer Autor als im Land Ihrer Herkunft? Inwiefern?

Das lässt sich nicht leicht beantworten, da ich nämlich erst hier in Berlin mit dem Schreiben angefangen habe. Aber natürlich sind die Themen, die mich hier als eine Autorin mit Migrationshintergrund beschäftigen, vermutlich andere, als sie es in der Türkei gewesen wären. Also die Integration aus meiner Sicht, die alltägliche Dinge, die ich als eine Frau oder ein Mensch in meiner Wahlheimat erlebe und durchkämpfe und meine Suche nach meinem Platz zwischen zwei Kulturen - damit würde ich mich ansosnten nicht beschäftigen. Oder vielleicht doch, wer weiss, denn schon als kleines Kind fühlte ich mich immer ein bisschen anders und wollte irgendwie weg gehen...


Ein literarisches Werk, das ich gern geschrieben hätten:

"Der Sommer, in dem Anna verschwunden war" von Barbara Frischmuth Vor Jahren, als ich mich auf das Schreiben meines Romans „Der Weg zu Dir“ vorbereitete, stieß ich auf dieses Buch. Tatsächlich sind auch die anderen Bücher des Autorin sehr interessant. Die Wurzeln einer meiner Figuren im Buch sollte alevitischer Herkunft sein und ich musste zunächst einmal einiges über das Alevitentum wissen, um ihre Geschichte richtig erzählen zu können. Denn konfessionelle Unterschiede waren in der Türkei schon immer ein großes Problem. Während ein Muslim möglicherweise darüber nachdenkt, einen Christen zu heiraten und sehr glücklich werden kann, könnte die Verbindung eines Sunniten und eines Aleviten zu großen Problemen in ihrem Eheleben führen. Jedenfalls hatte ich dieses Thema bereits in dem Buch auf meine Art erzählt. Zurück zum Buch: Während die Autorin über das Alevitentum promovierte, reiste sie in die Türkei und forschte. Das Wissen, das sie während dieser Studien erlangte, nutzte sie ausgiebig beim Schreiben ihrer Romane. Ich war sehr beeindruckt, dass ein Autor eine Kultur so genau kannte, die nicht aus seiner eigenen Kultur stammte und in der er nicht aufgewachsen war, und dass er sie mit so viel Respekt und gleichzeitig mit einer großartigen Erzählung beschreiben konnte, und dass er könnte mir etwas über meine Kultur erzählen. Es ist eines der Bücher, die ich nie vergessen werde.

Werk

Veröffentlichungen in deutscher Sprache

Originalwerke

Ask Yolunda

Herdem Kitap / Ankara, 2022 Roman

Yasemin Sokağı

Herdem Kitap, Ankara, Türkei, 2020 Roman

Meçhule Giden Yolcu

Herdem Kitap, Ankara, Türkei, 2021 Biographie

Berlin'de Sonbahar

Herdem Kitap, Ankara, Türkei, 2019 Roman

Übersetzte Werke

Ali ve Nino

Mirhan Kitap, Ankara, Türkei, 2021 Roman

Ateş Çağı / Geçmişten Gelen Mesaj

Kumran Yayınları, Kayseri, Türkei, 2021 Fantasy