Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Henning Bochert
Autor von Theatertexten, Prosa, Gedichten, staatlich geprüfter Übersetzer, Mitglied von Drama Panorama: Forum für Übersetzung und Theater e. V., des deutschsprachigen Eurodram-Komitees sowie von raum4-netzwerk für künstlerische alltagsbewältigung e.V.

Joseph Brodsky
Erinnerungen an Petersburg
Aus dem Englischen von Sylvia List und Marianne Frisch, Carl Hanser Verlag, München 2003

In zwei Texten ("WENIGER ALS MAN/LESS THAN ONE" und "IN EINEINHALB ZIMMERN/IN ONE-AND-A-HALF ROOMS") beschreibt Joseph Brodsky (Literaturnobelpreis 1987) 1986 seine Kindheit, das russische kollektive Unbewusste, den Antisemitismus, die Eigenheiten der totalitär regierten Gesellschaft, in der jeder Henker und Opfer sein kann. Die beiden sehr dichten Texte sind so schön wie schmerzhaft. Die Übersetzerinnen haben, soweit ich das beurteilen kann, die lakonische Poesie des Textes hervorragend getroffen. „Schlampiger Schlamper“, darauf muss man kommen. „Soll Englisch meine Toten behausen“ - Die Überlegungen Brodskys, dass seine Entscheidung, über seine Eltern auf Englisch zu schreiben, für sie eine posthume Befreiung aus dem unterdrückerischen und seelenzerstörenden russischen Kontext darstellt, ist so schön wie kaputt. Sicher steckt darin seine Größe, aus seinem Schmerz, den ihm seine Heimat angetan, aus diesem total zertretenen und geschundenen und missbrauchten Land und seiner Bevölkerung – wie ein Alchimist aus Dreck Gold - solche wunderbare Gedanken zu ernten. Ich bin versucht, zum Beweis das gesamte Bändchen anzuführen: die Beschreibung der elterlichen Kommunalka, die Art und Weise, wie der Autor die Tragödie der Trennung von seinen Eltern bis zu deren Tod beschreibt, vor dem er sie nicht noch einmal sehen konnte. „Nur dass ich ihnen in ihrem Alter nicht helfen konnte; nur dass ich nicht dabei war, als sie im Sterben lagen. Ich sage das, nicht so sehr aus einem Schuldgefühl heraus, sondern aus dem egoistischen Wunsch eines Kindes, seine Eltern alle Phasen ihres Lebens hindurch zu begleiten (...).“ So gelingt es ihm, kraft seiner Gedanken die Tragödie zu überschreiten und als Genre zu überwinden und noch Gewinn daraus zu schlagen („Die armen Leute wollen immer, dass alles zu etwas gut ist.“).
Dazu kommen in dieser Ausgabe die Fotos von Barbara Klemm, in diesem Fall einmal wirklich erhellend und illustrierend und den vielen Reflexionen gerade in WENIGER ALS MAN auch notwendige Ergänzung, Angler vor Ermitage, drei junge Frauen in Ostmode auf Bank in zerschundenem Stadteck, das vielleicht mal Park war, in allem ein würdiges Leben fordernd.
Wer immer mir dieses Büchlein geschenkt hat, hat mir auch diesen großartigen Autor geschenkt, den ich zuvor nicht kannte. Herzlichen Dank!

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