Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriften-Umschau

Jana Hensel
Copyright: Dominik Butzmann

Jana Hensel

1976 geboren, aufgewachsen in Leipzig, Studium der Germanistik und Romanistik. 2002 erschien Zonenkinder, das über ein Jahr auf der "Spiegel"-Bestsellerliste stand. Danach als freie Journalistin unter anderem für DIE ZEIT und ZEITmagazin tätig. 2010 gewann sie den Theodor-Wolff-Preis in der Kategorie Essay. 2017 erschien der Roman Keinland, 2018 gemeinsam mit Wolfgang Engler Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein und 2020 gemeinsam mit Naika Foroutan Die Gesellschaft der Anderen. Seit 2018 Autorin von ZEIT ONLINE und DIE ZEIT. 2019 wurde sie in der Kategorie Kultur zur "Journalistin des Jahres" gewählt.

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Jana Hensel

Mittendrin in der Zeitenwende


Von Literaturzeitschriften geht zweifellos ein großer Zauber aus, der wahrscheinlich denen von Gedichtbänden am ehesten ähnelt. Literaturzeitschriften sind anders als alle anderen Zeitschriften. Gedichtbände wiederum sind alles andere als normale Bücher. Sie fallen derart aus der Zeit, dass sie gleichsam der Zeit wie enthoben wirken und gerade dadurch gleichzeitig zu Objekten werden. Man fasst sie anders an, man blättert anders durch sie hindurch, (es beginnt ja quasi auf jeder Seite neu) und man bewahrt sie auch anders auf. Literaturzeitschriften jedenfalls habe ich immer an einen besonderen Ort in meinem Bücherregal gelegt und bei Lyrikbänden habe ich stets gezögert, sie einfach in eine Reihe neben alle anderen Bücher zu stellen.

Ich selbst habe einmal eine Literaturzeitschrift herausgegeben. Das war in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in Leipzig. Ich war noch Germanistikstudentin, die Zeitschrift hieß EDIT und sie hat bis heute zum Glück alle Zeiten überstanden. Meine Tätigkeit bei EDIT stand also ganz am Anfang dessen, was man landläufig als berufliche Karriere bezeichnet. Und ich erzähle das hier nicht, um irgendwie damit zu prahlen. Nein, ich bleibe weiterhin bei der Frage des besonderen Zaubers von Literaturzeitschriften und ihrer Zeitlichkeit. Denn anders als ich damals vorhatte, arbeite ich heute nicht in einem Literaturverlag, sondern in einer Zeitungsredaktion. Dort produziert man keine Texte für die Ewigkeit, sondern entweder im Wochenrhythmus der Zeitung oder noch schneller: für den stundenaktuellen Takt von Online.

Ich mag die hohe Geschwindigkeit der Online-Berichterstattung ebenso wie die Langsamkeit der Literatur. Auch wenn man nun einwenden möchte, dass das eine mit dem anderen nicht viel zu tun hat, dann stimmt das sicherlich in den meisten Fällen. Im Blick auf das vergangene Jahr und auf die Literaturzeitschriften des vergangenen Jahres allerdings muss man zu einem anderen Schluss kommen: die sogenannte Zeitenwende, die der Bundeskanzler Olaf Scholz nur drei Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar 2024 im Bundestag ausgerufen hat und über die wir in den Zeitungen seither beinahe täglich berichtet haben, sie hat auch die Themen und Texte der Literaturzeitschriften maßgeblich bestimmt. Die Zeitenwende also scheint ihrem Namen alle Ehre gemacht zu haben und die Zeitlichkeit wenn schon nicht aufgehoben, so doch ihren ruhigen Fluss unterbrochen. Ohne Frage wird so ein Vorgang früher oder später zu Literatur.

Denn es gilt im Falle der Ukraine ja vor allem für die Deutschen eine Leerstelle zu füllen. Nicht nur, dass die Politikerinnen und Politiker dieses Landes bis zu dem für viele unerwarteten Beginn des Krieges allzu oft und allzu gern nur nach Russland geschaut haben, so dürfte auch die ukrainische Literatur für viele bisher eine unbekannte gewesen sein.

Und so beginnt die in München herausgegebene Krachkultur ihr Themenheft 23 über die „Liebe“ sicherlich nicht zufällig mit der Erzählung Drei Kuckucke und eine Verbeugung des Schriftstellers Hryhir Tjutjunnyk, die, wie es im Vorwort heißt, eine der berühmtesten Liebesgeschichten des ukrainischen Volkes ist und dort in keinem Schulbuch fehlt. Wer kennt den Mann hier schon? Tjutjunnyk aber war einer der berühmtesten Dichter des Landes, der 1980 freiwillig sein Leben beendete und erst 1989 die wichtigste staatliche Auszeichnung für herausragende Werke der ukrainischen Kunst und Kultur erhielt. Erzählt wird darin, natürlich, eine unglückliche, oder sagen wir besser, nicht gelebte Liebe – aus der Perspektive der alles beobachtenden Ehefrau.

Auch das Ostragehege Nr. 107 aus Dresden hat sich Lyrik aus der Ukraine zuschicken lassen. Eindrücklich heißt es in dem Gedicht von Iryna Vikyrchak leih mir was: „leih mir wenigstens ganz kurz/ was von damals ins Jetzt hinüber,/ ich benutze es eine Weile und gebe es zurück“. Eindrücklich auch, dass Anna Gruver die Verse aus Ich will keinen Moment teilen nur durchgestrichen veröffentlicht: „der Bus fährt/ über seine Erde/ sicher beharrlich zweistöckig/ niemand bleibt stehen“. Nur der letzte Satz ist nicht durchgestrichen: „(diesen Text sollte es nicht geben)“, steht da.

Besonders zu empfehlen ist hier Charlotte Gneuß‘ Kurzprosatext Wetter zum Kitesurfen, in dem sie ihre Stimme einem jungen Mann aus Odessa leiht, der sich wohl aus dem sicheren Exil an seine Eltern erinnert. Ein Telefonat mit der Mutter wird wie folgt wieder gegeben: „und sie selbst bleibt in Slowiansk und Slowiansk liegt bei Donezk./ Denn hier ist mein Leben, sagt sie, und wo mein Leben ist, dort ist mein Tod.“ Gneuß hat darin ein Interview mit einem Ukrainer literarisiert.

Das Wespennest hingegen sieht sich, weil es sich in seiner Ausgabe vom November 2023 dem Thema Über Tiere widmet, zu einer gewissen Rechtfertigung gezwungen. Im Editorial schreibt man deshalb: „Angesichts der medialen Omnipräsenz von Tierbildern ist ein Schwerpunkt über Tiere kein risikoloses Unterfangen.“ Und fast pflichtschuldig wird anschließend die Lektüre von Marcel Beyers bei Wallstein erschienen Band Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha empfohlen. Auf den ersten 14 Seiten folgen dann Gedichte von vier Lyrikerinnen aus Russland und auch Belarus. In einem Dreizeiler von Maria Badzei heißt es: „Das Paradies ist leer/ alle Seraphim sind hier/ überfordert“.

Dass die horen aus Göttingen in Nummer 287 unter dem Titel Morgen ist ein anderer Tag neue Literatur aus Schweden veröffentlichen und Lichtungen aus Graz in Nummer 175 sich der Literatur aus Slowenien, dem Gastland auf der letztjährigen Frankfurter Buchmesse, widmet, wirkt dagegen einerseits ein wenig eskapistisch, andererseits jedoch auch irgendwie beruhigend. Darf man sagen, dass im Angesicht eines Krieges auch für Literaturzeitschriften das normale Leben weitergeht? Nein, wahrscheinlich nicht. Obwohl es natürlich so ist.