Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriften-Umschau

Björn Hayer
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Björn Hayer

Björn Hayer arbeitet als Literatur- und Theaterkritiker sowie Essayist für Print- und Rundfunkmedien (u.a. FR, Der Freitag, DLD Kultur und NZZ a.S.). Überdies ist er Autor verschiedener Bücher, darunter des Romans Elegie für dich, des Lyrikbandes Verschwörung einer Landschaft oder seiner Essaysammlung Die neuen Schöpfer. Texte zur zeitgenössischen Lyrik. Darüber hinaus lehrt er als Privatdozent für Literatur- und Kulturwissenschaft an der RPTU Kaiserslautern-Landau.

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Björn Hayer

Wer schreibt, ist immer in fernen Ländern unterwegs. Man macht sich imaginär auf ins Ungewisse und, wenn man es mit Ernst Bloch ins Utopische wenden mag, sogar ins Noch-Nicht-Gewordene. Nur was passiert im Falle einer tatsächlichen und dann anfangs auch ungewollten Reise? Wie das Exil Autor:innen prägt, davon gibt die aktuelle und formidable kuratierte Ausgabe der Allmende (1/2023) Kunde – und steigt direkt mit dem wohl bekanntesten unter ihnen in Deutschland ein: Rafik Schami. In seinem Essay beschreibt der aus Damaskus stammende Bestseller-Autor seine ersten Zurückweisungen durch hiesige Verlage bis hin zu den ganz konkreten sprachlichen Hürden im eigenen Schreiben, die übrigens auch im Deutschen sozialisierten Leser:innen neue Einsichten vermitteln. Wer weiß beispielsweise schon, dass unsere Liebe zu Adjektiven nicht einmal halb so ausgeprägt sein soll wie jene in arabischstämmigen Ländern? Das Eigene, so die Botschaft dieses eindringlichen Textes, wird einem eben erst im Fremden vertraut.

Ähnliches vernimmt man in dem ebenso abgedruckten Gedicht des 1996 in Syrien geborenen und vor einigen Jahren in die Bundesrepublik geflohenen Lyrikers Sam Zamrik. Mit Anleihen an das bekannte Liebespoem Ich kann dir die Welt nicht zu Füssen legen… von Heiner Müller, beginnt seine Miniatur so: „Ich kann / Dir, liebste, / die Ewigkeit // nicht / versprechen, / obwohl ich / hier bin“, zwar nur in der Gegenwart, weil das Textsubjekt über keine feste Identität in der Zeit verfügt. Woher es kommt und wohin es geht? Wem ist das schon klar? Passend zu dieser Unbestimmtheit endet das Versarrangement auch mit einem Eingeständnis, das voll und ganz die Zerrissenheit durch Migration zum Ausdruck bringt. „Ich“, so heißt es dort, „bin, obwohl / ich mich / selbst nicht / kennen kann“. Alles bleibt somit im Fluss, der jedoch immer auch zwei Ufer schafft. Von dieser Ambivalenz zeugt ebenfalls ein aufschlussreiches Interview mit dem Schriftsteller: Während er in künstlerischen Kreisen geschätzt und geachtet werde, träfe er im Alltag immer wieder auf dieselben Vorurteile. „Es ist für geflüchtete Menschen, egal wie lange wir in Deutschland gelebt haben, nur Dankbarkeit erlaubt.“ Für Kritik oder Individualität gäbe es für Mitglieder jener Gruppe keinen Raum. Mit diesen und weiteren Stimmen, darunter von Najem Wali und Volha Hapeyeva, gibt die Allmende einer neuen Epoche von Flucht und Vertreibung ein beindruckendes Gesicht und stellt damit ihren Platz im Olymp der deutschsprachigen Zeitschriftlandschaft unter Beweis.

Buchstäblich an die geografischen Ränder (und noch weit darüber hinaus) geht zudem die aktuelle Ausgabe der Reportagen (2/2024). Entwurzelungserfahrungen werden darin noch eindeutiger theoretisch verortet, nämlich im Kolonialismus. Welche Folgen er zeitigt, kann man beispielsweise in Jonas Lüths Recherche Jaguarkopf auf Reisen studieren. Als Erbe zugefallen, fragt sich der Autor rasch, was er mit dem titelgebenden Haupt anfangen soll, mithin woher es überhaupt kommt. Und handelt es sich bei diesem nicht – äquivalent zu Kunstwerken wie die Benin-Bronzen – um ein zu restituierendes Raubobjekt? Es hilft nichts, der Journalist muss auf Spurensuche. Sie führt ihn von einem Präparator über ehemalige Bekannte seines Urgroßonkels und Trophäenjägers bis hin zu einem indigenen Stamm, der ihm allerdings von ganz anderen Problemen erzählt – etwa wie die stete Regenwaldabholzung den Ureinwohnern den Lebensraum nimmt und wie ihre Interessen heute von Industrie und Regierungen brutal missachtet werden. Die Dokumentation des Textes begann mit einer sehr persönlichen Rückschau auf die eigene familiäre Herkunft und endet schließlich auf makrogesellschaftlicher Ebene, wo der Kolonialismus mit lediglich neuem Anstrich und veränderten Mechanismen schonungslos fortlebt.

So ernüchternd wie abenteuerlich diese Geschichte anmutet, so drastisch fällt der Bericht in der Rubrik Historische Reportage aus. Er reicht zurück in das Jahr 1959, als die Tibeter gegen die chinesische Besatzung aufbegehrten. Zu ihnen gehörte mithin die buddhistische Nonne Ani Pachen. Ungewiss, ob sie die kommenden Nächte überleben würde, beschreibt sie ihre Flucht zwischen Hungernden und Rebellen vor den Unterdrückern, mit einer kaum zu ertragenden Schonungslosigkeit. Aufgedunsene und von Geiern zerfetzte Leichen säumen den Weg, ein angeschossenes Pferd verliert im Gebüsch seine Eingeweiden. Als wären diese sie in den Träumen quälenden Traumata nicht schon genug, steht ihr die längste Folter noch bevor. 21 Jahre sollte sie nach ihrer Ergreifung durch die Chinesen in Gefängnissen verbringen. Für viele von uns mögen sich die gegenwärtigen Kriege noch hauptsächlich auf den Fernsehbildschirmen abspielen. Was derart gewaltsame Konflikte hingegen wirklich bedeuten, wie sie Körper und Geist innerlich auffressen, offenbart dieses autobiografische und zutiefst berührende Zeugnis.

Zieht man zu dieser Ausgabe ein Fazit, so genügt eigentlich ein Wort: stark, mit Ausrufezeichen. Literarische Stilistik und journalistische Genauigkeit finden darin zusammen und belegen, warum es gerade in diesen von Bildern dominierten Zeiten, die ja aufgrund ihres Abstumpfungseffekts Distanzbewegungen eher begünstigen, so wichtig ist zu lesen. Es befördert eine Innenschau dessen, was wir – menschlich nachvollziehbar – gern von uns wegschieben. Somit bieten diese Reportagen eine wichtige und in jederlei Hinsicht sensibilisierende Lektüre

Alles nur grau in grau?, dürften nun manche fragen. Keineswegs, werfen wir nach dem nötigen politischen Teil der Zeitschriftenschau nun einen Blick auf eine Zone, wo es einfach nur menschelt. Unter dem Stichwort „Paarungen / Mixturen“ beleuchtet die 86. Ausgabe von Am Erker (1/2024) sämtliche Facetten unseres Zusammenlebens. Sei es der schlechte One-Night-Stand, aus dem in Sebastian Galygas Kurzgeschichte wider Erwarten eine fünfjährige Partnerschaft hervorgeht oder sei es das von Florian Neuner entworfene und durchaus vergnügliche Soziogramm eines Wartezimmers in einer Arztpraxis – wo immer Begegnungen stattfinden, wird man Widerstände gewahr, an denen man wachsen kann. Zumindest im besten Fall. In Gisela Trahms rasanter Erzählung Dunkelheit schlägt sich das jahrelange Familienleben in einer zweischneidigen Akzeptanz des Status nieder. Wenn sich ihre Mutterfiguren, erinnernd an Marlen Haushofers bisweilen still (ver-)zweifelnden Hausfrauen, nicht ins Kino flüchtet, dann „lebt [sie] ein Leben, das geschmeidige Nerven erfordert (drei Kinder, knappes Geld, empfindlicher Mann). Frühes Aufstehen morgens, Hoffen auf rasches Gelingen abends unter der Dusche, zweites Zackduschen hinterher und dann ein Seufzer und tiefer, tiefer Schlaf. Viele Menschen leben so, einerseits geschützt, andererseits eingeschnürt“. Worum geht in dieser Konstellation, aus der die Protagonistin keinen Ausweg wählt? Um Gewöhnung oder gar doch um Liebe?

In Michael Spyras kompromisslosem Gedicht wird der Zweck der angestrebten Zusammenkunft dagegen unmissverständlich benannt. Es geht um Sex und wirklich nur darum. „Er klickt sie an, sie klickt zurück, sie klicken / sich gegenseitig an und dann nochmal, / bevor sie sich die ersten Zeilen schicken“, so beginnt dieses mit ironischem Witz zu lesende Poem über einen durchsexualisierten Cyberspace, der Menschenkörper wie Waren im Konsumtempel feilbietet. Was folgt, sind Austausche verschiedener Art. Erst Videos, dann die Adresse. „Und als sie dann zusammenstecken, will er, / dass sie ihn anschaut und gleich noch einmal. / Sie fickt ihn mit den Blicken. Er wird stiller. / Tabus sind Fingern, Fingern und anal“. Na dann.

Weite Strecken dieser Zeitschrift rezipiert man mit purem Amüsement. An kritischen Untertönen mangelt es trotzdem nicht. Im Gegensatz zu den Reportagen und der Allmende, die drastische, gesellschaftliche und kulturelle Missstände aufgreifen, flankiert Am Erker eher die feinen Dissonanzen. Es sind die Unstimmigkeiten zwischen Menschen, die sich manchmal erst im Laufe der Jahre herauskristallisieren und ganz eigene Herausforderungen für ein gedeihendes Miteinander mit sich bringen. Und zu fragen wäre dazu: Liegt nicht gerade in dieser Beobachtung ein Schlüssel für das Große und Ganze, das momentan heftigsten Fliehkräften ausgesetzt ist? Man sollte es annehmen. Diese Zeitschrift rückt uns jedenfalls ganz nah an unsere Nächsten heran, mit Umsicht und Empathie, mit vielfältigen Tonlagen und nicht zuletzt einer wohltuenden Gelassenheit!