Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriften-Umschau

Meike Feßmann
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Meike Feßmann

Meike Feßmann, geboren 1961 in München, lebt als Kritikerin und Essayistin in Berlin. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaften in München und Berlin und promovierte 1991 über das Spiel mit der Autorschaft bei Else Lasker-Schüler. Sie arbeitet u.a. für die Süddeutsche Zeitung, den Tagesspiegel, den Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur. Sie war Jurorin des Deutschen Buchpreises, des Preises der Leipziger Buchmesse und gehörte von 2009 bis 2017 der Jury des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs an. 2016 erschien „Else Lasker-Schüler. Leben in Bildern“ im Deutschen Kunstverlag. Sie wurde mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet.

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Meike Feßmann

Ein Denkmal hat die Zeitschrift Metamorphosen im Inneren ihres letzten Heftes errichtet, ein „kleines Denkmal“ für einen Roman, von dem sie überzeugt ist, dass er „die Zeit überdauern“ wird. Und das in einem Abschiedsheft, das ganz dem „Jetzt“, der „Gegenwart“ gewidmet ist. Auf Nostalgie wollte man ebenso verzichten wie auf die Imagination des Zukünftigen. Manchen Beiträgen merkt man an, dass sich ohne Perspektive nicht gut schreiben lässt. Sie sind ein wenig einfallslos. Oder sie verschreiben sich mit sanfter Gleichgültigkeit der „Nemesis“, wie Marius Goldhorn in seinem Gedicht: „Wir leben in einer ganz neuen Ordnung. / Es ist die Ordnung eines Endes. / Des Ausgleichs und der Balance. / Wir sterben aus. Alles ist möglich.“ Und da ist das Herzstück, ein Gespräch mit Juan S. Guse über seinen Roman Miami Punk, dem die Redaktion der Metamorphosen langes Überdauern verspricht, pünktlich zu ihrem eigenen Ende nach mehr als dreißig Jahren. Über die dystopischen Aspekte seines Romans wurde der Autor schon oft befragt. Weit besser gefällt ihm die Beobachtung seines Gesprächspartners Lukas Valtin, der Roman sei voller „utopischer Oasen“. Der 1989 geborene Schriftsteller und Soziologe legt Wert auf die Unterscheidung zwischen Zweck und Funktion einer Utopie. „Wenn der Zweck einer Utopie die angedachte Veränderung der Wirklichkeit ist, die vielleicht so nie erreicht wird, ist die Funktion Vergemeinschaftung, Gruppenbildung, Kohäsion. Der unintendierte Effekt von Utopien ist immer das Kollektiv, das sich um die Idee herum bildet.“

Der Atlantik vor Miami hat sich in der Romanfiktion um rund 500 km zurückgezogen, die Klimakatastrophe oder was auch immer dafür verantwortlich sein mag, ist in vollem Gang. Die einen spielen weiter Counterstrike, die anderen mussten ihre Fitness- und Strandrituale aufgeben, einschließlich der Werbeschleifen, mit denen sie sich finanzierten, die titelgebende Gruppe greift zur Gewalt, um ihre Zukunftsvisionen durchzusetzen. Ansonsten hat sich gar nicht so viel verändert. Allerdings erzählt Juan S. Guse mit einer Beweglichkeit, in der die Perspektiven und Personen diffundieren. Die interessanteste Figur ist Robin, eine schwarze, homosexuelle Programmiererin. Inspiriert vom Verlauf angeregter Diskussionen, bei denen das Thema unterwegs schon mal verloren geht, entwickelt sie komplexe Spiele. Wir können uns niemals ganz sicher sein, in welcher Welt wir uns gerade bewegen.
Der Roman erschien 2019, wurde also noch vor der Kaskade der Polykrisen geschrieben, die unser gegenwärtiges Lebensgefühl bestimmen. Doch die Diagnose sitzt. Und sie wird vermutlich auch in ein paar Jahren noch sitzen, also innerhalb der Zeitspanne, in der man momentan Ewigkeitsversprechen abgeben kann.

Verwildern wie ein Tier, worauf Marius Goldhorns Gedicht hinausläuft, oder die Klimakatastrophe mit Technologien einhegen, zwischen diesen beiden Polen bewegen sich die Phantasien der Gegenwart. Und es ist erkennbar, dass viele Modelle einfach nicht mehr funktionieren, vor allem dann nicht, wenn man zwischen Mikro- und Makroebenen hin und her wechselt. Die Durchdringung der Lebenswelt mit digitalen Techniken, die Gleichzeitigkeit von allem und jedem in Verbindung mit frenetischen Handlungsappellen – und seien sie nur verbaler Natur – lässt für jede Art von Literatur einen Kontext entstehen, der sie immer schon überholt erscheinen lässt. Die Neigung zum Eskapismus mag durchaus wachsen, aber die Fluchtorte werden in Echtzeit perforiert, sobald eine Verbindung zu elektronischen Medien besteht, und sei sie nur fakultativ. Quer durch die Zeitschriften, quer durch die Textsorten werden immer wieder Borges verschachtelte Wirklichkeitsfiktionen herbeizitiert, Baudrillards Simulationstheorie und Roland Barthes taktil-pathetische Beschwörungen des Imaginären, ohne das die Seelenarbeit, die lesen und schreiben bedeuten, die ganze Anstrengung nicht lohnt.

Die Möglichkeiten und Gefahren von KI, Chatbots und anderen Simulationstechnologien von Intelligenz, Kreativität und Empathie stellen literarische Praktiken nicht nur in Hinsicht auf das Urheberrecht in Frage. Es ist ein kluger Einfall, dass der Ullstein Verlag seine neu gegründete, zwei Mal jährlich erscheinende Zeitschrift Delfi nennt, also mit einer sakralen und mythologischen Aura umgibt. Auch wenn die Herausgeber·innen den Anspruch eher wieder nivellieren, sendet der Titel eine klare Botschaft: Kommt herein in unseren Tempel und lasst Eure Werke aufwerten! Dass es dabei nicht wirklich ums Sakrale geht, fällt insbesondere dann auf, wenn einer damit Ernst macht. So wie Senthuran Varatharajah mit seinem psalmodierenden Sprechgesang „Und der Stein weinte und weinte“. Heiliggesprochen werden im Themenheft „Tempel“ ansonsten vor allem die Literatur und der Körper – und auf eine durchaus wohltuende Weise die Sorgfalt einer breit gefächerten Übersicht. Quer durch die Gattungen und Formen findet man wohlgeordnet Prosa, Lyrik, Comic und Interview. Es geht um Sex ohne Einwilligung, der sich erst im Lauf der Zeit eindeutig nach Missbrauch anfühlt (Das kleine Schwarze, das große Weiße, die Nacht dazwischen von Olivia Wenzel), um eine „lesbische Wallfahrt“ (Evan Tepest), um einen „Rave“, der ohne Liturgie auskommt und irgendwie protestantische Gefühle des Durchhaltens auslöst (McKenzie Wark), um Essen, Begehren, Covid-Isolation und Behausungen, die in den Vier Gedichten von Eileen Myles eine statuarische Lebendigkeit entwickeln, als hätte man Giacometti-Figuren in Bewegung versetzt. Es macht Freude, dieses bestens ausgestattete Heft zu lesen, dessen Gestaltung Anleihen bei der intellektuellen Aura der edition suhrkamp macht, wenn Titel und Namen auf farbige Seiten mit locker gesetzten Linien gedruckt werden. Das Aufeinandertreffen der beiden unterschiedlich sozialisierten Literatur-Diven Nadeshda Mandelstam und Martha Gellhorn Anfang der 1970er Jahre in Moskau schildert Maria Stepanova mit elegischer Süffisanz. Herausragend ist Mohamed Mbougar Sarrs Geschichte Der Laderaum. Mit einer nächtlichen Rahmenhandlung vergegenwärtigt der 1990 in Dakar geborene und in Paris lebende Schriftsteller, der 2021 den Prix Goncourt erhielt, die unmenschliche Brutalität auf einem Handelsschiff mit versklavten Menschen – und setzt den magischen Zauber des Gesangs als Widerstandskraft dagegen.

Metamorphosen geht, Delfi kommt, Edit bleibt. Und Edit aus Leipzig ist dreißig geworden, wie die Redaktion zurecht stolz verkündet. Das Jubiläumsheft Nr. 89/90 strahlt intellektuelle Verspieltheit aus, ohne in irgendeiner Weise beliebig zu wirken. Es ist ein Freudenfest von Farben, Formen und Gedanken. Und es leuchtet ein, dass Edit in Zukunft eines der drei pro Jahr erscheinenden Hefte dem Essay widmen wird. Der diesjährige Träger des Edit Essaypreises, Pascal Tarris, brilliert mit The Age of Awkwardness. Er schlägt eine Art Freundschaftsbund mit Maschinen vor, zumindest eine Form des Zusammenkommens, da eine „chirurgische Trennung“ von Mensch und Maschine „längst unmöglich“ sei. „Es bedeutet, Algorithmen zu demokratisieren. Es bedeutet die Knoten des Gitternetzes zu lösen und seine Fäden neu zu verflechten. Es bedeutet, mit künstlichen Intelligenzen zu spielen. Sie zu trainieren, um besser zu halluzinieren.“ Ob diese Form der Halluzination allerdings die „Krise des Imaginären“ kompensieren kann, die Pascal Tarris mit der französischen Philosophin Alice Carabédian zurecht beklagt, bleibt fraglich. Auch die anderen Essays der Shortlist, noch vor der Preisentscheidung gedruckt, können sich sehen lassen. Insbesondere Lara Rüters Ai touch myself besticht durch eine ebenso luftige wie präzise und ungemein taktile Beschreibungskunst, in der Sprünge niemals aufgesetzt wirken. Ihr Stil hat etwas zärtlich Fragendes, sie forscht den eigenen Interessen nach und kommt dabei doch dem Gegenstand nahe, dem ihre Aufmerksamkeit gilt: „Affen“ in einem Primatenforschungsinstitut.

Wenn Lorena Simmel, in einer anderen Essay-Runde, nämlich zum letztjährigen Förderprogramm „Spaltmaße“ der Jürgen-Ponto-Stiftung, über „solidarisches Erzählen“ nachdenkt, schließt sie an Überlegungen der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Torkarczuk an. Die lockere Art, in der die Jubiläums-Edit verschiedene Lebenswelten zur Sprache kommen lässt, hat ihren Stützpunkt in weiblichen Erfahrungen. Ein Augenöffner ist der von Charlotte Krafft mit Verve übersetzte Essay der amerikanischen Science-Fiction-Autorin und Literaturwissenschaftlerin Joanna Russ (1937-2011). „Was kann eine Heldin (tun)? Oder: Wieso Frauen nicht schreiben können“ legt dar, warum es für weibliche Heldinnen keine Plots gibt, die es an Einfachheit und Klarheit mit den frei verfügbaren Versatzstücken männlichen Schreibens aufnehmen können. Dass Hemingway sich auf seinen Stil konzentrieren konnte, habe auch damit zu tun. Wenn Frauen den für sie vorgesehenen Plot der Liebesgeschichte oder des Wahnsinns verlassen wollen, bieten sich neben Science-Fiction-Mustern auch die Lyrik an. Ihr Ordnungsmuster sei die „Organisation separater Elemente“, statt Chronologie und Kausalität komme die Assoziation zum Einsatz. In diesem Sinne klassifiziert Joanna Russ etwa Virginia Woolf als „lyrische Romanautorin“. Sie verwendete eine Struktur, die „im Grunde genommen gar nicht narrativ ist“. Eine Schriftstellerin wie die 1990 in Hannover geborene Lara Rüter, die als Lyrikerin und Essayistin ein unendlich feines Instrumentarium zur Beobachtung unserer absonderlichen Wirklichkeit entwickelt hat, ist eine der großen Hoffnungen der Gegenwartsliteratur. In dieser Hinsicht gibt es keinen Grund zur Apokalyptik.