Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Moritz Baßler
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Moritz Baßler

Moritz Baßler ist Literaturwissenschaftler und -kritiker. Er ist seit 2005 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Münster und derzeit Mitglied in der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse.

Zeitschriftenumschau

Moritz Baßler

Weil ich zur Vorbereitung schon ein paar Zeitschriftenumschauen gelesen habe, finde ich an vermuteter Stelle, nämlich am Anfang der neuen Lichtungen aus Graz, die „Poesie an unvermuteten Stellen“, das Ende (so lautet jedenfalls die Überschrift) der an dieser Stelle schon vielgelobten Serie von Clemens J. Setz – und sie ist wirklich so großartig, wie alle sagen. Diesmal geht es um die Frage, ob man gegen den Willen eines Autors Werke, die dieser vernichtet hat, bewahren soll – z.B. das bewusst gelöschte Twitter-Gesamtwerk von @Computerfan2001. Setz gibt Kostproben und konfrontiert sie mit spärlich überlieferten Resten eines Œuvres aus dem frühen 19. Jahrhundert: „like the red outline of beginning Adam“ lautet der einzig bekannte Vers aus einem Drama Thomas Lovell Beddoes. Und ja, man mag sich das integrale Werk zurückwünschen; aber geht nicht gerade von solchen Bruchstücken, Ruinen, ein Reiz aus, den dieses womöglich gar nicht besaß?

Biografische Anekdoten, mitunter am Rand der Mystifikation, dazu grundsätzliche Reflexionen, die Setz anstellt, auch zur eigenen Lektüre – und dazwischen bricht dann, oft nur in wenigen Versen oder Sätzen und doch mit Macht, die Originaldichtung herein. Das erinnert mich daran, wie ich als Schüler zum ersten Mal germanistische Forschungsliteratur las, von William H. Rey etwa, und wie mich das damals packte. (Ja, Sekundärliteratur, man höre und staune!) Und in Beiträgen wie dem von Setz oder auch Frank Witzels großem Essay Von aufgegebenen Autoren im Schreibheft wird die Literaturzeitschrift ja noch einmal in höherem Maße, in besonderer Dichte zu dem, was Zeitschriften (nach Stefan Scherer) ohnehin immer sind: kleine Archive. Für die 100. Ausgabe der „Zeitschrift für Literatur“ stellt Witzel eine bunte Reihe von hundert „vergessenen, verkannten, verschollenen“ Kolleginnen und Kollegen des 20. Jahrhunderts zusammen, teils ehemalige Weggefährten, teils Fundstücke aus der Grabbelkiste, aber immer mit persönlichen Leseerfahrungen des Kurators verbunden. Auch hier gibt es zahlreiche Kostproben unterschiedlichster Art: Lyrik, Aphorismen und manchmal durchaus generöse Auszüge aus Prosatexten, etwa drei engbedruckte Seiten aus Todd Lee Grahams Not to Remember Kerouac (1989), wo ja allein schon der Titel zum Niederknien ist. Man verliert sich gern in dem 125 Seiten langen Essay, der ausgeht von Witzels Versuch, das eigene Schreiben einmal vom erinnernden Immer-schon-Wissen darüber zu befreien, was Literatur eigentlich ist. Witzel folgt dabei dem von Michael Braun zitierten Peter-Waterhouse-Motto des Heftes, demzufolge das Ziel einer guten Übersetzung sei, „das Deutsche wieder unbekannter zu machen.“ Es zeigt sich, dass die verschollene, also nicht-erfolgreiche Literatur ihm in dieser Unternehmung weiter hilft als die in letztlich doch vermuteter Weise radikale Dichtung etwa des Nouveau Roman. Und so ergibt sich am Ende – auch für Setz, by the way – die schöne Pointe, dass das Wieder-etwas-bekannter-Machen Vergessener oder Verschollener zugleich dem Unbekannter-Machen unserer literarischen Norm dient.

In die gleiche Kerbe schlägt ein zweiter Block im Schreibheft, der dem idiosynkratischen Werk und literarischen „Gegenkosmos“ von Marianne Fritz (1948-2007) gewidmet ist. Hier erweist nun umgekehrt eine illustre Riege aktuellster Autorinnen von Hannes Bajohr über Mara Genschel bis hin zu Monika Rinck und Uljana Wolf der „Wiener Klausnerin“ ihre Referenz – erneut ein kleines Archiv, das beim Stöbern die anregendsten Serendipitätseffekte freisetzt.

So kann ich am Ende meiner Umschau resümieren, dass diese Art der kuratierten Zusammenstellung perfekt auf die Mixtur aus Neugier, Vorwissen und weitreichender Unkenntnis antwortet, mit der vermutlich nicht nur ich solche Zeitschriften aufschlage. Kleine Verdichtungen zu thematischen Clustern, wie der Schwerpunkt zum „Transdisziplinären Schreiben“ oder der Doppelbeitrag von Julia Gaisbacher (Fotos) und Barbi Marković (literarischer Text) zu einem Immobilienprojekt in Belgrad, dazwischen aber immer wieder auch Einzelbeiträge wie die beiden tollen Gedichte von Mario Hladicz (alles in den Lichtungen) – das kommt lockerer und dabei trotzdem informativer daher als die verbreiteten Themenhefte, z.B. die aktuelle Matrix zur armenischen Lyrik der Gegenwart, die Allmende zum Ukrainekrieg („Angriff auf Europa“) oder das wespennest zum Schwerpunktthema „Gefälscht“, auch wenn sich natürlich auch hier großartige Funde machen lassen. – Kleine Archive mit Poesie an vermuteten Stellen, die das Deutsche unbekannter machen – und trotzdem ist man hinterher reicher; so stelle ich mir Gegenwartsliteraturvermittlung im besten Sinne vor.