Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Cornelia Jentzsch
Copyright: Frank und Bettina Eltner - Galerie Oqbo

Cornelia Jentzsch

Cornelia Jentzsch, geb. 1958, ist freiberufliche Literaturkritikerin, Essayistin und Moderatorin. Journalistikstudium, Galerieassistenz, Rechercheurin für DEFA-Dokumentarfilme, Druckhaus Galrev, literaturWERKstatt berlin, Matthes & Seitz Berlin, Urania Berlin e.V., Veröffentlichungen: Rundfunk, Printmedien, Anthologien und Monografien. Sie lebt in der Uckermark und in Berlin.

Zeitschriftenumschau

Cornelia Jentzsch

MÜTZE

Ja, man liest richtig: Ausgabe 36 und Ende. Urs Engeler, äußerst verdienstvoller Einmannverleger (warum gibt es eigentlich für Verleger keine Büchner- oder Nobelpreise?) will zu neuen Ufern aufbrechen: Die MÜTZE wird seit April fortgesetzt durch den literarischen Blog Armengenossenschaft (armengenossenschaft.org). Also, das Literuniversum Engeler wächst weiter. In der finalen MÜTZE finden sich Texte von Guy Davenport, Logan February, Linda Nochlin, Diane Wakoski und Robert Kelly.

René Magritte war dafür bekannt, dass er zahlreiche seiner Bildideen diversen Lektüren und Filmen entnahm. In seiner Bibiothek standen neben Werken von Appolinaire, Bachelard, Bergson, Heidegger, Plato, Freud oder Hegel auch die komplette Nat-Pinkerton-Serie. Ein Groschenkrimi über den König der Detectivs, der jeden Kriminellen zur Strecke brachte. Eine Art Rosamunde Pilcher für Männer. Der Krimi-Fan Magritte karikierte 1953 Pinkerton, indem er dessen detektivischen, mit mehreren Toten durchschossenen Alltag so banal wie den eines Büroarbeiters ablaufen ließ. Pinkertons abendliches Resümee: eine neue Fliegenklappe kaufen. Magrittes Text wiederum ließ sich der US-amerikanische Dichter, Essayist und Hochschullehrer Guy Davenport (1927-2005) nicht entgehen. Es gibt in der Paris Revue eine kleine Episode über den Englisch-Lehrer Davenport an der Universität von Kentucky, die vielleicht seine lustvolle Adaption erklären mag. Einer seiner Studenten erinnerte sich, dass, wenn in einem gerade durchgenommenen Aufsatz das Wort Seife erwähnt wurde, Davenport einen zehnminütigen Monolog über Bedeutung und antiken Ursprung der Seife, Badegewohnheiten englischer Könige und Königinnen und die Veränderungen der Seifenbestandteile im Laufe der Jahrhunderte einschob, bevor er im Lehrstoff weiterfuhr. Davenport war der Meinung, dass der Zweck des phantasievollen Lesens darin bestehe, „den eigenen Geist in das Wirken einer anderen Sensibilität zu versetzen“.

Logan February ist nicht-binäre·r Lyriker·in, Essayist·in, Sänger·in, Songwriter·in und LGBTQ-Aktivist·in, geboren 1999 in Nigeria. Februarys Gedichte sind „Selbstporträts mit fremder Zunge“. Auf der Suche nach dem „eigenen flüchtigen Wesen“ sprechen alle Dinge zu dem, der sucht. Gewalt, die Erfahrung als Objekt behandelt zu werden und mißbrauchte Körper begleiten diese Suche. „Da sind wir, marschierten / durch die Geister, die das Land zuerst bestellten, / aus meinem zerbrochenen Land kam ich // hierher, wo die Geschichte zugleich außer / und in mir ist.“

Die Amerikanerin Linda Nochlin (1931-2017) hatte mit ihrem Essay Why Have There Been No Great Women Artists? 1971 den Grundstein für eine feministische Kunstgeschichtsschreibung gelegt, bekannt war sie vor allem als Kunsthistorikerin. Sie schrieb jedoch auch Poesie wie das Langgedicht Ich habs nicht in das Armenhaus geschafft. Armenhäuser, so abstoßend wie möglich gestaltet, damit „sich die hinterhältigen Armen nicht für sie entschieden“. Sie schaffte es nicht in das Armenhaus, aber, so meint sie, es könnte noch kommen. Ihr Gedicht ist ein Plädoyer für Menschlichkeit in einer Gesellschaft, die weiß, es „gibt keinen Gott / keine Engel / nur Richter, Tiere und Fremde“.

Den größten Part in der MÜTZE nehmen die Gedichte der 1937 geborenen amerikanischen Dichterin Diane Wakoski ein, die in einem Interview sagte, sie verwende „die Sprache, die Whitman als ‚das barbarische Gähnen‘ bezeichnete, keine poetisierte Sprache, sondern eine harte und wesentliche amerikanische Sprache.“ Im selben Interview charakterisierte sie die amerikanische Dichtung, die wie die amerikanische Malerei sei, „immer persönlich“, sie „legt den Schwerpunkt auf die Individualität des Dichters. In der amerikanischen Poesie geht es immer darum, sich selbst zu definieren, das Recht zu beanspruchen, anders zu sein und oft auch Tabus zu brechen. Amerikanische Lyrik wird in der Regel im Kontext der eigenen geografischen Landschaft geschrieben, manchmal aus den eigenen kulturellen Mythen heraus, und oft mit Bezug auf Geschlecht und Rasse oder ethnische Herkunft. Amerikanische Dichter zelebrieren ihre Körper, so wie Whitman es tat.“ Wakoski steht der Beat Generation wie den Deep-Image-Dichtern nahe, zu ihren wichtigsten Einflüssen zählt sie die Dichtung von William Carlos Williams, Charles Bukowski und Allen Ginsberg.

Wakoskis frühe Texte waren jedoch noch eher von der Deep-Image-Bewegung inspiriert, zu der auch auch Jerome Rothenberg und Robert Kelly gehörten. Insofern fast folgerichtig, dass die letzte Ausgabe der MÜTZE nach den Gedichten Wakoskis mit einem wunderbaren Text von Robert Kelly endet, Der Leser in der Übersetzung von Urs Engeler. Eine Hymne auf jenen Leser, der nicht nur Buchseiten, sondern die Natur in ihren Details, das heißt jedes Blatt an Robinie, Linde, Ahorn und Eiche zu lesen versteht, als wäre es ein fulminanter Roman. Sein Tipp: „Heb es einfach auf und fang an zu lesen… halt es einfach sanft in deiner Hand, lass Deine Augen in seinem Geflecht spielen und hör zu. Den Rest erledigt das Blatt.“
Zu lesen ist dieser Satz Kellys auf dem definitiv letzten Blatt aller Mütze-Ausgaben mit der Seitenzahl 1872.


DRITTE NATUR

Die DRITTE NATUR ist eine Zeitschriftenneugründung von 2018 aus dem Verlag Matthes & Seitz Berlin und „das erste deutschsprachige Periodikum über das Zeitalter des Anthropozän“ (Gregor Dotzauer). Im vergangenen Jahr erschien die Nummer 05, die Nummer 06 ist im Druck. Ursprünglich sollte die Zeitschrift zweimal jährlich erscheinen, die Materialfülle ist groß und die zentralen Themen sind es nicht minder, was den entschleunigten Erscheinungsrhythmus durchaus entschuldigt. Die Unterzeile Technik Kapital Umwelt deutet an, dass es nicht nur um Literatur, sondern um die gesellschaftliche Schnittstelle zwischen diesen drei Problemzonen geht, vermittelt über Essays, Lyrik, Kurzerzählungen oder Bildkunst.

Der Begriff „Zweite Natur“ resultierte aus der Industrialisierung mit all ihren Folgen. „Dritte Natur“ kennzeichnet die Tatsache, dass der Begriff Natur im ursprünglichen Sinn, also etwas vom Menschen Unabhängiges, schon lange nicht mehr zutrifft. „Dritte Natur“ entspricht dem heutigen, von der Informationstechnologie durchsetzten Zeitalter. Der Begriff ist noch nicht klar ausdifferenziert, dafür ist der gegenwärtige Umwälzungsprozess zu dynamisch und neu. Für den französischen Soziologen und Philosophen Bruno Latour gehören die Begriffspaare Natur und Kultur untrennbar zusammen, sie definieren sich gegen- oder besser miteinander. Um diesen Umwälzungsprozess mit seinen Krisen (in Umwelt, Technik und Kapital) zu begreifen, müsse man einen dritten und außerhalb beider Begriffe situierten Standpunkt einnehmen, eine Außenansicht praktisch. Die Dritte Natur wäre ein solcher ideeller Aufenthaltsraum. Der Herausgeber Steffen Richter, Literaturwissenschaftler und Journalist, möchte in dieser Zeitschrift deshalb „neueste Überlegungen aus laufenden oder am Anfang befindlichen Forschungen abschöpfen“. Was in der akademischen Welt aktuell gedacht wird, will er über die Zeitschrift in den öffentlichen Diskurs einspeisen. Das Ganze nicht in wissenschaftlicher, sondern essayistischer Form. Ein Essay bietet sich, ob seiner operativen und zuspitzenden Möglichkeiten, bestens an und vermag Impulse zu setzen. Der ursprüngliche Quell für den Begriff „Dritte Natur“ liegt übrigens am Gardasee. Im Sommer 1541 beschwerte sich der Mönch Iacopo Bonfadio über die Kunst der Renaissancegärtner. Sie hätten die Natur am Gardasee in eine künstliche verwandelt. Aus ursprünglicher wie künstlicher Natur habe sich nun eine „dritte Natur“  entwickelt, für die ich noch keinen Namen weiß“. Heute sprechen Mediziner, Künstler, Kulturhistoriker, Landschaftsarchitekten, Informationstechniker und Wissenschaftssoziologen von „dritten Naturen“.

Zu den Autoren der dem Thema Umwelt gewidmeten Nr. 05 gehören neben anderen die Schriftsteller Cécile Wajsbrot, Marcel Beyer, Marion Poschmann, Sabine Scho, Daniela Danz, Nico Bleutge, Ulrike Draesner und Myllay Hyatt sowie die Wissenschaftler und Publizisten Raul Zelik, Jutta Person, Sebastian Unger und Klaus Dörre. Umwelt ist ein ebensolch fragil gewordener Begriff wie Natur. Um-Welt stellt den Menschen in den Mittelpunkt, deshalb die Frage, ob es nicht eher Mitwelt heißen müsste, da der Mensch kein herausgehobener, sondern ein integrierter Bestandteil des Netzwerkes Welt ist. Ob überhebliches oder integrierendes Verständnis der Welt um uns herum ist letztlich mitbestimmend für die Bewältigung der Klimakrise. In einem paritätischen Systemverständnis muss man mit den Rückwirkungen des Handelns rechnen und diese nicht selten gravierenden, aber oft erst zeitversetzt wahrnehmbaren Rückwirkungen miteinbeziehen. Als Krone der Schöpfung sah sich der Mensch hingegen lange Zeit aus dieser Verpflichtung befreit, ja nahm sie nicht einmal als solche wahr.

„… nur die luft schmeckt noch nach ihnen / wildbienen / sterben aus, geier gelöscht. wir schippern nach / norden / dem eis hinterher / pendeln / in strat- in atmosphären die köpfe um / scharf / zu stellen new vision ‚die natur’“ schreibt Ulrike Draesner in einem ihrer abgedruckten Gedichte.
Der Soziologe Klaus Dörre fordert deshalb, wolle man der Klimakrise wirksam begegnen, müssen Produktionsentscheidungen demokratisiert, also für die Zivilgesellschaft geöffnet werden. Nur durch eine Umverteilung von Entscheidungsmacht könne man Nachhaltigkeitsziele konsequent durchsetzen. Der Sozialwissenschaftler und Romancier Raul Zelik bemerkt in seinem Beitrag ergänzend dazu, dass die notwendige ökologische Transformation gar nicht anders als mit harten Eingriffen in die „Freiheit“ der Eigentumsordnung umgesetzt werden kann, und „das betrifft nicht nur einzelne Branchen, sondern das Kapital als Ganzes“. Eine Nachhaltigkeitsrevolution wäre nur möglich, wenn die Gesellschaft als Ganzes sich die Macht verschafft, „Wirtschaftsprozesse zu lenken, zu steuern und zu begrenzen“. Die Verwandlung inzwischen sämtlicher Lebensbereiche in profitorientierte Zonen ist dringend zu stoppen. Naturschutz müsse endlich nicht nur als moralisches oder ideelles Anliegen bewertet werden. Hier helfen nur harte Fakten: ein kritisch-sozialökologischer Ansatz und stringente Politik.

Äußerst lesenswert ist auch der Essay der beiden Philosophen Birgit Beck und Kevin Leggieri über anthropophile Technik. Sie analysieren die gegenseitig stimulierende Entwicklung von Technik und Lebenserfordernissen anhand des sich immer wieder verändernden, an die Benutzer geschickt angepaßten und sie damit beeinflussenden Designs technischer Produkte, beobachtet in einer Zeitspanne vom ersten Weltkrieg bis heute.

Der Journalist, Biologe und Philosoph Cord Riechelmann erinnert im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin Jutta Person und dem Primatenforscher Volker Sommer unter dem Thema Menschen und andere Tiere daran, dass das Tierreich ein „Kosmos von Differenzen“ ist und daher schon von jeher die Gegenüberstellung Mensch-Natur äußerst vereinfachend und bedenklich ist. Jutta Person hingegen fragt sich und ihre Gesprächspartner, wie Sprache und Schreiben das Tier-Mensch-Verhältnis ändern können. Auch ein Nichtbiologe muss sein Bewusstsein für den verheerenden Umgang mit Tieren schärfen. Volker Sommer schliesslich fordert Grundrechte für Tiere, also die verschärfte Form einer Gesetzgebung, in Form von Recht auf Freiheit, körperliche Unversehrtheit und selbstbestimmtes Leben. „Ein Gorilla oder ein Schimpanse als unsere allernächsten Verwandten besitzen den rechtlichen Status eines Stuhles.“
Die Autorin Millay Hyatt nimmt das Thema Menschenaffen auf ihre Weise auf und ergänzt Kafkas Bericht für eine Akademie um ein aktuelles Sitzungsprotokoll. Hoffnungsvolle Verbesserungen der Lage hat sie dabei weitestgehend ausgeschlossen, noch immer scheint der Mensch das unverbesserlich unverständigere Wesen zu sein.

Fazit: Nicht nur am gewählten Thema Umwelt, sondern auch in der Organisation und Struktur dieses Heftes, das aus den miteinander korrespondierenden und nicht mehr voneinander lösbaren Genres wie Literatur, Wissenschaft und Politik besteht, wird klar, dass wir nur noch mit einem netzwerkenden Denken gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisen begegnen können.
 


ABWÄRTS!

Der Titel der 2014 gegründeten Zeitschrift liest sich wie ein Echo auf das dröhnende, schliesslich ins Stocken gekommene sozialistische „Vorwärts!“. Geht aber tatsächlich auf Franz Jung zurück, dessen zweiteilige Autobiografie die Titel Der Weg nach unten und Der Torpedokäfer trug. (Arbeitstitel des ersten Manuskriptes war zunächst Die Vögel und die Fische. 33 Stufen abwärts.) Die Zeitschrift ABWÄRTS! besitzt ein ganzes Herausgeberkollektiv, vor allem aus dem Pool der ehemaligen ostdeutschen Untergrund-Szene des Prenzlauer Bergs. Zu ihnen gehörte unter anderem der vor kurzem verstorbene Bert Papenfuß, unermüdlicher Sprachberserker und Kult-Kneipier diverser Berliner Kulturspelunken wie den Torpedokäfer oder die Rumbalotte Continua (benannt nach einem deftigen Polit-Witz wie auch nach Lotta Continua, deutsch „der Kampf geht weiter“ oder „ständiger Kampf“, einer italienischen linken Gruppierung aus der 68er Studentenbewegung; gleichzeitig erschienen unter diesem Titel sieben Gedichtbandfolgen von Papenfuß im Verlag Peter Engstler). Vorläufer von ABWÄRTS! waren die Zeitschriften Sklaven (Texte aus Literatur, Philosophie und Ökonomie 1994-99), Sklaven Aufstand (1998-99), Gegner (1999-2013) und floppy myriapoda (Subkommando für die freie Assoziation. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Politik, Herausgeber Epidemie der Künste, 2006-15). Thematisch könnte man diese Zeitschriften im weitesten Sinn umreißen mit Lyrik, Prosa, Essay, Avantgarde und Anarchismus. Zumeist erschienen und erscheinen sie in spartanisch-spontaner Aufmachung eines A4-großen, klammergehefteten Formats, versehen mit zahlreichen Zeichnungen aus dem Herausgeberumfeld.

Die jüngste Nummer vom Juli 2023 leitet ein Vorwort ein, zusammengestellt aus Zitaten früherer Ausgaben, das die aktuelle wie generelle Schreibrichtung der 48. Ausgabe des ABWÄRTS! ein-ordnet: „Die neuesten Sprachspiele trainieren die Unterwerfung unter die Sinnvernichtung des Ernstfalls. Was bleibt sind die Möglichkeiten von Literatur, den Regeln, den Regelungen und Maßregeln zu widerstehen.“ Widerständigkeit ist Programm und Verpflichtung, angefangen von den Interviews, Essays und Gedichten bis hin zu kurzen Randzitaten wie das der bedeutenden rumäniendeutschen und viel zu früh verstorbenen Lyrikerin Anemone Latzina, die einen Lösungsvorschlag für die Rassenfrage in den vereinigten Staaten hatte: „Man baue / links vom weißen Haus / ein schwarzes Haus“.

Auch das ist eine Geste der Widerständigkeit: Wo seit dem Überfall auf die Ukraine alles Russische, also auch die russische Literatur, als unter Putins Macht und in seinem Einflussbereich stehend undifferenziert der Gegenseite zugerechnet wird, bringt die jüngste Ausgabe des ABWÄRTS! gleich zu Beginn ein fünfseitiges Interview mit dem russischen Künstler und Dichter Alexander Brener über russische Literatur. Brener und seine Partnerin Barbara Schurz sind vor allem bekannt als „Kunstterroristen” oder „Bonnie & Clyde der Kunstszene”. Brener erzählt, wie ihn als Kind die russische Literatur geprägt hat, seine Großmutter memorierte für ihn immer wieder die Gedichte Puschkins. Erst als Schriftsteller wurde Alexander Brener bewußt, wieviel volkstümliche Erfahrungen und Weisheiten in der russischen Literatur erhalten blieben. Er beschreibt die kathartische Wirkung von Literatur anhand der immerhin der Weltliteratur zuzurechnenden Protagonisten von Tolstoi über Puschkin, Dostojewski, Blok, Charms, Chlebnikow, Bely, Remisow bis zu den verschiedensten literarischen Gruppierungen: Akmeisten, Symbolisten, Oberiuten und Futuristen. Er erwähnt die osmotisch ablaufenden internationalen Bezüge dieser Gruppierungen, die ohne Anregungen durch die Werke Rimbauds oder Whitmans kaum oder anders entstanden wären. Brener vertritt das Konzept der „kleinen Literatur“, entwickelt von Deleuze und Guattari, einer selbstbestimmten, eigenwilligen Literatur am Rande jeder Macht. Großartige Literatur, Weltliteratur, kann ebenso dazuzählen wie Samisdat oder Untergrund. „Das ist nicht die Sprache der Staatsmacht und ihrer Untertanen, sondern die Mundart einer widerspenstigen Minderheit, die sich in einer größeren, gesetzlich festgelegten Sprache ihren eigenständigen Weg bahnt. Es handelt sich um einen sprachlichen Prozess der Deterritorialisierung: ein Herausfallen aus den vorherrschenden ästhetischen Normen und damit eine Flucht in die politische Radikalität – zur Suche nach den Ursprüngen der Freiheit.“ Poesie entstehe aus einer poetischen Lebensform, die in einer Kulturgemeinschaft von Gehorsam, Korruption und Kompromissen unmöglich ist. „Man sollte Mandelstams ‚Vierte Prosa‘ lesen und wieder lesen. Dort ist alles gesagt.“ Von allen russischen Schriftstellern hat Brener jedoch Warlam Schalamow am stärksten beeindruckt. „Schalamow wußte, dass das wahre Volk – dasjenige, das begreift, was geschieht, und Widerstand leistet – eine echte Minderheit ist, und keine Bevölkerung.“

Arthur Rimbaud taucht ebenso in einem weiteren Beitrag en passant auf, einer Sammlung von Maßlosen Gegenpoetiken des in Köln lebenden Internetbloggers Peter Bouscheljong (my-blackout.com). In vierzig Statements und acht historischen Spotlights sinniert er „über Verdichtungen und Verschiebungen des Poetischen im Angesicht von Krisen“ und anderen Desolatismen. Er erinnert daran, dass Position beziehen kein statischer Vorgang oder eine Haltung auf zwei Beinen, sondern das „fortlaufend veränderbare Psychogramm innerer Unruhe“ ist.

Welche beunruhigende Rolle Wasserfrauen oder Undinen im allgemeinen Gefüge menschlicher Beziehungen und besonders diejenigen zwischen den Geschlechtern spielen, das untersucht Helmut Höge in seinem wunderbar mäandernden Text Wasserfrauen. Undine geht-kommt-bleibt. Angeregt durch einen Zufallsfund in der FAZ, in dem eine Frau namens Undine auftauchte, fiel ihm natürlich unweigerlich zunächst Ingeborg Bachmanns Erzählung Undine geht und Friedrich de la Motte Fouqués Undine ein. Doch das war nur der Anfang, war der erste Wassertropfen eines sich immer mehr verdichtenden Undine-Text-Tsunamis. Quer durch Literatur, Medizingeschichte, Schifffahrt, Meeresforschung, Mythologie, Kulturwissenschaft und Nahrungsbeschaffung (Muscheltaucherinnen) begegnen Helmut Höge Undinen und Meerjungfrauen. Ein absolut lesenswerter Beitrag, der im Leser folgenreiche Flutwellen auslösen wird.

Erwähnt werden muss leider auch, dass in dieser Ausgabe des ABWÄRTS! gleich drei Nachrufe zu lesen sind. Zum einen auf Max Stock (1948-2023), Grafiker, Maler und Berliner Stadtoriginal, dessen Plakat Wasser ist Leben mit einem zweigeteilten Fisch – nach Luft schnappender Kopf über und nur noch aus Gräten bestehender Leib unter Wasser – mit einer UNESCO-Goldmedaille ausgezeichnet wurde. Das war 1974 und der 26jährige Stock war damals gerade nach Ostberlin gezogen. Dem Buchdrucker Klaus Wolfgang Regel (1937-2023) verdanken der BasisDruck-Verlag und seine Zeitschriften so ziemlich alles, denn er sorgte schließlich für die Materialisierung diverser Gedanken und Ideen auf Papier. Und nicht zuletzt ist einer der großartigsten (und noch immer zu entdeckenden) Autoren, der Lyriker, Übersetzer und Nachdichter der ehemaligen literarischen Prenzlauer-Berg-Connection Andreas Koziol (1957-2023) verstorben. An einer Herausgabe der Gedichte und Texte des zuletzt im inneren Exil lebenden Koziol – der wie Bert Papenfuß, Stefan Döring oder Detlef Opitz seit der Stasiaffäre um Anderson aus dem gesamtdeutschen Literaturbetrieb mehr oder weniger herausgeschleudert oder gar nicht erst hineingelassen wurde – arbeitet derzeit der jüngere Dichterkollege Lutz Seiler. Wie der ebenfalls aus diesem Umkreis stammende Dichter, Übersetzer, Herausgeber und exzellente Kenner der Punk-Musikszene Henryk Gericke in seinem Nachruf schrieb: Andreas Koziol war der „letzte Barockdichter“, der seine „avantgardistische Diktion“ unter Tradition tarnte und dessen Texte von einer „subkutanen Ironie“ mit „Melancholieanteilen“ überzogen waren.