Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Insa Wilke
Copyright: Mathias Bothor

Insa Wilke

Insa Wilke ist Literaturkritikerin und Moderatorin. Sie schreibt u.a. für verschiedene Rundfunkstationen, die Süddeutsche Zeitung und ist Mitglied im lesenswert Quartett und der Jury für den Ingeborg Bachmann-Preis.

Zeitschriftenumschau

Insa Wilke

Unvermutete Perspektiven.
Eine Reise in drei Regionen der Zeitschriftenkultur


Als ich Erasmusstudentin in Rom war, lebte ich bei Pia. Eine geschiedene Juristin aus den wilden Abruzzen, um die 50 Jahre alt damals und sehr unabhängig, eine Kettenraucherin, die sehr gut kochen konnte, am Corte dei Conti arbeitete und ihr Trinkwasser aus dem Wasserhahn der Autowerkstatt nebenan zapfte, weil sie steif und fest behauptete, ausgerechnet hier komme das Wasser aus einer der alten römischen Quellen. Auch das schmeckte nach Chlor.
Dieser eigenwilligen Pia verdanke ich einen wichtigen Lektüre-Tipp: Als ich wieder einmal über den Büchern saß und ihre Versuche abwehrte, mich in Gespräche zu verwickeln, riss sie, wie immer, wenn etwas Bedeutsames bevorstand, ihre Augen auf und rückte nah an mich heran, um mir mitzuteilen, wie sie es geschafft habe, ihr Jurastudium mit Bestnote abzuschließen. Anstatt die dafür nötigen Bücher von vorn bis hinten zu lesen, habe sie lediglich die Inhaltsverzeichnisse studiert. Das aber intensiv.
Ich habe das, ehrlich gesagt, nie ausprobiert. Die Szene kam mir aber in den Sinn, als ich über die Vergleichsmomente zwischen Literaturzeitschriften nachdachte. Was mich an Literaturzeitschriften besonders interessiert: ihr Profil, also wie die Zeitschriftenmacherinnen lesen und zu welchem Zweck sie ihre Hefte in die Welt des literarischen Lebens stellen. Lässt sich das verstehen, wenn man Inhaltsverzeichnisse und Editorial studiert?
Für die Testphase nehme ich mir drei Zeitschriften vor. Sie sind mir aufgefallen, weil sich an ihnen zusätzlich die Frage stellen lässt, wie Zeitschriften in den regionalen Peripherien der kulturellen Zentren gedacht werden: Karussell heißt die Bergische Zeitschrift für Literatur, herausgegeben vom Literaturhaus Wuppertal, in Zusammenarbeit mit dem VS Wuppertal/Bergisches Land und der Autorengemeinschaft „Literatur im Tal“.  Ostragehege, eine Zeitschrift für Literatur und Kunst wird in Dresden erdacht und vom dort ansässigen Verein „Literarische Arena“ vierteljährlich komponiert. Eine weitere Zeitschrift für Literatur und Kunst und zusätzlich „für Zeitkritik“ heißt Lichtungen und wird vom gleichnamigen Verein in Graz herausgegeben.
Nun ist es mit Peripherie und Zentrum ja ohnehin so eine Sache und eine Frage der Definition und Perspektive. Graz war beispielsweise 2003 Europäische Kulturhauptstadt. In meinem Fall schaue ich von Berlin aus in die deutschsprachigen Lande, nach Westen und gefühlt auch nach Osten, obwohl Dresden und Graz ja eher südlich als östlich liegen. Werden im Bergischen Land, in Dresden und in Graz andere Akteurinnen mitsprechen, andere Themen in den Vordergrund treten und andere Blickachsen entstehen als am Wannsee, in Kreuzberg oder Friedrichshain?
Also, aufgeschlagen: Lichtungen, Heft 163/2020. Diese Zeitschrift beginnt gar nicht mit einem Editorial oder Inhaltsverzeichnis. Auf der ersten Seite: eine Geste der Solidarität. Nicht die Herausgebenden sprechen hier wie sonst üblich. Sie machen Platz für das Gedicht Am Hals der Republik, 1999 von Max Gad ebenfalls in Lichtungen veröffentlicht, jetzt wieder abgedruckt. Ein Eingangsportal als ein doppeltes Gedenken, allein das ist schon aussagekräftig. Erstens ein Gedenken an einen offenkundig Verbündeten, den Grazer Schriftsteller, Journalisten und Kurator Max Gad alias Matjaž Grilj, der am 19. September 2020 überraschend gestorben ist. Und dies nicht in Form einer Hommage, sondern als verstärkende Wiederaufnahme eines ihm wichtigen Anliegens: Dass die Kunst nicht schweigt, in diesem Fall über die Tötung des Nigerianers Marcus Omofuma durch österreichische Polizisten im Zuge seiner Abschiebung 1999. Was sagt das über den Geist dieser Zeitschrift aus?
Lichtungen scheint eine Zeitschrift zu sein, die sich nicht als Insel versteht, sondern als Archipel, die also einen Raum der Vernetzungen eröffnet, einen Raum, der offenkundig persönlich (nicht privat) gemeint ist, und in dem künstlerischer Ausdruck sich mit politischen Handlungen verbinden kann, ohne dass ersterer vereinnahmt wird. Entsprechend das Editorial: beteiligt, aber zurückgenommen, von einem unaufdringlichen Enthusiasmus beflügelt, mit Sinn für das Notwendige: „Was Sie in diesem Heft erwartet“ und „Was Sie in diesem Heft nicht erwartet“. Man wünschte sich eine solche Klarheit auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens.
Setzen sich diese Klarheit und dieser Sinn für das Wesentliche im Inhaltsverzeichnis fort? Ja! Wie leicht hier kritischer Anspruch, regionale Verpflichtung und künstlerische Formen ineinanderfließen und ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Die Ordnung einer Zeitschrift ist ja eine trickreiche Sache. Sie muss sichtbar werden und gleichzeitig auch Freiraum bieten. So entsteht Leselust. Lichtungen wendet einen schönen dramaturgischen Kniff an: Die unauffällige Klammer, die aber sofort verrät, dass die Komposition des Heftes genau durchdacht wurde. Umklammert werden die Abteilungen „Literatur“, „Drama!“, „Preise“, „Kunst“, „Zeitkritik/Essay“ von einem Vor- und einem Abspann unter dem Motto „Serie“.
Die eingangs positionierte Serie von Clemens J. Setz setzt den Ton. Seine Kolumne Poesie an unvermuteten Stellen macht die Leserin der Lichtungen mit dem ihr (wie wohl vielen) unbekannten Dichter Bellerive alias Joseph Tishler bekannt, 1871 in Neuseeland geboren. Was an diesem Anfang besticht, ist gar nicht mal, dass man etwas dazu lernt, sondern, wie Setz einem mit freundlicher Selbstverständlichkeit wieder ermöglicht, einem erstmal nicht den gegenwärtigen Skalierungsgewohnheiten entsprechenden Werk und Leben offen zu begegnen. So wird der Blick eingestellt auch für die folgende Abteilung, die sich deutschsprachigen Gedichten und Prosa, Texten aus dem Montenegrinischen, Mazedonischen und Slowenischen widmet und tatsächlich – aus deutscher Literaturbetriebssicht – dafür sorgt, Schreibweisen und auch Schreibenden in die Sichtbarkeit einer Lichtung zu stellen, die im Marktgestrüpp der Literaturwelt nicht auf diese Weise möglich ist. Der Abspann greift das Thema Serie in Form und Thema wieder auf: „Autorinnen und Autoren über ihre Lieblingsserien“, hier: Christoph Szalay über „Narcos“. Ein Bekenntnis zur Zeitgenossenschaft als abschließender Twist.
Innerhalb dieser Klammer entstehen zwischen dem eindrücklichen und stilistisch zum klaren, entschiedenen Lichtungen-Geist passenden bildnerischen Beitrag der Künstlerin Taraneh Khaleghi und den Beiträgen des Literaturteils Korrespondenzen, formal und thematisch. Formal, weil sich die Beiträge in ihrer Vereinzelung in den abgewandten, aber zugewandt dargestellten Figuren von Khaleghi spiegeln, thematisch durch Motive wie Verständigung und Beständigkeit, auch Herkunft. Von Khalegis Arbeit Unendliches Rauschen aus liest man die literarischen Beiträge in einer zugespitzten Ordnung, einem anderen Kontext, ohne dass ihre Eigenständigkeit beschädigt wird. Was der Berlinerin auffällt: die regionale Verortung vieler Autorinnen verwandelt sich in ihrem Blick zu einer Entdeckungsreise, schafft Achsen weiter in östliche Sprachen und verschiebt so auch die Filter literarischer Landkarten von grob auf fein. Programmatisch fortgesetzt findet sich dieses Plädoyer gegen die Verengung des Blicks in Preisreden und Essays. Diese letzte Abteilung ist auch insofern wichtig, weil hier endlich einmal Preisreden als das angekündigt werden, was sie in den allermeisten Fällen sind: Zeitkritik. Kurz: Lichtungen bringt einen tatsächlich in einem äußerst produktiven Sinne in die Peripherie, löst einen nämlich aus vorgeprägten Lektürewinkeln und schließt einen wieder an die eigenen Quellen der Erkenntnislust an.
Und ganz im Westen? Wie denkt sich die Literaturzeitschrift Karussell im Bergischen Land, in der Region rund um Wuppertal? – Thematisch.
Ausgabe 12 aus dem November 2020 macht ihrem Namen alle Ehre: Auf der Drehscheibe des von der Wuppertaler Literatur-Biennale vorgegebenen Themas dieser Ausgabe – Was wollen wir werden. Tier – Mensch – Maschine – fliegen die einzelnen Figuren der Beiträge. Aber zuerst auch hier ein Motto, von Else Lasker-Schüler, das einen literarischen Bezug zwischen dem Thema und der gegenwärtigen pandemischen Situation herstellt, was das Editorial bekräftigt: „Eine Berührung zwischen einem Menschen und einem Tier hat ein Virus um die Welt geschickt, das Krankheiten auslöst, deren Überleben nicht nur vom Funktionieren, sondern vom Vorhandensein einer Maschine abhängig ist.“ Gemeint ist wohl das Überleben der Menschen und gesetzt wird damit eine fundamentale Eigenschaft künstlerischer Fragen: So grundsätzlich gestellt zu werden, dass unvermutete Aktualität plötzlich möglich wird. Die Redaktion von Karussell setzt sich und die Beiträge der Zeitschrift deutlich in ein Verhältnis zu solchen Aktualitäten, fordert sie geradezu heraus, distanziert sich aber zugleich von „der Leistungsschau“ des an andere, banalere Aktualitäten gebundenen Literaturbetriebs. „Texte aus allen Zeiten, deren Relevanz für uns Heutige sich mitunter erst durch einen dezenten Brückenschlag erweisen mag“, sind das Programm. Oder, wie das Redaktionsmitglied Andreas Steffens, 1957 in Wuppertal geboren, Philosoph und Autor, in seinem einleitenden Essay schreibt: „das Aktuelle als das Zeitgemäße“ sei nicht immer „das Zeitgenössische“. Gelingt die programmatische Umsetzung dieser Motti?
Das Inhaltsverzeichnis folgt einem anderen Prinzip als das von Lichtungen: Die Namen der Autorinnen und Autoren sind hinten angestellt, alle Beiträge sind gleich geordnet, bis auf zwei abweichende Abteilungen zum Schluss, die sich ebenfalls regionalen Preisen, Jahrestagen und Lektüren widmen. Das Karussell tritt uns als monolithische Stimmenskulptur entgegen, die Beitragenden öffnen weniger europäische Perspektiven als dass sie Einblick geben in das literarische Geschehen vor Ort. Auch die Auseinandersetzung mit dem Thema zeigt eine starke Konzentration: KI und Maschinen werden fast immer in Zusammenhang mit der Diagnose mangelnden Zusammenhalts, mangelnder Solidarität und menschlicher Nähe in der Gesellschaft behandelt. Zuwendung ist es, was die Menschen einander nicht mehr schenken können und wollen, ein Mangel, den Maschinen beheben. Künstliche Empathie eher als Künstliche Intelligenz. Die Qualität der einzelnen Texte ist dabei sehr unterschiedlich, einige rutschen zu sehr in Klischees ab, die auch ein satirischer Anspruch nicht retten kann. Insgesamt liegt das Potential dieser Ausgabe nicht in der Ausleuchtung des Themas, dafür ist das Spektrum der literarischen Antworten zu eindimensional und zu wenig am State of the Art philosophischer Auseinandersetzungen orientiert. Nein, das Potential dieser Ausgabe liegt tatsächlich im Charakter eines Schaufensters ins künstlerische Leben der Region, zu dem ein Seltsamkeitsforscher ebenso beiträgt wie eine Autorin von Kriminalromanen.
Die Zeitschrift Ostragehege zieht im Titel ihr Einzugsgebiet sogar noch enger, verfolgt aber sichtlich ein anderes Programm, wenn auch ausgehend von vergleichbaren programmatischen Prämissen. Benannt nach einem innerstädtischen Landschaftsraum Dresdens, öffnet sich hier ein weiter Blick in den globalen literarischen Raum. Als Landschaft, als Garten gedacht folgt das Programm des 98. Heftes im letzten Quartal 2020 der englischen Gartenkunst: wohl durchdacht werden einem in jedem Winkel Überraschungen geboten und Blickachsen beiläufig klug geschaffen. Das Editorial macht gleichzeitig den Anspruch klar: „Gedichte / sind wie Häuser, gebaut / aus Steinen, die einem in den Weg / gelegt werden.“ – Diese Steine lässt man sich gern in den Weg legen, denn sie eröffnen neue Wege. Das Inhaltsverzeichnis, nach Gattungen und Rubriken geordnet, stellt die Autorinnen und Autoren ins Zentrum. Mit Namen wie Aime Césaire wird sofort der weltliterarische Weitblick deutlich: Hier geht es weniger um Region als um den grenzenlos gedachten literarischen Raum, der den Ort, von dem aus er geschaffen wird, zugleich zu berücksichtigen weiß. Und das auch in zeitlicher Hinsicht: Erinnerung und Wiederentdeckungen werden immer in eine Beziehung zum gegenwärtigen Sprechen, Leben und Lesen gebracht: „Am Gipfel ihres Aufstiegs angekommen platzt die Freude wie eine Wolke. Die Lieder halten nicht inne, aber sie wälzen sich nun unruhig und schwer durch die Täler der Furcht, die Tunnel der Angst und die Höllenfeuer“, heißt es im eröffnenden Text von Aime Césaire, als würde er aus unserer Zeit heraus sprechen.
Wie gegenwärtig relevant Erinnerung wirken kann, zeigen die Fotografien von Evelyn Richter, die das Heft strukturieren ebenso wie das der ostdeutschen Fotografin gewidmete Porträt von Agnes Mathias und Karin Grossmanns umfassendes, unbedingt lesenswertes Werk-Gespräch mit der 1937 geborenen Schriftstellerin Helga Schütz. Sie scheint in ihrer Antwort auf die Frage, wie Gärtnern und Erkenntnis zusammenhängen, den Charakter von Ostragehege genau zu treffen: Man gehe nicht mehr unschuldig und blind durch die Gegend, wenn man zu gärtnern gelernt habe. Das sei so, „weil man einige Dinge benennen kann und ihre Bedürfnisse ungefähr kennt. Man weiß, welche Pflanze wann blüht und was sie braucht, man ist vertraut mit dem, was da wächst. Und das meiste behält die Natur als Geheimnis. Hin und wieder gibt es eine Überraschung.“ – Mit dieser Behutsamkeit wird offenkundig auch Ostragehege komponiert, bis hin zu beglückenden Überraschungen wie Paul-Henri Campbells Porträt des Dichters Dinçer Güçyeter, das in seiner ausgewogenen Darstellung der Wechselwirkung zwischen Leben und Schreiben für einen endlich ernsthaften Blick auf diesen Autor sorgt. Eine ähnliche Wirkung hat Andrea Reynolds Zusammenstellung der „Radikalen der neuen slowakischen Literatur“. Es ist wie ein Aufatmen, diese Fenster in neue Räume plötzlich aufzustoßen. Interessante Reibung erzeugt dabei auch die Gegenbewegung durch den Schwerpunkt Flucht und Vertreibung, der offenkundig ganz bewusst den Rekurs auf die unmittelbare Gegenwart vermeidet. Ein außerordentlich beeindruckendes Heft in der Genauigkeit, mit der Erinnerung und Vergegenwärtigung neue Blicke ermöglichen und energische Impulse setzen, denen man sich als Leserin und Literaturliebhaberin nicht wird entziehen können. Auch hier also zeitliche und räumliche Peripherie im besten Sinne, nämlich als bewusst weite Auen jenseits der verengten Kanäle des Marktes, als souveräne, entschiedene und überlegte Gegensprache.
Also, was treibt diese drei Literaturzeitschriften? Vor dem Panorama, das sie sichtbar werden lassen, wohl ähnliches wie Mies van der Rohe, der anlässlich der Eröffnung seines Baus der Neuen Nationalgalerie in Berlin, die 2021 gerade saniert wieder eröffnet wurde, sagte: „Zur Freude der Menschen, im Dienste der Kunst und des Geistes.“