Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Jörg Plath
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Jörg Plath

Jörg Plath, geboren 1960, ist Literaturredakteur von Deutschlandfunk Kultur und schreibt für die Neue Zürcher Zeitung sowie die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Er arbeitete als Lektor, Ghostwriter, Redakteur und Juror (Deutscher Buchpreis, Internationaler Literaturpreises). Gegenwärtig gehört er der Weltempfänger-Jury an.

Zeitschriftenumschau

Jörg Plath

Die Rückseite einer Zeitschriftenumschau ist wie jede Rückseite unansehnlich. Denn die Arbeit hinter dem Text steckt voller Mühsal, Murren und Rücksichtslosigkeiten. Diese Umschau etwa fußt auf der Lektüre von sieben Zeitschriften, von denen zumindest drei ungerechterweise ausgeschieden sein könnten. Bei mindestens einer war ich nämlich gravierend indisponiert für Kunst durch Lebkuchenvöllerei. Eine andere hätte mich, da bin ich mir immer noch sicher, auch unter idealen Lektürebedingungen enttäuscht. Bei einer dritten lässt sich das so eindeutig nicht sagen, anderes jedoch ebenso wenig – was ebenfalls zu einem gesenkten Daumen führte. Eine weitere Zeitschrift dagegen gefiel sehr und kam doch nicht in Frage, weil frühere Ausgaben von ihr schon hinlänglich in anderen Umschauen erwähnt worden sind und die Auftraggeber solche Ballungen aus naheliegenden Gründen vermeiden wollen. Sie wird nun trotzdem am Ende Erwähnung finden, gewissermaßen außer der Reihe, so sehr gefiel sie. Womit zumindest eines deutlich wird: Die Freiheit des Verfassers, seinen Launen zu folgen, ist in kaum einer anderen journalistischen Gattung größer.
Die Mühen, das Murren möglicherweise auch. Denn Launen sind nicht fleißig, sie verhelfen nicht zum Text. Und so war, als es losging, nur klar: Von Corona möchte ich nichts mehr hören. Die zeitdiagnostische Reflexion über die Viruswirkungen wiederholt derzeit das Naheliegendste: wachsende Intimdistanz und Digitalnutzung, sinkende Gewerbemieten und Flugfrequenz. Zudem braucht Literatur ohnehin Jahre, um auf aktuelle Ereignisse zu reagieren. Aber die meisten Lebensfragen veralten ja nicht, und wir finden oft ohnehin nur Antworten, deren Schriftform das Haltbarste an ihnen ist.

Antworten auf Beziehungsfragen etwa. Sie sind der heimliche Subtext der neuen poetin, die einst als poet startete und in Leipzig von Andreas Heidtmann herausgegeben wird. Unter dem generischen Femininum versammelt die poetin neben Lyrik auch Prosa und Gespräche, neben Frauen auch Männer. Womöglich auch noch weitere Schreibende, aber darüber geben die manchmal ungelenken Kurzbiographien mit Foto („Hat ursprünglich berufstechnisch im Gesundheitswesen angefangen …“) glücklicherweise keine Auskunft. Ein kleines Dossier in Nr. 27 ist dem 2000 gestorbenen Jehuda Amichai gewidmet, dessen Gedichte sich sehnsüchtig-zärtlich dem Gegenüber zuneigen: „An dem Ort, wo wir im Recht sind, / blühen keine Blumen / im Frühling“. Ob ohne den großen Israeli die heutige Literatur des Landes nicht zu verstehen ist, wie Amadé Esperer in der Einleitung des von ihm kuratierten Dossiers schreibt? Viele Möglichkeiten, den drängenden Problemen Israels auszuweichen, haben die jüngeren Lyriker Jona Wallach, Agi Mishol oder Maja Bejerano ja nicht, die Gundula Schiffer vorstellt. Insbesondere Yitzhak Laor klingt viel aggressiver und härter als Amichai. Das Enfant terrible Laor ist es auch, das im Gespräch am Ende des Bandes verneint, dass Amichai je Schüler hatte: „Die Angst vor Einfluss und sein Genie hielten uns alle fern.“
Auf den ersten Seiten der poetin erzählen die Prosaskizzen von Aleks Sekanić, Lea Winterlin und – etwas glatter – Verena Kessler ebenfalls von Beziehungen zwischen Menschen. Voller Sehnsucht sind auch sie, denn der geliebte Mensch ist entweder abwesend, verstörend oder reizvoll ungreifbar wie bei Aleks Sekanić: „… also schaue ich Theo von der Seite an und finde, Theo, meine Theo, die einzige Theo, die ich kenne, sie sieht aus wie eine Theo. Als nächstes sieht sie aus wie eine Dora, und dann kommen alle Namen, die es je gegeben hat, und ganz am Schluss, am anderen Ende des Spektrums, dort steht Theodora.“ Die Eine ist nicht nur wie üblich alle, sie ist auch alle Namen, männlich wie weiblich.

Aleks Sekanić ist in Serbien geboren worden und lebt seit 2002 in der Schweiz. Ist sie eine junge Schweizer Autorin? „Österreichische Literatur wird in Österreich geschrieben“, hörte ich 1984 in einem ehrwürdig abgeschabten Vorlesungssaal der Wiener Universität. Man musste damals kein Deutscher in Wien sein, um diesen Satz schlicht, schlecht tautologisch, ja: nahe am Schwachsinn siedelnd zu finden. Eben hatte ich mich noch gefreut auf den dampfenden Germknödel in der Mensa, nun ärgerte ich mich über das Niveau des Professors, der mit diesem Satz eine Vorlesung über die Literatur der Alpenrepublik einleitete und für mich Piefke sogleich beendete. Viele Österreicher hatten in Berlin, München, den USA und sonstwo geschrieben und taten es auch damals. Kurz danach durfte ich in derselben Universität Wendelin Schmidt-Dengler hören und wurde über alle Maßen versöhnt, auch wenn ich niemals hörte, was die heute in Wien lehrende Christine Ivanovic bei ihm las: „Die Literatur aus Österreich ist gewiss zum überwiegenden Teil in deutscher Sprache abgefasst.“
wespennest, die Wiener „zeitschrift für brauchbare texte und bilder“, in der sich Ivanovics Essay findet, widmet sich in Nr. 179 der Viel- und Einsprachigkeit. Der belgische Philosoph und Ökonom Philippe Van Parijs plädiert für das Englische als europäische Lingua franca, als sei es nicht ohnehin und ohne seinen Einsatz auf dem besten Weg dazu. Terézia Mora und Ilija Trojanow unterhalten sich über den Vorteil der Mehrsprachigkeit fürs Schreiben: “Meine einzige Muttersprache … ist die Mehrsprachigkeit“, sagt Trojanow. Ihm und Mora ist die Mehrsprachigkeit freilich in die recht mobile Wiege gelegt worden: Mora wuchs in der deutschsprachigen Minderheit Ungarns auf, bevor sie nach Berlin zog, Trojanow, geboren in Bulgarien und zur Zeit in Wien lebend, verbrachte Kindheit und Jugend in Kenia und Deutschland. Wer Romani, Chinesisch oder Ungarisch dagegen erst als Erwachsener erlernen muss, steht erwartungsgemäß vor gewaltigen Hürden, die Cornelia Wiedenhofer, Alice Grünfelder und Kurt Neumann haben demütig werden lassen; oft steckten sie auf.
Das stimmt skeptisch gegenüber der interessanten Argumentation von Christine Ivanovic: Sie zeigt, wie das Konzept der Nationalliteratur gegenwärtig kräftig erweitert wird. Sprache und Staat sind ja auch in vermeintlich monolingualen Nationen niemals Zwillinge, höchstens Geschwister, die sich einst zusammenschlossen, um andere Sprösslinge zu verleugnen: die Sprachen von Minderheiten etwa. Seit einiger Zeit treten diese deutlicher hervor: „Joseph Conrad, einst eine Ikone der modernen englischen Literatur, ist heute unter dem Etikett ‚polnisch-britischer‘ Autor neu im Angebot.“ Frankreich hat eine andere Möglichkeit gefunden, die Nationalliteratur auszudehnen: Es erfreut sich nicht nur französischer Autoren und Autorinnen, auch frankophoner. Letztere leben außerhalb des Territoriums der Grande Nation, aber in ihrem Einflussbereich und schreiben in ihrer (dominanten und Amts-) Sprache.
Die Deutschen, so Ivanovic, begeistern sich in Ermangelung einer Deutschophonie für jeden, der Deutsch schreibt, ohne dass es ihr oder ihm in die Wiege gelegt wurde. Und zwar so sehr, dass die Wienerin vermutet, dieser Enthusiasmus habe manchen nicht in Deutschland geborenen Schreibfähigen zur Wahl des schönen deutschen Schriftstellerberufs bewogen. Der Preis für solche Bemühungen, der Adalbert-von-Chamisso-Preis, bis 2017 an Autoren „nichtdeutscher Sprachherkunft“ verliehen, erinnert die Wiener Wissenschaftlerin allerdings heikel an „Herkunftsnachweise anderer Art“. Das klingt flott, verkennt aber, dass ohne den anfangs arg kritisierten Chamisso-Preis keine Begeisterung entstanden wäre: Die Auszeichnung schlug eine Bresche in die naive Vorstellung einer … sagen wir nach dem Vorbild eines Begriffs für deutschstämmige Deutsche: „Kartoffelliteratur“.
Ivanovics überraschende Volte ist die Hoffnung auf eine in vielen Sprachen verfasste Literatur. Insbesondere das Englische sei nicht nur ein „Marker eines aktuellen Slangs“, sondern Teil einer „ästhetischen Strategie polyphonen Schreibens“, mit dem „auch auf Deutsch verfasste Literatur aus Österreich international rezipierbar wird“. Geht’s nicht ein bisschen größer? Das – auch vor dem Hintergrund der oben erwähnten Schwierigkeiten beim Sprachenlernen – realistische Eingeständnis Ivanovics, nur das Englische werde genügend verstanden, beschädigt die dennoch  hochgehaltene große schöne Utopie der Polyphonie. Aber wie darf man sich das Verständnis einer Literatur vorstellen, die in mehreren, von den Lesern größtenteils nicht beherrschten Sprachen verfasst ist?
Erstaunlicherweise findet sich im wespennest kein Wort zu den neuen Sprachkriegen mit Sternchen, Gendergap und Binnen-I, also jenen Varianten, mit denen Sprache all die Wunden heilen soll, die, so heißt es, durch Exklusion oder Nichtrepräsentation geschlagen wurden. Sollten die Wiener glauben, solche Sprachpolitiken seien für die Literatur irrelevant? Viele Schriftsteller*innen verweigern sich neuen Schreibweisen, die alle repräsentieren sollen, mit dem Hinweis auf ihr ästhetisches Empfinden. Sollten beide Seiten weiter mit Individualität argumentieren (was bei den Sprachpolitiker*innen die zunehmende Aufsplitterung der zu repräsentierenden Identitäten anzeigt), dürfte der Konflikt bald entschieden sein: Gegen die Forderung nach menschlicher Unversehrtheit kommt keine Ästhetik an.

Auch dann nicht, wenn sie so avanciert daherkommt wie bei Dorothee Elmiger. Im Dresdner Ostragehege Nr. 97 spricht Beat Mazenauer länger mit Elmiger über ihre ungewöhnliche dokumentarische Collagetechnik. Und dann berichtet die Schweizerin, wie sie in „Aus der Zuckerfabrik“ (2020), das auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, plötzlich ins Erzählen geraten sei: „Das dokumentarische Schreiben beschränkt den Text in seinen Möglichkeiten; es gibt eine Verpflichtung, möglichst wahrheitsgetreu zu erzählen. Die Begrenztheit der Realität drängt sich auch dem Text auf.“
Die Sprache als eine eigene Realität schätzten die tschechischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller des Poetismus und Surrealismus, die ein Dossier des Ostragehege auf immerhin 40 großformatigen Seiten vorstellt. Sie sind eines von vielen Echos des tschechischen Auftritts auf der Leipziger Buchmesse 2019 – die Tschechen haben seitdem einfach weitergemacht, Pandemie hin oder her. Der umtriebige Wiener Verleger und Übersetzer Ondřej Cikán stellt die Gefolgsleute der Zentralfiguren Karel Hynek Mácha (1810-1836) und Vítěszlav Nazval (1900-1958) vor. Trotz Übersetzungsschwierigkeiten machen die Gedichte und kurzen Prosastücke neugierig. Und am Ende folgt dann doch noch etwas zur Pandemie. Aber selbst Tereza Semotamová, deren kleiner Roman „Im Schrank“ einen schrägen Witz besitzt, vermag den traurigen Konsequenzen des Lockdown für die Libido nur eine müde Pirouette abzugewinnen.

Nun ist Zeit für den nicht erwünschten, aber aus deutschen Enthusiasmus heraus notwendigen Hinweis: Er gilt dem von Norbert Wehr in Essen herausgegebenen „Schreibheft“ und insbesondere einem seiner drei Schwerpunkte in Nr. 94: dem über den ungarischen Lyriker István Kemény (die anderen beiden widmen sich dem französischen Erzähler Patrick Deville wie dem Briefwechsel zwischen Thomas Kling und Oskar Pastior). Von Kemény sind drei Bände mit Lyrik auf Deutsch lieferbar und ein Roman über das Aufwachsen im ungarischen Spätsozialismus: „Liebe Unbekannte“. Beeindruckende Bücher, aber selbst der Roman ist noch von vielen zu entdecken.
In dem Kemény-Dossier, das die preisgekrönte Übersetzerin Timea Tankó zusammengestellt hat, setzen sich Freunde und Altersgenossen für den eher schüchternen Dichter ein: Attila Bartis liefert eine intelligente Interpretation des Dichtergesprächs („Hast Du Schnaps?“), László Darvasi nimmt den Funktionärsteufel Patai aus dem Roman „Liebe Unbekannte“ ins ungarische Literaturpantheon auf, Orsolya Kalász und Monika Rinck übersetzen, und István Kemény steuert listige Essays bei. Aus all dem schält sich der Umriss eines nachdenklichen, zögerlichen Menschen, der von der Beliebigkeit der Postmoderne wenig, von der Ironie aber viel hält. Der den Sirenen lauschen will, wo immer sie singen, im Privatradio oder im Mainstream, und dennoch Verse schreiben will, um der Gänsehaut willen und der Erkenntnis, auch wenn wenige sie lesen werden.
Von István Kemény gibt es einige gedankenreichere Gedichte als dieses hier, aber kaum eines, das seine so gegenwärtige wie ironisch-gelassene Haltung so gut zeigt: „Ja, Jetzt // Ja, jetzt fließt es durch den Spalt unter der Tür. / Ja, jetzt saugt der Teppich ein bisschen davon auf. / Ja, jetzt verschluckt es die Füße des Bettes. / Ja, draußen regnet es.“