Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Volker Sielaff
Copyright: Renate von Mangoldt

Volker Sielaff

Volker Sielaff, Lyriker und Prosaist, lebt in Dresden.
Seine Gedichte wurden in mehr als zehn Sprachen übersetzt, u.a. ins Englische, Tschechische, Französische, Chinesische und Arabische. Englische Übersetzungen finden sich z.B. in der Sammlung "Twentieth-Century German Poetry" der Verlage Farrar, Straus and Giroux, New York 2005 und faber and faber, London 2005.
Im Herbst 2003 erschien im Verlag zu Klampen der Band "Postkarte für Nofretete". 2007 erhielt V. S. dafür den Lessing-Förderpreis. Im Herbst 2011 erschien der Gedichtband "Selbstporträt mit Zwerg" im Verlag Luxbooks Wiesbaden, im Frühjahr 2015 sein Band "Glossar des Prinzen". 2015 Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung für "Glossar des Prinzen".

Soeben ist sein Prosabuch "Überall Welt" (Verlag Edition Azur, 2017) erschienen.  

Zeitschriftenumschau

Volker Sielaff

Dresden ist bekannt für seine Galerien. Die Gemäldegalerie Alte Meister zählt mit 750 ausgestellten Werken aus dem 15. – 18. Jahrhundert zu den renommiertesten Gemäldesammlungen der Welt, und im Albertinum, das sich seit 2010 als Museum der Moderne präsentiert, besticht vor allem der Saal mit den Bildern des Romantikers Caspar David Friedrich. Seine "Schiffe im Hafen am Abend", der berühmte "Tetschener Altar (Kreuz im Gebirge)" und natürlich seine "Zwei Männer in Betrachtung des Mondes" gehören dazu. Nach Friedrichs 1832 entstandenem Bild "Das große Gehege bei Dresden" – das Theodor W. Adorno einmal als "das erste moderne Gemälde" bezeichnete – nennt sich eine in Dresden erscheinende Zeitschrift für Literatur und Kunst mit überregionaler Ausrichtung Ostragehege. Es heißt, die Zeitschrift habe ihren Namen einem der Heroen der sächsischen Dichterschule, dem Lyriker Heinz Czechowski, zu verdanken. Der gehörte 1994, neben den Autoren Peter Gehrisch und Utz Rachowski, zu den Gründern des Blattes; heute wird es, mit einem Umfang von ca. 70 Seiten, von einem Redaktionskollegium um Axel Helbig redigiert und herausgegeben. Auf stattliche 82 Hefte hat Ostragehege es mittlerweile gebracht, und in der neuesten Ausgabe dieser wunderbaren Zeitschrift kann man erfahren, wo sich die profundeste Sammlung Dresdner Kunst befindet: "Wer Dresdner Kunst sehen will, muss nach Freital fahren", schreibt Uwe Tellkamp in seinem Text "Das Freitaler Auge", in dem er zugleich bekennt, selber oft genug an den "Städtischen Sammlungen Freital" vorbeigefahren zu sein, "mehr banausisch indessen als arrogant."

Freital ist ein echter Geheimtipp. Man staunt mit offenem Mund, betritt man zum ersten Male dieses ehemalige Rittergut, ein stilles Refugium am Fuße des Windberges, das mit seiner "Galerie Dresdner Kunst des 20. Jahrhunderts" noch das "Albertinum" im nur wenige Kilometer entfernten Dresden in den Schatten stellt. Der Kunstteil der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Ostragehege gratuliert mit einigen Texten den Freitaler Sammlungen zu deren 25jährigem Bestehen. Einem kurzen, launigen Grußwort des langjährigen Direktors der Gemäldegalerie Alte Meister, Prof. Dr. Harald Marx, folgt ein empathischer Text des in Dresden lebenden Malers Hubertus Giebe. "Bilder sind geistige Werkzeuge", sie zielen ins Universelle und, so Giebe weiter: "Auch der unscheinbarste Gegenstand kann halluzinativ und faszinierend sein." Mit Beckmann evoziert Giebe sodann die "Wut der Sinne", ohne die alles nur ein "Tempelschlaf" sei und nicht "Widerhall der rauschenden, dinglichen licht- und farbsatten Welt." Und dann erzählt der Maler, der zu seinem sechzigsten Geburtstag 2016 selbst mit einer großen Ausstellung im Dresdner Stadtmuseum geehrt wurde, von einigen seiner Lieblingsbilder in Freital: Oskar Zwintschers "Mondnacht" von 1897 ("magischer, seltsamer Jugendstil-Realismus"), Curt Querners Bauernbildnis "Der Alte Rehn" von 1951 ("eine Komposition in der silhouettenhaften Klarheit und dinglichen Wucht altdeutscher Meister"), das Bildnis der jüdischen Malerin I. R. Rabinowicz von Fritz Max Hofmann-Juan und Otto Dix´ wildes "Selbstbild als Mars" von 1915, eine, so Giebe, "Innenschau des Wahns". Von allen diesen Werken finden sich gut fotografierte, farbige Reproduktionen im Innenteil der Zeitschrift, die in ihrem literarischen Teil diesmal u. a. neue Lyrik von Wulf Kirsten und Andreas Altmann vorstellt, dazu einen tieflotenden Essay von Patrick Beck, welcher der Bedeutung der Handzeichen in frühitalienischen Fresken nachspürt, sowie ein Gespräch Axel Helbigs mit dem in Kalabrien geborenen Schweizer Schriftsteller albanischer Abstammung, Francesco Micieli, in dem es um die "Fremde als Schicksal, als Chance" geht. In der lyrischen Kolumne "Lagebesprechung" stellt Bertram Reinecke diesmal den 1985 in München geborenen Lyriker, Übersetzer und Essayisten Tobias Roth vor. Reinecke schreibt über Roth, dessen "oft aus hochkulturellen Sphären gegriffene Bilder sperren im Text, bedrängen das Gewohnte", jedoch nicht, um einen "exotistischen Hauch oder ehrwürdige Anmutung zu transportieren..."

Fremd mag manchem inzwischen das verblichene Dreibuchstabenland DDR geworden sein, in dem nicht wenige heute durch ihre Publikationen bekannte deutschsprachige Autoren erste Prägungen erfuhren. Um solche Prägungen ging es einem Germanistikseminar der Universität Rostock unter der Leitung von Holger Helbig, das sich im Januar 2016 in Rostock und im Literarischen Colloquium Berlin zu Gesprächen mit in der DDR sozialisierten Schriftstellern traf und etwa die Frage stellte, ab wann jemand und warum (oder warum nicht) ein "DDR-Schriftsteller" genannt werden sollte. Einige dieser Gespräche dokumentiert jetzt das Dezemberheft der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter: Kathrin Gerlof, Nadja Küchenmeister, Ingo Schulze und Thomas Lehr (als einziger nicht im Osten, sondern im rheinland-pfälzischen Speyer aufgewachsener Autor), standen dazu Rede und Antwort.

Ingo Schulze beantwortet die Frage, ob es so etwas wie "DDR-Literatur" überhaupt gegeben habe, kurz und salopp mit der Feststellung: "Ach, diesen Streit sollen andere führen, das ist ein Streit um des Kaisers Bart. Ich lese die, die ich lesen will, die ich brauche." Es spreche für ihn allerdings auch nichts dagegen, dass irgendwann mal jemand eine Geschichte der DDR-Literatur schreibe, nur interessiere es ihn erstens herzlich wenig, ob seine Bücher darin "als ein Nachfahre der DDR-Literatur kategorisiert werden oder nicht", und zweitens schlägt er vor, es möge dann doch bitte einer diese Geschichte schreiben, der in der Lage sei, sie "gleichberechtigt" zu sehen, ein Pole, Franzose, Italiener oder Ungar. Wichtiger erscheint ihm die Frage, warum die "Erzählung des Westens" jener vom Osten so überlegen sei. Vielleicht sei der sogenannte, vom Feuilleton ständig eingeforderte "Wende-Roman" noch gar nicht geschrieben? Denn müsste dieser, fragt Schulze weiter, nicht eigentlich davon handeln, was sich im Westen alles verändert habe: "Ich weiß noch, wie ich bei einem Buchhändler in Lahr (...) zu Besuch war. Der Buchhändler sagte mir, dass sich bei ihnen durch die Wende ja nichts verändert habe - und Lahr ging gerade den Bach runter, weil die Kanadier abgezogen waren und dafür Spätaussiedler kamen. Es änderte sich alles, weil es 89/90 gegeben hatte."

Es erweist sich als äußerst glückliche Setzung der Redaktion des Heftes, dass auf das Gespräch mit Ingo Schulze genau jenes mit Thomas Lehr folgt. Denn nur wenige Seiten weiter kann Lehr Schulzes Geschichte des Buchhändlers aus eigener Erfahrung bestätigen, wenn er sich erinnert: "Ich war im gewissen Sinne auch Westdeutscher, im persönlichen Sinne etwas borniert. Ich dachte, die Ostdeutschen kämen zu uns, wunderbar, aber für mich privat und persönlich habe sich erst einmal gar nicht viel verändert." In seinem neuen Roman, der zum Teil in Dresden verortet ist und aus dem Sprache im technischen Zeitalter ein Kapitel vorabdruckt, wird die Teilung der deutschen Länder "nur ein kurzes Interludium gewesen sein", verrät der Autor. Denn der weit größere Teil der deutschen Geschichte sei schließlich "eine gesamtdeutsche Geschichte" und die neuen Probleme, die sich Deutschland stellten, hätten mit der Wende relativ wenig zu tun.

Ob ihm Kathrin Gerlof, 1962 in Köthen / Anhalt geboren, darin zustimmen würde, bleibt fraglich. Als Kind aus einem erzkommunistischen Elternhaus, die Eltern beide Dorflehrer ("Dadurch war ich im Ort verfemt, gemobbt und ausgegrenzt"), scheint ihr die Vergangenheit längst nicht vergangen. Nach der Wende wurde Gerlof Redakteurin bei der Tageszeitung neues deutschland und sollte plötzlich über Bürgerbewegung, Auflösung der Stasi und über Westparteien schreiben: "Ich bin losgeschickt worden, weil ich einfach die Jüngste in der Redaktion war und alle davon ausgingen, dass ich noch am wenigstens verbrannt war. Dabei war ich im Kopf ganz schön verbrannt", vermerkt sie heute selbstkritisch. Anfangs wollten die Bürgerrechtler auch nicht mit ihr reden. Gerlof verstand das. Sie fing an, exzessiv die Texte der Dissidenten von damals zu lesen, heute sagt sie, sie sei "davon berührt und beschämt" gewesen. Dann erst versuchte sie es wieder: "... und irgendwann hat mir tatsächlich Bärbel Boley die Tür aufgemacht und gesagt: Gut, dann reden wir mal."

Nadja Küchenmeister, 1981 in Berlin geboren, war Anfang der Neunziger noch zu jung, um ähnlich beschämende Erfahrungen wie Kathrin Gerlof machen zu müssen. Eine Art Barthes´sches "punctum", ein Betroffensein, löse bei ihr den poetischen Reflex aus und führe sie "in die geschichtlichen Umbrüche der Nachwendezeit", so Küchenmeister. Bei ihr ist die DDR-Vergangenheit nur noch Material, das poetisiert werden will und der Raum, in dem bestimmte Dinge vorkommen, bereits "historisch" geworden: "Wenn ich heute an meine Kindheit zurückdenke, denke ich nicht an das DDR-System, sondern an mein Leben." Ihr Vater musste zum Militärdienst nach Eggesin, eine Kleinstadt im heutigen Mecklenburg-Vorpommern, zu DDR-Zeiten war der Name der Stadt der äußerst negativ konnotierte Inbegriff für den "Armeedienst" bei der NVA. Von dort schrieb er Briefe an seine Frau, Küchenmeisters Mutter. Die Tochter, inzwischen Lyrikerin, las die Briefe später; in ihrem Band Alle Lichter ist daraus ein achtteiliger Gedichtzyklus geworden, Rollengedichte, denen eine Distanz und zugleich Einfühlung in das Gewesene zugrunde liegt. Beispielsweise die Namen der Zigarettenmarken, die der Vater bei der NVA rauchte, hat Küchenmeister diesen Briefen entnommen, aber sie stellt klar: "Sie gehören zu einem Raum, den wir – meine Leser und ich – nicht mehr miteinander teilen oder auch nie miteinander geteilt haben. Mir wurde erst nach und nach klar, wie historisch der Raum geworden ist, in dem ich einst gelebt habe. Es gibt Menschen, die spüren beinahe körperlich: Da ist etwas abgesunken, für alle Zeit nicht mehr zugänglich. Zu diesen Menschen gehöre ich."

In der Kolumne "Auf Tritt Die Poesie" stellt Matthias Göritz den 1986 in Nigeria geborenen und heute in Lincoln, Nebraska lebenden Lyriker Chigozie Obioma und dessen Langgedicht "Der Weg ins Land" vor. Ein Auszug aus einem Erzählprojekt der aus Sulzbach-Rosenberg gebürtigen Monika Radl über einen kleinen Ort im westlichen Brandenburg trägt den Titel "Sonia", ein Mosaik dörfliche Lebens, das die Autorin vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart spannt.

Historisch noch weiter zurück als Sprache im technischen Zeitalter mit dem Schwerpunktthema "Die DDR in der Literatur nach 1989" reicht die neue Ausgabe der verdienstvolle Zeitschrift Sinn und Form. Sie bringt, neben manch Anderem, die Tagebuchaufzeichnungen des griechischen Lyrikers und Essayisten Giorgos Seferis aus dem Jahr 1942, die nachgelassenen Tagebücher einer unehelichen Tochter des Dramatikers Carl Sternheim, Mopsa Sternheim, und eine persönliche Erinnerung an den im Juli 2016 in Paris verstorbenen Lyriker Yves Bonnefoy aus der Feder seines deutschen Lektors Wolfgang Matz.

Die Tagebucheinträge Seferis` schildern dessen riskante und strapaziöse Flucht über den Suezkanal bis nach Jerusalem. Der 1963 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrte Dichter arbeitete im Jahr 1942 im Pressebüro der griechischen Exilregierung in Kairo. Ende Mai begann im Rahmen des "Unternehmens Theseus" die Offensive der Achsenmächte auf die Festung Tobruk, die zum weiteren Vormarsch der deutsch-italienischen Truppen bis El Alamein führte. In den Kairoer Dienststellen der Briten und ihrer Verbündeten bracht darauf hin eine Panik aus und Seferis wurde ins Büro der Exilregierung bestellt, wo man ihm mitteilte, auch er müsse weg. "Das war´s also, wieder mit dem Stock in der Hand", notierte er lakonisch.

Seferis´ Beschreibungen seiner Flucht sind von höchster erzählerischer Qualität, was man ja nicht von jedem Tagebuch sagen kann. Im Zustand "gedrückter, erschöpfter Verbitterung" machte der heute weltberühmte, 1971 verstorbene Poet sich, zusammen mit seiner Ehefrau Maro und anderen "Evakuierten", umgehend auf den Weg. Zwar sollte sich die Flucht später als übereilt erweisen (im Oktober 1942 zwang die 8. Britische Armee unter Montgomery Rommels Truppen endgültig zurück nach Tunesien und damit in die Kapitulation), aber wer wollte das im Juli 1942 so genau wissen? Als Seferis in einem Kloster in Jericho von einem Propst aus Kreta gefragt wird, woher er denn komme und ihm antwortet, aus Kairo, lacht der Geistliche schallend und entgegnet ihm: "Ah, wohl Angst gehabt." Seferis beschreibt die Menschen, denen er auf der Flucht aus dem unübersichtlichen Kairo begegnet, in knapper und präziser Sprache, in der sich Gefühle existentielle Not und wiedergewonnener (Über)lebensfreude die Waage halten. Hier die Angst vor gegnerischen Bombenangriffen und da die Morgenlaune eines Trupps alliierter Soldaten, die an einer Wasserstelle ihre nackten Oberkörper einseifen: "Ich stellte mich daneben und rasierte mich. Dann gab es Tee und Sandwiches. Es war die pure Erholung..." (5. Juli 1942)

Erwähnt sei noch Seferis´ kritischer Blick auf einen Positivismus, der für ihn letztlich zu nichts Gutem führen kann. Am 6. Juli notiert er in Jerusalem in sein Tagebuch: "Angeblich kämpfen wir um die europäische Kultur. Deutschland ist die europäische Kultur und sein Getue ist durch und durch europäisch, nämlich wissenschaftlich. Man tötet, zerstückelt und weidet uns aus nach allen Regeln der Kunst (...) An dieser Kultur gibt es nichts zu retten, besser, sie verschwindet; wenn irgend möglich, gilt es den Menschen zu retten. Das ging mir gestern im Gassengewirr des Basars durch den Kopf, und ich fühlte mein Geschick, dass das Griechentum sich immer an dem Ort befindet, wo das Pendel zwischen Griechenland und dem Orient ausschlägt, als hätte man mich hierher geschickt, um darüber zu berichten, was von diesem düster verzauberten Kosmos an die Pforten Europas gelangen soll." Nach seiner Rückkehr aus Jerusalem übernahm Seferis die Leitung des griechischen Pressebüros in Kairo, 1944 brachte ein Schiff ihn und seine Frau nach Süditalien, wo man den Abzug der deutschen Streitkräfte aus Athen und Griechenland abwartete, und am 23. Oktober 1944 kann er endlich in seinem Tagebuch vermerken: "Zu Hause".

Noch mehr am Abgrund bewegte sich das Leben der Mopsa Sternheim, einer unehelichen Tochter des Dramatikers Carl Sternheim und seiner Geliebten Thea Löwenstein. Sternheim hatte von 1924 an in Köln eine Ausbildung zur Kostüm- und Bühnenbildnerin absolviert, zuvor hatte sie an der Kunstakademie in Dresden ein Studium begonnen, litt aber schon dort an frühen Selbstzweifeln. In den 20er Jahren verkehrte sie u. a. mit Erika und Klaus Mann (die sie über Pamela Wedekind kennengelernt hatte), dem homosexuellen französischen Schriftsteller René Crevel und dem Wiener Abenteurer und Graphiker Carl Rudolf von Ripper, den sie später (Trauzeuge war ein gewisser Gottfried Benn!) heiraten sollte. In den frühen 30er Jahren schloss sich die schwer drogensüchtige Mopsa Sternheim einer Widerstandgruppe an und arbeitete u. a. mit dem kommunistischen Verleger Willi Münzenberg am Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror, das 1933 erschien. 1939 publizierte sie ihre antifaschistischen Kaltnadelradierungen unter dem Titel "Écrasez l`Infâme" (Zermalmt das Niederträchtige), ein Blatt wurde sogar im amerikanischen Time Magazine veröffentlicht. Infolge dessen wurde sie, zusammen mit von Ripper, 1941 ausgebürgert. Sie nahm Kontakt zur Resistance auf und wurde im Dezember 1943 in Frankreich von der Gestapo verhaftet. Das schwedische Rote Kreuz holte sie im April 1945 aus einem völlig überfüllten Lager und brachte sie nach Schweden. Hier setzen die in Sinn und Form abgedruckten Tagebuchaufzeichnungen ein, in denen Mopsa Sternheim das Erlittene zu verarbeiten versucht. Sternheim hat, wie der Germanist Thomas Ehrsam in seinem einführenden Beitrag anmerkt, kein abgeschlossenes Werk hinterlassen. Ihre Aufzeichnungen wirken weit inkohärenter als das über 65 Jahre diszipliniert geführte Journal ihrer Mutter Thea Sternheim: "Diese Disziplin fehlt(e) Mopsa völlig. Sie schreibt sehr unregelmäßig und benutzt, meist parallel, verschiedene Hefte."

Dem Leser begegnet ein politisches Tagebuch mit theoretischen Überlegungen zur Zeit; um Lektüren, Schöngeistiges, wie in den Aufzeichnungen ihrer Mutter, geht es hier selten. "Die Unbarmherzigkeit und Schonungslosigkeit, mit der sie sich selbst begegnet" (Thomas Ehrsam) machen die große Stärke dieses Tagebuchs aus. Persönliches kann bei ihr blitzschnell in Politisches übergehen: "Ich habe geweint. Die ersten Tränen seit Jahren. Es war Wonne, trotz meiner Tränen. Ein physisches Glück, Erlösung. Noch weinen zu können. Vielleicht finde ich auch einmal noch Anschluss an Gott. Landauers Leiche liegt zentnerschwer auf meinem Herzen, zentnerschwer wie meine Einsamkeit", notiert sie am 9. Oktober 1945. Sternheim empfindet sich als fähiger zur Passion als zur individuellen Liebe. So spricht sie in Zusammenhang mit den erlittenen Qualen in Lagern und Gefängnissen sogar von "Glück": "Vielleicht war ich deshalb in Ravensbrück SO --- glücklich. Weil ich die Möglichkeit hatte, mein `Christentum´ auszutoben und es unter einem politischen Vorwand auszutoben, ganz ´KEUSCH`!", notiert sie am 20. April 1953 etwas übermütig. Und am 12. Mai 1953: "Sonderbar, wie oft ich jetzt an Ravensbrück denke, manchmal fast mit Sehnsucht." Ein fast unerhörter Ton ist hier angeschlagen, der an einen anderen unerbittlichen Erzähler erinnert, der "die fertigen Begriffe nicht akzeptiert", an den Ungarn Imre Kertész und seinen Roman eines Schicksallosen. Freilich, um zu einem echten Werk zu gelangen, haderte Sternheim zu sehr mit sich selbst. Es gelang ihr nicht, zwischen sich und dem zu Erzählenden jene Distanz zu schaffen, die nötig ist, um das eigene Leiden erzählbar zu machen. Doch ihre Aufzeichnungen berühren aufgrund ihrer Konsequenz. Der Plan zu ihrem Roman taucht nur skizzenartig im Tagebuch auf. Das Manuskript gilt als verschollen. Am 11. September 1954 ist Mopsa Sternheim an den Folgen eines Krebsleidens in Paris verstorben.

Verstorben ist am 1. Juli 2016, im Alter von 93 Jahren auch der französische Dichter Yves Bonnefoy. Frankreichs Staatschef François Hollande würdigte ihn als einen "Zauberer des Wortes". Zwölf Jahre bis zu seiner Emeritierung 1993 wirkte Bonnefoy als Professor am berühmten Collège de France in Paris, er war ein Freund der Künstler – nicht zuletzt eine reich illustrierte Monographie über Alberto Giacometti (Deutsch im Benteli-Verlag in Bern) zeugt davon –, ein bedeutender Übersetzer (u. a. von Yeats, Leopardi, Petrarca und Shakespeare) und, hierzulande, wohl auch ein viel zu wenig gelesener Dichter. In Sinn und Form erinnert sein deutscher Lektor Wolfgang Matz an den 1923 in Tours geborenen Lyriker und berichtet von dessen Arbeit an zwei Manuskripten, dem Prosaband Der rote Schal und einem Band mit Gedichten aus den letzten Lebensjahren des Autors. Matz: "Bonnefoys tiefste Überzeugung war es (...), die Sprache der Poesie müsse zurückgehen hinter die durch Begriffe, Logik, Abstraktion instrumentalisierte Sprache der rationalen Verständigung, müsse also etwas von dem bewahren, oder besser: sich wieder aneignen, was die gleichsam adamitische Sprache der Kindheit ist."

Weitere Beiträge im neuen Heft von Sinn und Form widmen sich der Poésie noire des afrokaribisch-französischen Schriftstellers Aimé Césaire sowie den "Afrikanischen Literaturen", auf die der in Santa Monica lebende frankophone kongolesische Autor Alain Mabanckou ein Schlaglicht wirft oder kreisen um "Die Wohnung in ihrer psychischen und sozialen Funktion", so der Titel eines Aufsatzes der 1942 samt Mann, Sohn und Mutter im Lemberger Ghetto erschossenen Schriftstellerin Debora Vogel, die dank einer Publikation des Düsseldorfer Arco-Verlages (Die Geometrie des Verzichts – Gedichte, Montagen, Essays, Briefe) gerade wieder aus dem Schatten ihres großen Zeitgenossen Bruno Schulz hervorzutreten beginnt. Jan Kuhlbrodt hat, für den famosen Blog "signaturen", bereits kenntnisreich über die Balladen Deborah Vogels und deren "Gedankenräume" geschrieben (http://signaturen-magazin.de/debora-vogel--die-geometrie-des-verzichts.html). In Sinn und Form gibt nun, nicht minder erhellend, die in Bern lebende Germanistin Anna Maja Misiak einen Einblick in Leben und Wirken von Debora Vogel. Misiak ist auch Übersetzerin des im Heft publizierten Essays und als Herausgeberin des im Arco-Verlag erschienenen Buches verantwortlich.

Endlich sei es zugegeben: diese Ausgabe der Zeitschriften-Umschau vertraut auf langjährige Erfahrung im edieren. Es sind Projekte mit wahrlich langem Atem, denen ein wenig gehuldigt, auf deren neueste Streiche hier hingewiesen sein soll: die Sprache im technischen Zeitalter (Kenner sagen kurz: Spritz) ist im 54. Jahr, die Sinn und Form sogar im 69. Jahr angekommen; beinahe wie ein Frischling nimmt sich dagegen Ostragehege mit seinen 22 Jahren aus!

Bis zu Heft 214 haben es, nach 56 Jahren, die unverwüstlichen Grazer manuskripte gebracht. Im neuen Heft wird mit einer "Marginalie" erst einmal Elfriede Jelinek artig zum Geburtstag gratuliert, mit 42 manuskripte-Beiträgen zähle sie zu den "fleißigsten Dichtern". Auszüge aus zu erwartenden Romanen finden sich u. a. von Roman Kaiser-Mühlecker und Leopold Federmair. Von den beitragenden Dichtern sei der in einem palästinensischen Flüchtlingslager nahe Damaskus aufgewachsene Ghayath Almadhoun erwähnt, dessen kraftvolles Langgedicht "Die Hauptstadt" für das Projekt City Book Antwerpen entstanden ist. In schwingenden Langzeilen folgt es dem Blut eines Diamanten von Zentralafrika bis nach Europa: "Es ist ein Blutdiamant, der hinter weiß / beleuchteten Schaufensterscheiben glitzert. Sein Funkeln spiegelt die Schatten eines / schwarzen Mannes wieder, der ihn in Kinshasa fand und tot aufgefunden wurde, ermordet / durch die Kugel eines Freundes, damit eine Frau aus Montreal einen Ring mit einem in Tel / Aviv geschliffenen Diamanten tragen kann, den ihr ihr in Buenos Aires geborener Ehemann / geschenkt hat, auf einer Reise in die Wüste von Arizona, damit sie ihm seinen Ehebruch mit / ihrer südafrikanischen Freundin verzeiht, als er sein Geld in Dubai wusch..." Weitere Gedichte in dieser Ausgabe stammen u. a. von Daniel Jurjew, Mario Oppelmayer, Andreas Altmann und Claudiu Komartin.

Die Französin Catherine Bédarida erzählt in ihrem Text "Zwischen" die Geschichte eines Mannes, der sich auf die Spuren seines Vaters begibt, welcher zu jenen Deutschen gehörte, die sich in den letzten Jahren des zweiten Weltkrieges in Frankreich der Résistance anschlossen und im Maquis gegen die deutschen Besatzer kämpften. Der 75jährig möchte die Überlebenden treffen, "die Kinder der Frauen, die seinem Vater und dessen Kameraden geholfen haben." Schon mit 60 hat er die Entscheidung getroffen, diese Reise zu machen, und jetzt, da es soweit ist, notiert er: "Bevor ich völlig den Verstand verliere, sammle ich Zeichnungen, Bruchstücke, Notizen, die ich im Laufe dieses Sommers zusammengetragen habe." Stein will diese Materialien in einem Blog der ehemaligen Mitglieder des Maquis posten, damit das Wissen um die Geschichte nicht verloren geht. Der Text beginnt mit einer weiblichen Person namens Kass, es ist Sommer, Kass sitzt auf einem weißen Plastikstuhl, raucht und unter ihr "läuft die Cevenne über vor Lebenswasser." Diese kurze Erzählung der als Journalistin und Autorin in Paris und in den Cevennen lebenden Bédarida feiert das Leben ganz ohne Geschichtsvergessenheit – und wie! Dazu führt die Autorin noch eine dritte Figur ein, die junge Reisende Sébastienne, die einen gesunden Schlaf hat und schöne Träume. In einem kommt ein Vogel vor, der vom Süden bis in den Norden fliegt und so wunderliche Sätze sagt wie diesen: "Euer Norden erlischt, seit Ihr den Gesang der Vögel in die Klingeltöne Eurer Handys eingesperrt habt." Die Wege der drei Figuren kreuzen im Laufe der Geschichte einander, Kass trifft auf Stein und der begibt sich manchmal zusammen mit Sébastienne auf seine Spurensuche. Zu dritt teilen sie sich ein Glas Whiskey. Bédarida erzählt nicht alles aus, sie lässt Zwischenräume für die Phantasie des Lesers. Eine Kurzprosa von großem Zauber (ins Deutsche übertragen von Gundula Schiffer), deren Originalfassung man online unter www.tierslivre.net/revue/spip.php?article98 nachlesen kann.

Die Klingeltöne der Handys gehen auch Walter Kappacher auf den Nerv, der sich fragt, "wie sich heute ein natürlicher Verstand bei den jungen Menschen ausbilden könnte, die keine Minute das, was sie vielleicht sehen und erleben, reflektieren können. In der einen Hand ein Telefon und in der anderen Hand einen iPod; und zuhause warten die Computer-Spiele, das Fernsehen, die Musikvideos usw." Kappacher gibt sich u. a. als begeisterter Leser der Bücher von Emil Cioran zu erkennen, und manchmal teilt er – sei es, dass er sich dazu auf Kant bezieht – mit dem rumänischen Philosophen und an Nietzsche geschultem  Kulturkritiker dessen heiligen Zorn: "Kant´scher Imperativ: Das unausgesprochene Abkommen zwischen den Menschen heutzutage: Behellige mich ruhig, stinke nach zwei Wochen altem Schweiß, blase mir deinen Zigaretten-Qualm ins Gesicht, lasse mich teilnehmen an deinem unerträglichem Telefon-Gequatsche in Zügen, Bussen, Obussen, Lokalen usw." Kappacher verhehlt nicht, dass er es in solchen und ähnlichen Situationen lieber mit Melvilles Schreiber Bartleby hält ("Ich möchte lieber nicht"), dass er das Maßhalten ("Ausdruck einer alten Kultur") schätzt und im übrigen nur darüber staunen kann, wie ein ehemaliges KPD-Mitglied  wie der Komponist Hans Werner Henze sich im Laufe der Zeit zu einem Snob mit Spazierstock, Seidenhemd und Einstecktuch entwickelt. Die Aufzeichnungen des Büchner-Preisträgers von 2009 sind unter dem Titel "Ein langer Brief nach Graz – oder Notizen und Fundstücke" im neuen manuskripte-Heft abgedruckt.

Eine Art Farbenlehre sind Andreas Unterwegers September-Notizen, dreißig Zweizeiler, jeweils von einer Strichlinie getrennt und "Das Gelbe vom Jahr IX" betitelt. Möglicherweise handelt es sich hierbei um den Vorabdruck einer Fortsetzung von Unterwegers Sammlungen Das kostbarste aller Geschenke. Notizen (Droschl-Verlag, 2013) und Das Gelbe Buch (Droschl-Verlag, 2015). Das ist Sprache, die den Leser anfliegt, ohne Mühe. Man (oder das lyrische Ich) schläft mit einer Zeile von Thomas Kling ein und wacht mit einer von Joseph von Eichendorff wieder auf. Die Sinne in dieser aufs Äußerste verknappten lyrischen Prosa sind scharf gestellt, ein Kind, wohl die Tochter des Autors, gesellt sich dem Schreibenden, auf der Suche nach dem Gelb, hinzu; und manchmal ist´s auch ein Rosa oder Blau.

Fazit am Schluss dieser Zeitschriften-Umschau: die alten Damen unter den Zeitschriften (sagen wir so, denn nur eine, das Ostragehege, ist sächlich) sind erfrischend lebendig! Der Autor dieser Zeilen hat jetzt genug gelesen und wird sich zur Erholung eine Platte auflegen, vielleicht mal wieder "Das Weiße Album" der Beatles, dem der 1978 in Wien geborene Johannes Wally in den manuskripten eine schöne Erzählung gewidmet hat. Wer wissen will, worum es darin geht und was die geheimnisvolle Nummer 0000123 auf dem Plattencover bedeutet, wird sich das Heft aus Graz schicken lassen oder es bei seinem Buchhändler des Vertrauens bestellen müssen.