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Parole Text:Buch • Der Ausbruch• Albertine Sarrazin • Lesung einer abgründigen Geschichte aus dem Knast • Mit Marie Rosa Tietjen

Donnerstag, 09. Mai 2024

20:00 UHR

Credit: Albertina Sarrazin

Veranstaltungsort

Roter Salon

Rosa-Luxemburg-Platz
10178 Berlin-Mitte
Tel.: 03024065777
besucherservice(at)volksbuehne-berlin.de

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Eintritt: Normalpreis 8,00 € ; ermässigt (Schüler, Stud./AL) 5,00 €

Details

Eine Lesung über den klitzekleinen Provinzlangfinger Anick, die kleine Königin der schreibenden Außenseiter.

„Jetzt hören Sie den nächsten Teil meiner Fortsetzungsgeschichte: Heute habe ich den Bau gewechselt. Machen wir uns daran, mit abgespreiztem kleinem Finger diese neue Scheibe des Daseins anzuknabbern. Eine Scheibe Halb-Leben, das ich mir diesmal unbedingt schmackhaft machen muss; ohne zuzulassen, dass mir jemand seinen Dreck draufschmiert.

Anders gesagt, ich bin wie der Vogel auf dem Ast. Ich habe nicht vor, hier länger als ein Vierteljahr zu verfaulen. Ich will hier weg, ich habe aus dem Knast alles rausgeholt, was sich rausholen ließ. Beim Versuch, den Knast auszuschöpfen, werde ich eher mich erschöpfen. Er gehört zu den Dingen, die man von vorn bis hinten durchquert zu haben meint und die sich als Kreis erweisen: Am anderen Ende bin ich wieder beim Anfang.

An den kalten Heizkörper gelehnt, beobachte ich den Zirkus. Meistens bin ich mittendrin und merke es nicht; aber von hier ist es ein ziemlich seltsamer Anblick. Was für ein Zirkus! Und obwohl mir das Leben auf jeder Ebene wie ein Zirkus vorkommt, ziehe ich das Pokerspiel vor: Ich spiele, egal, ob ich eine gute oder schlechte Spielerin oder einfach nur Spielerin bin, auf jeden Fall spiele ich auf Niederlage.

Ich kann nichts dafür, ich bin kalt wie Eis am Stiel.“ (Albertine Sarrazin)

 

Albertine Sarrazin:
Ihr kurzes, wildes Leben lieferte ihr den Stoff für drei Bestsellerromane, mit denen sie die weibliche Variante der sonst männlich geprägten Literaturgattung Knast- und Kriminellenroman schuf.

Albertine wurde mit 18 Monaten von einem ältlichen französischen Ehepaar adoptiert, mit zehn Jahren von einem Unbekannten vergewaltigt und von den Eltern in eine Erziehungsanstalt gesteckt. Den Freigang am Tag der mündlichen Abiturprüfung nutzte sie, um zu entkommen, trampte nach Paris und schlug sich als Prostituierte und Diebin durch, bis sie Emilienne, ihre Geliebte aus der Anstalt, wiedertraf. Gemeinsam verübten die jungen Frauen einen bewaffneten Raubüberfall auf eine Boutique. Albertine wurde zu 7 Jahren Jugendgefängnis verurteilt, mit knapp 19 gelang ihr aber die Flucht durch einen Sprung von der Gefängnismauer, wobei sie sich den Fußknöchel (Astragal) brach. Schwer verletzt, wurde sie von einem Mann aufgelesen – Julien Sarrazin, ebenfalls ein entlaufener Häftling, wurde zunächst ihr Freund, dann ihr Geliebter, später ihr Ehemann. Ihre acht Ehejahre verbrachten sie allerdings mehr innerhalb als außerhalb des Gefängnisses, immer wieder verhaftet wegen Diebstählen und Hehlereien. Fast täglich schrieben sie sich, besuchten einander so oft wie möglich und träumten von einer gemeinsamen Zukunft in Freiheit.

Im Gefängnis begann Albertine, unterstützt von einer Psychiaterin, ihre Erinnerungen und Beobachtungen des Gefängnisalltags niederzuschreiben. Ab August 1964, sie und Julien waren endlich frei, formulierte sie aus diesen Notizen ihre ersten Romane – L’Astragale und La Cavale (dt. Kassiber), die – mit Fürsprache von Simone de Beauvoir – 1965 erschienen und zu einer literarischen Sensation wurden. Interviews, Fernsehauftritte, Signierstunden, ein Literaturpreis, Übersetzungen in 16 Sprachen folgten.

Im Januar 1965 kaufte das Ehepaar ein Landhaus in den Cevennen und Albertine stellte ihren 3. Roman La Traversière (dt. Stufen) fertig.

Albertine Sarrazin starb, erst 29 Jahre alt, nach einer Nierenoperation.

(verfasst von Andrea Schweers)

Veranstalter