Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriften-Umschau

Nicole Henneberg
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Nicole Henneberg

Nicole Henneberg, geboren 1955 in Hof/Saale, Studium der Komparatistik und Philosophie in Berlin und Paris, schreibt als freie Autorin und Literaturkritikerin, u. a. für die FAZ. Außerdem verfasste sie mit Fred Oberhauser den Literarischen Führer Berlin. Herausgeberin der Werke Gabriele Tergits im Schöffling Verlag, der bisher unveröffentlichte Roman So war’s eben ist gerade erschienen.

Zeitschriften-Umschau

Nicole Henneberg

die horen, Heft 281

„Alle Gebiete in einer Krise“ - der Titel dieses opulenten Heftes könnte irreführender nicht sein: Überfülle und blühendes Leben auf allen Seiten!

Als Auftakt ein melancholisch-nachdenklicher Text von Barbara Köhler über das prekäre Verhältnis des Einzelnen zu den Vielen, das eine Demokratie im Innersten zusammenhält („Grundrecht“), an dem sie bis kurz vor ihrem Tod arbeitete. Verunsichert, wütend und ohne Antwort bleiben die Performer, Lyriker, Erzähler, die ihres Publikums durch die Pandemie beraubt wurden und jetzt Selbstgespräche führen, in denen sie mit Brechts Postulat eines „Theaters ohne Publikum“ (Sebastian Kirsch) hadern. Das coole lyrische Ich in Mara Genschels Sieben frei erzählte Lesungen für kleines Geld mokiert sich über Songs räubernde Notebooks, während Hans Test (Hans Thill) mit einer monströsen Janis Joplin ringt. „Folgen Sie der Schönheit der Sätze, suchen Sie das Missverständnis!“  ruft er den Zuschauern zu. Thomas Böhm fragt klug nach den Kriterien einer gelungenen Lesung, die Christiane Neudecker ausgerechnet in einem Studio mit ausgefallenem Ton erlebt.

Teil zwei ist Joseph Beuys gewidmet, der auf seiner ersten documenta 1972 mehr Publikum hatte, als er verkraften konnte, und auch die obligate Anglerweste schützte ihn nicht, wie Georg Klein beschreibt. Beuys‘ Versehrtheit zeigte sich schon bei der allerersten Fluxus-Ausstellung 1963, auf dem Hof der Familie van der Grinten. Abschließend ein gewichtiges Übersetzungskapitel zum Werk von Charles Olson (ein Projekt von Esther Kinsky), den Walter Höllerer 1966 nach Berlin einlud, weil er Olsons Gedichte und Theorien zum Wichtigsten zählte, was damals auf diesem Gebiet geschrieben wurde. Zuletzt noch ein leuchtendes Fundstück: die surreale, schmerzhaft realistische Erzählung Verfasser von Soldatengeschichten des ägyptischen Autors Wagdy el-Komy.


Sprache im technischen Zeitalter, Zeitmitschriften 1 und 2 / Bände 238 / 239

Im Berliner Schicksalsjahr 1961 erschien die erste Nummer der SpritZ, und seither ist sie Diskussionsforum und Bühne der neuesten Literatur und Theorie. Spannend und auf der Höhe der Diskurse war sie von jeher, doch die beiden Jubiläumsbände gehören zum Besten auf dem Zeitschriftenmarkt! Drei Autorengenerationen haben ihren Auftritt, vom Grandseigneur Jürgen Becker (Rückblick mit 56 Namen) über Michael Krüger, der eine frühe Liebesgeschichte erzählt – ihren Ort hatte sie im Haus Am Sandwerder 5, damals unbewohnt und eine „Lagerstätte für undurchsichtige Materialien“. Eine treffende Bezeichnung, denn Berlin war damals ein Dschungel, dessen sonderbare, krude Leuchtkraft László F. Földényi lustvoll beschreibt. Da kommt der Fuchs der Poesie ins Spiel, der sich, von Uwe Kolbe heimlich beobachtet, von der Straße in den Kopf des Dichters schleicht – dokumentiert in dem frühen LCB-Bändchen über Ted Hughes. Ursula Krechel berichtet von den anarchischen Auftritten der Kommune 1 in der Wohnung Uwe Johnsons in Friedenau, Thomas Lehr lernt das Schreiben mit den bekannten eindrucksvollen Folgen und Sibylle Lewitscharoff erklärt, warum das damals geschätzte „Superaffentittengeil“ eines ihrer Lieblingsworte ist.

Auch die besten Autoren der nächsten Generation band das LCB freundschaftlich an sich, Kathrin Röggla sucht den Beat in der neueren Literatur, Ingo Schulze zeichnet ein Porträt des queeren „Rosi“ beim Militär, Ulf Stolterfoht listet die coolsten Episoden der „Knappschaftskriege“ auf und Lutz Seiler erzählt von seiner Zeit im „Fremdenheim Storost“, wo ihm die fünf entscheidenden Zeilen seines Lebens gelingen (Marokko).

Die jüngsten Autorinnen und Autoren heißen Shida Bazyar und Alexandru Bulucz, Ann Cotten, Anja Kampmann und Nadja Küchenmeister, die den großartigen Band mit einer Gedichtcollage beschließt: „Wenn der Erzähler von der Bühne tritt, geht die / Geschichte weiter / Die Wirklichkeit macht immer mit.“ (Jürgen Becker)


Text & Kritik, Loriot / Heft 230

Was für eine gute Idee, Loriot ein solches Heft zu widmen – den Platz im literarischen Kanon hätte er längst verdient. In ihrem aufschlussreichen Editorial beziehen sich die Herausgeberinnen Anna Bers und Claudia Hillebrandt auf Wolfgang Hildesheimers Attacke 1973 im Spiegel, in der er Loriot Parteinahme für ein Publikum unterstellte, „das mit ihm alles verdrängt, was sticht, verletzt und schmerzt.“ Heute würdigt man den anarchischen Humor Loriots und sein subtiles, böses Spiel mit Spießigkeiten aller Art. Dem trägt das Heft durchaus Rechnung mit höchst spannenden Themen wie Lachen nach dem Luftschutzkeller (Christoph Classen) oder Von Schwänen und Fahrplänen über Loriots ironische Opernliebe (Claudia Hillebrandt). Doch bleibt nach der Lektüre ein Unbehagen: Loriots Texte unterlaufen die germanistischen Ordnungsbemühungen, scheinen sie subversiv umzukehren. Mit dem braven germanistischen Besteck ist der „preußischen Hemmungslosigkeit“ Vicco von Bülows wohl nicht beizukommen.


Neue Rundschau, Braucht Demokratie Helden? / Heft 1, 2021

Eine der ältesten Kulturzeitschriften Europas, die 1892 noch „Freie Bühne für den Entwicklungskampf der Zeit“ hieß – das wäre kein schlechter Titel für das aktuelle Heft! Braucht Demokratie Helden?, das ist sein Schwerpunkt, ein brillanter Briefwechsel zwischen den Kultursoziologen Ulrich Bröckling und dem Schweizer Dieter Thomä. Ließe sich das Image der Demokratie als schwieriger Regierungsform verbessern, wenn man die Rolle von Helden stärken würde? Könnten deren Energie, Einfallsreichtum, Entschlossenheit und kreativer Eigensinn der oft ungeliebten Regierungsform neuen Glanz verleihen?

Ja, sagt Dieter Thomä, der dabei zuerst an die Frauen- und Bürgerrechtsbewegung denkt, an Heldinnen wie Rosa Parks.

Nein, sagt Ulrich Bröckling, der alle Heroisierungen verdächtig findet und auf die Propagandaanalysen von Th. W. Adorno und Leo Löwenthal verweist, deren Kern das Bild des „großen, kleinen Mannes“ bildet, das sich aus autoritärer Mythologie und Selbstermächtigungs-Phantasie speist.

Ein Held der besonderen Art war in Deutschland der „Käfer“, 1939 Stolz der KdF-Bewegung, im Krieg als „Kübelwagen“ ein verlässlicher Kamerad, nach dem Krieg lustiger Welteroberer und Transportmittel des „Wunders einer Wiederauferstehung“ – im Gepäck grauenvolle antisemitische Witze (Natalie Scholz).

Mit einer Lichtgestalt, der Komponistin Adriana Hölsky, endet dieses lesenswerte Heft. Schriftsteller und Musiker Michael Lentz schreibt begeistert, ihre Musik der multiperspektivischen Klangräume sei „schlicht souverän“.