Hier finden Sie kurze Profile und die Inhaltsverzeichnisse wichtiger deutschsprachiger Literaturzeitschriften seit Januar 2015. Autoren und Beiträge sind mit unserem Autorenlexikon und der Deutschen Nationalbibliothek verlinkt. Quartalsweise bieten Literaturkritiker eine Umschau aktueller Ausgaben.

Die Rubrik ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Literaturfonds und des LCB. 

Zeitschriftenumschau

Alexandru Bulucz
Copyright: A. P. Englert

Alexandru Bulucz

Alexandru Bulucz, geboren 1987 im rumänischen Alba Iulia, wo er seine ersten 13 Jahre verbrachte, studierte Germanistik und Komparatistik in Frankfurt am Main. Er ist Lyriker, Herausgeber, Übersetzer und Kritiker. Sein Lyrikdebüt „Aus sein auf uns“ erschien 2016. 2019 erhielt er für Gedichte aus „was Petersilie über die Seele weiß“ (in Vorbereitung: Frankfurt am Main, Schöffling & Co., 2020) den Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis.

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Da liegen sie nun, die vier Zeitschriften. Zerlesen, mit Unterstreichungen versehen, mal von Bleistiften, mal von Kugelschreibern. Jede, für sich genommen, profilstark, mit sogenannten Alleinstellungsmerkmalen. Die jüngste ist 10 (Gegenstrophe), die älteste sage und schreibe 536 Nummern (Literatur und Kritik) alt. Dazwischen: 93 (Schreibheft) und 222 Nummern (Text+Kritik). Kathrin Dittmer ist die einzige Herausgeberin im Kreis der insgesamt sieben, die gegenwärtig diese vier Zeitschriften herausgeben. Mit Michael Braun und Martin Rector gibt sie die „Gegenstrophe“ heraus; Norbert Wehr – das „Schreibheft“, wobei er die Arbeit an den Dossiers an „Zusammensteller“ delegiert; Karl-Markus Gauß und Arno Kleibel – „Literatur und Kritik“; Jan Wilm dient gewissermaßen auch als ein „Zusammensteller“, wird von der „Text+Kritik“-Redaktion als „Gastherausgeber“ tituliert. Somit wären sie alle genannt, die Selbstausbeuter, deren herausgeberischer und schriftstellerischer Produktionsaufwand in keinem vermittelbaren Verhältnis zum finanziellen Mehrwert steht, den ihre Geisteskinder de facto für sie abwerfen. Weiß der Henker, wie eine Vierfachbesprechung auszusehen hat, wollte sie partout keine Kurzzusammenfassungen der jeweiligen Beiträge aus den jeweiligen Zeitschriftennummern aneinanderreihen? Vielleicht so:

Literaturzeitschriften sind Dienstleistungen, solche für die akademischen Publika, für Agenten und Scouts, für Literaturinteressierte. Irgendwo zwischen Zeitung und Buch anzusiedeln. Denn ihre Halbwertszeit ist länger als die von Tages- und Wochenzeitungen und kürzer als die von Büchern. Mit Ausnahmen: Vom „Schreibheft“ ließe sich durchaus behaupten, dass seine Halbwertszeit länger ist als die von Büchern, zumal es gar nicht erst mit dem „klassischen“ Buchmarkt konkurriert, häufig Übersehenes, am Rand des Literaturfeldes Stehendes präsentiert, so wie in der aktuellen Ausgabe, in der ein ganzes Dossier einem Buch gewidmet ist, das auf Französisch erschien, gemeinhin als „schwierig“ gilt und, weil die Freigabe des Autors noch aussteht, nicht in deutscher Übersetzung vorliegt. Die aktuelle „Schreibheft“-Ausgabe ist somit ein Titel, zu dem deutschsprachige Leser und Leserinnen¹ immer wieder greifen müssten, wollten sie sich über das legendenumwobene Buch und seinen eigenwilligen Autor informieren.

Für unbekannte Autoren sind Literaturzeitschriften oft der erste Schritt hin zur Buchpublikation. Für Verleger und Literaturkritiker sowie -wissenschaftler sind sie Seismografen, die aktuelle Entwicklungen in verschiedenen Literaturszenen aufzeichnen und sichtbar machen. Für einen arrivierten Autor ist „Text+Kritik“ der fast sichere Eingang in die Wissenschaft und in den literarischen Gegenwartskanon, eine Art Auszeichnung, die den renommiertesten Literaturpreis im deutschsprachigen Raum wahrscheinlicher macht. Auf den Covern der Nummern dieser von Heinz Ludwig Arnold begründeten „Zeitschrift für Literatur“ darf sich der Autor nach bestem Wissen und Gewissen fotografisch inszenieren lassen und den Umstand zelebrieren, dass ausnahmslos alle Beiträge der Ausgabe seinem Werk und Wirken gelten.

Die Umschlagabbildung in Schwarzweiß der sich Michael Lentz widmenden Ausgabe von „Text+Kritik“ stammt von Isolde Ohlbaum. Alles stimmt. Lentz ist fotogen und gutaussehend, inszeniert nicht nur sich, sondern auch die Manschettenknöpfe und den Kragen seines Hemdes sowie den Ring am kleinen Finger seiner rechten Hand ziemlich gut. Aber dafür, dass er sich, wie es scheint, hinter dem linken Ohr kratzt, ist seine Armhaltung recht komisch. Diskreter wäre gewesen, den Kopf ein wenig nach rechts zu neigen und sich von unten mit den Fingern der linken Hand hinters Ohr zu schleichen, anstatt mit dem erhobenen Ellenbogen des rechten Arms den ganzen Weg über den Hinterkopf zu gehen. Nun ja, auch sie, die Autoren, sind nur Über-Ichs ihrer Zunft und wollen sich gut verkaufen. Wie dem auch sei.

Für ehrgeizige Herausgeber sind Literaturzeitschriften Bestandsaufnahmen. Etwa für den Mitherausgeber der „Gegenstrophe“, Martin Rector. 15 Seiten widmet er der sogenannten „Recherche“ der „Lyrikveröffentlichungen 2018“. Als ob er die Analyse des Buchmarktes, die Walter Benjamin vor nunmehr neunzig Jahren vorbrachte, internalisiert hätte und darauf zu reagieren versuchte: „[Die] Wichtigkeit [der Bibliographie steigt] mit dem Steigen der Buchproduktion. Nun gibt es Weniges, was für die kritische Lage der Wissenschaft so durchaus charakteristisch ist wie der Umstand, daß dieser steigenden Wichtigkeit der Bibliographie ihre sinkende Beachtung seit Jahren parallel geht.“ Die bibliografische „Recherche“ der „Gegenstrophe“ ist in der Tat ein Alleinstellungsmerkmal – und ein nützliches obendrauf.

Oder: Literaturzeitschriften sind Organe zur Dokumentation: eines Literaturstreits zum Beispiel oder von Dankesreden. Letztere sind interessanter als Laudationes, weil die bepreisten Dankesredner eine spezielle Narrenfreiheit genießen und nicht so sehr an Konventionen gebunden sind wie die Laudatoren und weil autorschaftliche Selbstaussagen und -inszenierungen zu einer Fundgrube für die Literaturwissenschaft geworden sind. Dass aber auch „andersgeartete“ Dankesreden vom Betrieb stark sanktioniert werden, bewiesen zuletzt die Reaktionen auf Saša Stanišićs in den Angriff auf Peter Handke, den Nobelpreisträger des Jahres 2019, übergegangene Dankesrede anlässlich der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2019. Er hat sozusagen gegen die ungeschriebenen Gesetze des Betriebes verstoßen, Gepflogenheiten ignoriert.

Bedauerlicherweise dienen Literaturzeitschriften auch der Dokumentation von Laudationes: Wo sollten sie untergebracht, archiviert werden? – Diese Frage ist berechtigt. In Zeitungen wären sie aufgrund ihres häufigen 08/15- und glücklicherweise schnell vergänglichen Charakters besser aufgehoben. Denn mehr als alles andere sind sie standardmäßig nach immergleichen Mustern ablaufende Rituale – nach dem Motto „De mortuis nil nisi bene“/ „Über Tote soll man nur Gutes reden“. Allein, die Bepreisten sind meistens anwesend und demnach noch am Leben, nur selten finden postume Auszeichnungen statt. Immun gegen Kritik sollte keiner sein. Aber die Angst davor, als Laudator aufrichtig zu laudieren – und Anerkennung schließt Kritik keineswegs aus – und den Bepreisten oder die Geldgeber dadurch zu indignieren, einen ganzen Preis aufs Spiel zu setzen und am Ende gar sich selbst zu schaden, ist zu groß.

Gleich drei der vier Zeitschriften drucken Laudationes ab: die „Gegenstrophe“ eine von Frieder von Ammon auf Norbert Hummelt (Hölty-Preis 2018), das „Schreibheft“ eine von Ulf Stolterfoht auf Eugene Ostashevsky, Monika Rinck und Uljana Wolf (Preis der Stadt Münster für internationale Poesie 2019), „Literatur und Kritik“ eine von Andreas Breitenstein auf Dževad Karahasan (Jeanette Schocken-Preis 2019). Alle drei gehen in der Tat, freilich ohne offensichtliche Kritikpunkte vorzutragen, über das Standardmäßige hinaus. Zweimal entschuldigt sich Ammon mehr oder weniger implizit für das Unübliche: „was ich jetzt tun werde, ist nicht üblich, […] ich werde es dennoch tun: Ich werde meine Laudatio auf Norbert Hummelt damit beginnen, dass ich ein Gedicht zitiere, dass nicht von ihm, dem heute zu Ehrenden stammt, und auch nicht von Ludwig Christoph Heinrich Hölty, in dessen Namen er geehrt wird, sondern von einem Dichter der in keiner besonderen Verbindung zum einen wie zum anderen steht“. Breitenstein ist kreativ und denkt sich für Karahasan ein „Alphabet“ aus. Er beginnt mit „A wie Authentizität“, macht weiter mit „B wie Bosnien auf dem Balkan“ und hört auf mit – was Wunder?! – „Z wie Zueignung“, einzig R, X und Y dabei überspringend. In Stolterfoht hat das bepreiste Trio den begabtesten Laudator gefunden, den sich einer wünschen könnte: seine Meisterschaft in der Dichtung, sein Überblick über die Lyrikproduktion, sein Interesse an Fachsprachen, Übersetzung und Mehrsprachigkeit prädestinieren ihn für die Aufgabe des Laudators, verbinden ihm mit dem bepreisten Trio.

Weniger poetologische Selbstähnlichkeit wäre unter Umständen allerdings spannender und produktiver gewesen in einer Situation, in der es gilt, über das Andere des Anderen zu sprechen, einen Distinktionsgewinn anzustreben. Das allerbeste wäre gewesen, eine Poetologie gehörte gar nicht erst zum Repertoire des Laudators. Warum das nächste Mal nicht einfach denjenigen, der – sagen wir – an einem Dienstag um 9:01 Uhr als erster Kunde – sagen wir – in der Friedrichstraße „Dussmann das KulturKaufhaus“ betritt, fragen, ob er für eine entsprechende Aufwandsentschädigung nicht eine Laudatio auf irgendeinen Preisträger halten würde? Die Bücher des Bepreisten dürfte er kostenlos mitnehmen. Oder einen Bücherdieb, der sich an einem Montag beim Klauen eines Gedichtbandes, sei es auch ein Klassiker, erwischen lässt!

Drei der Zeitschriften tragen gewissermaßen einen Oppositions- und Erwiderungsmarker im Titel: „Gegen-“, „…+Kritik“, „… und Kritik“. Wie gehen sie damit um? Was ist ihr implizites oder explizites Selbstverständnis? Zwei von ihnen werden ihrem Namen gerecht:

In seinem Aufsatz „Zur Kritik der Lyrikkritik“ unterzieht der 2018 mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnete Mitherausgeber der „Gegenstrophe“, Michael Braun, Christian Metzens vier Einzelstudien aus „Poetisch denken. Die Lyrik der Gegenwart“ einer kritischen Analyse. Seine Argumentationen zielen unter anderem darauf, zu zeigen, warum Metzens „Fokussierung auf diese vier Autoren“ – Monika Rinck, Jan Wagner, Ann Cotten und Steffen Popp – „genauso anfechtbar“ ist „wie viele weitere Grundannahmen“. Braun, der über Jahrzehnte hinweg wie kein anderer eine lyrikkritisch gerechte Sprache für poetische Verfahrensweisen entwickeln konnte, kann in der Tat Metzens behauptete Zäsuren in der neueren Lyrik dekonstruieren.

Von der „Kritik“ macht „Literatur und Kritik“ wohl am meisten Gebrauch. Über ein Drittel des Heftes ist Buchkritiken vorbehalten. Das ist unerhört! Den das Heft eröffnenden sogenannten „Kulturbriefen“, auf über zwanzig Seiten, geht schließlich ein ganz spezifischer Begriff der Kritik voraus: nämlich Kritik als Empörung. In seinem äußerst sympathischen „Bericht von der Lesereise“, der mit einer Zugverspätung an einem Bahnsteig in Halle an der Saale beginnt, empört sich der Mitherausgeber Karl-Markus Gauß zum Beispiel darüber, dass er von den anderen Zugreisenden „kaum ein Wort der Empörung“ hört angesichts des desaströsen Zustandes der Deutschen Bahn. Er versucht ihrer Resignation nachzugehen und wirft nebenbei ein sehr freundliches Licht auf die Bürger einer Stadt „im Osten Deutschlands“, die kürzlich von tragischen Ereignissen heimgesucht wurde. Der Bericht, wäre er nach dem 9. Oktober entstanden, wäre sicher ein wenig anders ausgefallen. Die „Kulturbriefe“ sind lesenswerte transnationale Berichte der Empörung: Armenien (der Genozid an den Armeniern), Frankreich (unlautere Mittel der Gendarmerie), Italien (die Neue Rechte um Matteo Salvini), Österreich (die Debatte um Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn) – sie machen vor keinem Land halt.

Am wenigstens klar ist das Selbstverständnis der aktuellen Ausgabe von „Text+Kritik“. Geht es hier um Kritik als Literaturwissenschaft? Nur zum Teil. Das Heft beinhaltet in sich stimmige, klärende literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit einzelnen Aspekten aus dem vielfältigen Werk von Michael Lentz. Da wäre zum Beispiel der Aufsatz der Frankfurter Germanistin Susanne Komfort-Hein zum Roman „Pazifik Exil“, der eine „Entmythisierung von Exiltopoi im literarischen Nachleben“ betreibe; des „Gastherausgebers“ intensive Beschäftigung mit dem monumentalen, genau 1001 Seiten langen Roman „Schattenfroh“ und dessen massiver Intertextualität; Michael Brauns Nachweis der Lentz’schen Poetik einer permanenten "Selbstüberprüfung und Dekonstruktion der eigenen ästhetischen Praxis“. Das unerschütterliche Fundament der meisten Aufsätze scheint Lentzens „Forcierung des Selbstzweifels“, seine „graphomanische Rebellion“ (Braun) zu sein. Die Beiträge von Friederike Mayröcker, Martin Mosebach, Eugen Gomringer und Nora Gomringer rücken die Ausgabe jedoch in die Nähe einer Festschrift (Mosebachs „Tezett“ ist dann auch ein „Geburtstagsblatt für den Dichter M. Lentz“) und entfernen sie damit wieder von einem noch so vage gehaltenen Begriff der Kritik. Das ist schade, gab es doch schon „Text+Kritik“-Veröffentlichungen, die in der Lage waren, einige Turbulenzen auszulösen. Man denke etwa an das von Michael Braun herausgegebene Heft 198 zum Werk des Lyrikers Gerhard Falkner. Ann Cottens Beitrag „Katachresen. Beobachtungen an Gedichten von Gerhard Falkner“, in dem sie den Ichs Falkners Megalomanie nachweist, bewegte den Lyriker zwei Jahre nach Erscheinen des Heftes zu einem erbosten öffentlichen Brief an Cotten, die wiederum mit einem eigenen konterte: „Ich konnte mich in diesem Kontext ja auch darauf verlassen, dass das Genre der Lobhudelei das vielleicht leicht Pikante mit reichlich Sahne wohlig umschließen würde.“ Cotten hat sich in ihrer Ablehnung des „Genres der Lobhudelei“ ein Stück weit gegen das „inzestuöse Produktions-Kombinat“ des Betriebs positioniert, so zumindest könnte man dies mit einer Wendung aus Michael Brauns schon erwähntem Aufsatz aus der „Gegenstrophe“ zusammenfassen.

Lösungen? Lentzens Affinität zur experimentellen und (im Besonderen) der Konkreten Poesie ist gut dokumentiert. Die Auswahl der Beiträger macht aus dieser Affinität einen Heft-Schwerpunkt. Franz Mon ist neben Eugen Gomringer ein weiterer Konkreter Poet mit einem Beitrag (zur „vokalen Literatur von Michael Lentz“). Vielleicht wäre die Lentz-Nummer „kritischer“ geworden, hätte man einigen Beiträgern – sagen wir – die Aufgabe gestellt, auf Paul Celans vernichtende Kritik zu antworten: „Mein Abstraktes ist erarbeitete Freiheit des Ausdrucks. Wiedergutmachung am Wort. Kennen Sie die ‚poésie concrète‘? Sie ist international. Sie ist weder konkret noch Poesie. Ein banausischer Sprachmißbrauch. Die Sünde am Wort. Solange die Frevler sich als ‚konkrete Poeten‘ titulieren, will ich mich ‚abstrakt‘ nennen, obwohl ich genau weiß, daß ich im erkenntnistheoretischen Sinn nicht das Geringste zu tun habe mit abstrakter, d.h. gegenstandsloser Kunst.“ (Celan im Gespräch mit Hugo Huppert) Das ist eine unfaire These Celans, zudem sicher leicht widerlegbar. Aber sie hätte einigen Zündstoff geboten und wäre ein „kritischer“ Schreib-Antrieb gewesen.

Und das „Schreibheft“?! Es fällt, wie es scheint, aus dem Raster klassischerer Literaturzeitschriften heraus. Womit ließe es sich vergleichen, so dass es nicht so alleine dastehen muss? Vielleicht mit den Printprodukten des Schweizers Urs Engeler: mit seinen „Roughbooks“ und seiner Literaturzeitschrift „Mütze“, der Nachfolgerin von „Zwischen den Zeilen“.

Die Hingabe, mit der das „Schreibheft“ jedes Mal daherkommt, um stets mit spektakulären Dossiers zu verschüttet geglaubten Sprachen, Texten und Autoren aufzuwarten, ist in jeder seiner Zeilen erspürbar. Eines der zwei Dossiers der aktuellen Ausgabe widmet sich dem hochbegabten und -betagten New Yorker Autor Louis Wolfson (Jg. 1931) und seinem Buch „Le Schizo et les Langues“/ „Der Schizo und die Sprachen“ und wurde von Maximilian Gilleßen, Raphael Koenig und Marina Sawall zusammengestellt. Autor- und Buch-Geschichte sind schlicht und einfach unglaublich. Obwohl seine Muttersprache Englisch ist, schrieb Wolfson das Buch auf Französisch. Von Paul Auster, der das Buch 1974 besprach, erfährt der Leser jedoch, dass dies nicht aus freien Stücken geschah, sondern aufgrund der Schizophrenie Wolfsons, der die englische Sprache als „Invasion“ empfindet, weder hören noch lesen noch sprechen möchte. Es handelt sich also um ein – sozusagen selbstdiskriminatorisches – Buch der Abwehr der Muttersprache (und der Mutter), das sich in existenzieller Abhängigkeit von der diskriminierten Sprache (und von der Mutter) befindet: „Es befindet sich in der Schwebe zwischen den beiden Sprachen, und nichts wird es jemals aus diesem prekären Zustand befreien können“, so Auster. Aus dieser existenziellen Not entwickelte Wolfson mithilfe jener Sprachen, die er sich beibrachte – „in der Hauptsache Französisch, Deutsch, Russisch und Hebräisch“ – ein System, das „englische Wörter und Sätze in phonetische Kombinationen von fremden Buchstaben, Silben und Wörtern zu verwandeln“ vermag, „die neue linguistische Gebilde formen“ und „dem Englischen nicht nur von der Bedeutung, sondern auch vom Klang her“ ähneln. „Don’t trip over the wire!“ wird zum Beispiel zu „Tu’ nicht tréb über èth hé zwirn!“. Die Tatsache, dass die deutsche Übersetzung des Buches durch den Autor noch nicht zur Veröffentlichung freigegeben wurde und auch nicht in längeren Zitationen zu lesen ist, ist effektvoll: Der Leser ertappt sich in seiner Neugierde dabei, wie er das Dossier nach Primärzitaten abklopft, in der Hoffnung, das Buch wenigstens partiell zu rekonstruieren. Für den deutschsprachigen Leser sind die Texte, die im „Schreibheft“ zu diesem Buch und seinem Autor auf Deutsch oder in deutscher Übersetzung zu lesen sind, wie Fruchtfliegen, die um ein Geheimnis herumschwirren.

Dass das Buch 1970 bei Gallimard erscheinen konnte, mutet wie ein Lottogewinn an. Überhaupt scheint Wolfson, seine Erkrankung ausgenommen, sehr viel Glück gehabt zu haben. 2003 landete er tatsächlich einen Hauptgewinn im Lotto. Unglücklich sei es allerdings gewesen, so Auster, das Buch bei Gallimard „innerhalb einer psychoanalytischen Reihe“ herauszubringen: „Eine solche Etikettierung kann nur als Versuch des Verlages gewertet werden, die Rebellion zu unterdrücken, die diesem Buch seine außergewöhnliche Kraft verleiht, und das ‚Moment der Raserei‘ zu dämpfen, von dem Wolfsons Werk so sehr durchdrungen ist.“ Anders sieht es Maximilian Gilleßen, der sich der bewegten, 1964 beginnenden Publikationsgeschichte des Manuskriptes annimmt: „Entzifferbar, deutbar konnte ein solches Manuskript in gewisser Weise nur im Paris der sechziger Jahre werden. Es war die Zeit des Strukturalismus, des linguistic turn, der Hinwendung zum Sein der Sprache.“ Oder anders: Die „Etikettierung“ des Buches als psychoanalytischer Fall brachte ihm die größtmögliche Sichtbarkeit ein.

Zu seinen Lesern zählen und zählten Schriftsteller und Intellektuelle aller Fachbereiche, Namen wie Le Clézio, Deleuze, Foucault, Sartre, Beauvoir … Sie alle versuchten, dieses Buch mehr oder weniger für sich und die eigenen disziplinären Interessen einzunehmen, ihnen allen lag aber auch daran, es aus der „Kuriositäten“-Ecke (Jean Paulhan) in die Mitte der Literatur zu hieven. Auf keinen Fall sollte es nur als das Dokument einer Krankheitsgeschichte, klinisch als ein psychiatrischer Fall gelesen werden. Raphael Koenig sieht die „Kakophonie der unterschiedlichen Lesarten“ des Buches in drei Gruppen eingeteilt: in eine „mimetische Lektüre“, eine „psychoanalytische Lektüre“ und eine „semiotische Lektüre“. Seine rhetorische Ergänzung lautet: „Was wäre, wenn Wolfsons Text kein direktes, intimes Geständnis, sondern ein geschickt ausgearbeiteter Text wäre, dem vielfältige rhetorische Strategien zugrundeliegen? Und wenn die bemerkenswerte Vielfalt der Interpretationen letztlich ein Beweis für das Schweben zwischen den Gattungen wie für die textuellen und semantischen Ambiguitäten wäre, die am Text bewußt gesetzt worden sind?“ Das leuchtet unmittelbar ein! Und dann zurückblättern, da war doch noch etwas, nämlich Jean-Bertrand Pontalis' Erfahrngsbericht über das zermürbende Verlegen Wolfsons, ein Bericht, der Koenigs Vorschlag unterstützt: „Fast jede Woche erhielt ich […] neue Seiten, die der von ihm ausgearbeiteten ‚Rechtschreibreform‘ entsprachen. Das u, das auf ein q folgt, sollte zum Beispiel weggelassen werden; anstelle von und sollte man & schreiben usw.“

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¹ [Aus Gründen der Lesbarkeit nenne ich nachfolgend nicht immer die weibliche und die männliche Form, wo diese gemeint sind.]