Auf Spurensuche: Eine heitere Zweitagestour in den Norden des Münsterlandes. C&A, Hettlage, Peek & Cloppenburg – wie alles begann. Und Coppenrath & Wiese-Torten und natürlich Korn.
Andreas Weber
»TÖDDENLAND«
Fotos: Maike Brautmeier
Meine ganze Sippschaft kommt aus dem Tecklenburger Land. Hopsten, Recke und Mettingen sind die Orte, die ich seit frühster Kindheit kenne und besuche, wenn was anliegt, und es liegt oft was an. Hier eine Hochzeit, dort eine Kommunion oder wieder einmal der Sechzigste einer Tante, der Siebzigste eines Onkels oder der achtzigste Geburtstag von Oma. Opa habe ich ja nicht mehr kennengelernt. „Der ist im Krieg geblieben“, hatte Mutter mir erzählt. Oma ist jetzt leider auch tot. Ihre Beerdigung war mein letzter Besuch in Recke.
Recke gehört zum Töddenland. Eine Region im Tecklenburger Land und im benachbarten Emsland, in der eine besondere Form des Wanderhandels entstanden war. Die Tödden waren Hausierer, die ihre Waren, Textilien, vor allem in Holland und später in ganz Europa verkauften. Im 17. und 18. Jahrhundert hatten sie ihre Blütezeit und so manche Familie wurde durch den Handel steinreich. Die Brenninkmeyers (C&A), Peek & Cloppenburg oder Hettlage sind nur drei große Textilunternehmen, die ihre familiären Wurzeln in dieser Gegend haben und noch heute weltweit ihre Kleider absetzen.
Auch wenn ich seit vierzig Jahren sporadisch im Töddenland vorbeischaue, kannte ich diese Tödden nicht. Dabei ist die ganze Region stolz auf ihre Wanderhändler, die Packenträger, wie die Tödden auch genannt werden. In Mettingen gibt es ein Töddenmuseum, durch die Landschaft führt der Töddenland-Wanderweg (Töddenweg) und der Töddenland-Radweg; überall stehen Skulpturen und Denkmäler, die an die Tödden erinnern. Alte Fachwerkhäuser zeigen den Reichtum, den so manche Töddenfamilie erlangt hatte. Es gibt sogar einen Töddentrunk und zwischen Hopsten und Recke kann man Töddengolf spielen. Scheinbar habe ich einfach nicht zugehört, wenn die Verwandtschaft davon erzählte. Vielleicht sprach die Verwandtschaft aber auch wieder einmal platt. Denn hier im Töddenland spricht man noch platt. Ich sprech aber kein platt.
Jetzt reise ich für zwei Tage in dieses Töddenland. Zwei Tage ohne Verwandtschaft, ohne Oma, um die Heimat kennenzulernen. Ich habe mich in einem Gasthof in Hopsten einquartiert. Hopsten ist mein Ausgangspunkt, dann geht es weiter nach Recke, Mettingen und ein paar Örtchen drumherum. Es ist eine Art Spurensuche. Eine Spurensuche in einem Landstrich, wo ich bisher nicht tot über dem Gartenzaun hängen wollte.
Parkplatz Dörenther Klippen
An der B219 (Münsterstraße - kurz vor der Sommerrodelbahn)
Hermannsweg
B219, 49479 Ibbenbüren
Almhütte
Dörenther Berg 60
49479 Ibbenbüren
Ganzjährig täglich von 11:00 bis 18:00 Uhr
Hockendes Weib
WebseiteAbfahrt in Münster
“Heimat des Regens! So möchte ich Dich, Mimigarda, benennen! Dich, die Krone westfälischen Landes, ich bitte, verzeih mir; Denn ich will Dich nicht schmähen. Sechs Jahre sinds nun, daß ich hier bin,
aber ich sah Dich nicht anders als triefend vor ständigem Regen.”
Fabio Chigi − 1649
Münster. Donnerstag, 13 Uhr. Es regnet. Natürlich regnet es. Es regnet oft im Münsterland. Meteorologen erklären uns immer, dass es gar nicht so häufig regnet in Münster. Die Niederschlagsmengen sind sogar recht gering, sagen sie und holen ihre Statistiken raus. Ich weiß nicht, wie hoch die Niederschlagsmengen in Münster sind, interessiert mich auch gar nicht. Ich weiß aber, dass es oft regnet. Es regnet eben nicht aus Kübeln, es regnet nur stetig. Nieselregen ist hier das Zauberwort. Und dieser Nieselregen ist sowieso viel Schlimmer als der Starkregen. Für diese Erkenntnis braucht man keinen Meteorologen.
Außerdem sollte man an ein paar Wahrheiten nicht rütteln. Eine dieser Wahrheiten lautet: In Münster regnet es oder es läuten die Glocken und fällt beides zusammen, ist Sonntag.
Auf jeden Fall regnet es und es ist Donnerstag, die Glocken läuten nicht, und ich starte meinen kleinen Ford Fiesta und reise ins Töddenland, die eigenen Wurzeln suchen.
Berge, Freunde! Berge!
„Das Wasser! Das Wasser! Es kommt, es kommt!“
Wenn man von Münster aus ins Töddenland will, muss man über den westlichsten Teil des Teutoburger Waldes. Es ist eine der wenigen Gegenden im Münsterland, wo es Erhebungen gibt. Der Münsteraner spricht von Bergen. Er weiß es nicht besser.
In Münster ist der höchste Berg ein alter stillgelegter Müllberg. Auf dem alten Müllberg, der in den siebziger Jahren mit Erde bedeckt wurde, waren wir als Kinder immer Schlitten fahren. Wintersport auf dem Müllberg hört sich traurig an, aber Wintersport wird im Münsterland sowieso nicht groß geschrieben, außerdem gab es eben nichts anderes zum Rodeln. Mit den Worten meiner Mutter: „Wir hatten ja nichts.“ Nur den Müllberg hatten wir. Als Kind ahnte ich nicht, dass es auch noch andere Berge im Münsterland gibt, also etwas größere Hügel.
Kurz vor Ibbenbüren lege ich einen Zwischenstopp ein, um mir diesen Ausläufer des Teutoburger Waldes, diese Berge näher anzuschauen. Ich bin im Tecklenburger Land, das seinen Namen nach Tecklenburg der nördlichsten „Bergstadt“ trägt. Auf dem Parkplatz Dörenther Klippen stelle ich meinen Wagen ab und mache mich auf den Weg. Es regnet immer noch leicht; es nieselt. Ein Wegweiser informiert mich, dass ich auf dem Hermannsweg bin, einem Wanderweg, der von Minden über den Kamm des Teutoburger Wald bis nach Horn-Bad Meinberg führt. Es soll einer der schönsten deutschen Wanderwege sein, behaupten bunte Hochglanzbroschüren. Direkt durch diese Toscana des Nordens, wie Werbestrategen den Teutoburger Wald nennen, führt also mein Weg. Ich laufe den Hermannsweg eine Weile entlang, um zu den Dörenther Klippen zu kommen. Kleine Holzschilder mit einem weißen H zeigen mir, dass ich mich noch nicht verlaufen habe. Mein Ziel ist das Hockende Weib, ein Felsgebilde, das einer hockenden Frau ähnelt und als ein Wahrzeichen Ibbenbürens gilt. Von dort soll man einen fantastischen Ausblick über das gesamte Münsterland haben. In den Reiseführern steht etwas von impressionistischem Farbspiel, romantischen Landschaftsbildern, malerischen Feldern und Flüssen, über die hier und da ein weißer Gaul galoppiert. Sie sprechen von der Münsterländer Parklandschaft.
Am Rande des Wanderweges hat man Schilder angebracht, die zur Ordnung aufrufen. Obacht! Es wird gebeten, die Wege nicht zu verlassen. Obacht! Es ist verboten, auf die Klippen zu klettern. Es besteht die Gefahr eines Steinschlags. Ein altes, verwittertes Schild mit einem Totenkopf verdeutlicht noch einmal die Gefahr. Obacht! Das Befahren der Wege mit dem Mountainbike ist untersagt. „Denken Sie an das Tier- und Pflanzenreich. Sie befinden sich in einem Naturschutzgebiet!“
Doch die Urlauber, Tagestouristen und Hermannsweg-Wanderer, die trotz des Nieselregens unterwegs sind, geben nicht viel auf die Warnungen. Kinder klettern in den Klippen herum, Väter schießen Fotos und versuchen ihrem Nachwuchs, den Erben ihrer Reihenhäuschen, die Pflanzenwelt, die Klippen und die gesamte Welt zu erklären. Die Totenkopfschilder haben ihre Kraft verloren, ein junges Mädchen wirft mit Steinen gegen eins davon. Als eine Gruppe Mountainbiker aus einem Nebenweg geschossen kommt, wird sogar mir dieses anarchistische Treiben zu bunt.
Am Rande des Hermannswegs, beim Hockenden Weib, gibt es eine Almhütte. Hier kann sich der Wanderer von den Strapazen erholen und vom Nieselregen trocknen lassen. Keiner findet es komisch, dass es im Münsterland eine Almhütte gibt.
In Münster feiert man seit mehreren Jahren das Oktoberfest. Tagelang trinkt und tanzt das studentische Volk in Festzelten. Sie tragen Lederhosen und Dirndl, essen Brezel und Weißwürstchen. Oktoberfest in Münster findet auch niemand komisch, weswegen sollte man da wegen einer Almhütte protestieren.
Bei einem Weizenbier und einer Brezel lerne ich Horst und Günther kennen. Günther hat in den fünfziger Jahren die Almhütte übernommen und sie letztes Jahr an seinen Sohn Horst weitergegeben. Die Hütte, erzählt mir Günther, gibt es aber schon seit 1932. Warum sie Almhütte heißt, weiß er auch nicht. „Die hieß immer so. Eine Zeitung hat geschrieben, dass es die nördlichste Almhütte Deutschlands ist. Am Wochenende geht es hier zu wie auf Schalke,“ sagt er und lässt sich von mir noch auf ein Schnäpschen einladen. Gerade ist Günther achtzig geworden und so ein Schnäpschen lässt er sich immer noch schmecken. Mit dem Rauchen hat er aber aufgehört. Fünfundsechzig Jahre hat er gequalmt. „War ein Klacks,“ sagt er stolz. Ich beglückwünsche ihn und verabschiede mich von den Beiden, weil ich jetzt endlich das Hockende Weib besteigen will.
Das Hockende Weib trägt seinen Namen, weil es aussieht wie eine Frau, die auf den Klippen hockt. Ich muss zugeben, dass man schon viel Fantasie mitbringen muss, um hier eine hockende Frau zu erkennen. Mit dem "Hockenden Weib" verbindet sich auch eine Sage:
In alter Zeit strömten die Fluten des Meeres oft tief ins Land bis an die Berge. In einer Hütte am Fuße der Dörenther Klippen wohnte eine Frau mit ihren Kindern. Als nun die Flut nahte, nahm sie ihre Kinder auf den Arm und trug sie auf den Berg. Mit Entsetzen sah sie, wie das Wasser weiter stieg. Als es bis zu ihren Füßen reichte, hockte sie sich hin und befahl den Kindern auf ihre Schultern zu steigen und begann zu beten. Als sie sich aufrichten wollte, war sie zu einem Felsblock geworden, der aus den Fluten ragte und die Kinder trug. Für die Mutter ging die Geschichte nicht besonders gut aus, aber die Kinder waren gerettet und kletterten von ihrer Mutter runter und mussten dann alleine sehen, wie sie zu Recht kamen. Vielleicht hatten sie noch einen Vater, der für sie sorgte, aber darüber wird in der Sage nicht berichtet.
Ich klettere auf das Hockende Weib und schaue hinab auf die Münsterländer Parklandschaft. Bei gutem Wetter soll man von hier das ganze Münsterland überblicken können. Aber bei dem Mistwetter kann ich gerade mal ein paar hundert Meter weit schauen.
Recke
Vom Heiligen Meer geht es weiter nach Recke. Kurz vor Recke, in einer Bauernschaft, hatte meine Familie einen kleinen Hof, wo sie ein wenig Landwirtschaft betrieb. „Noch nicht mal genug zum Heizen hatten wir,“ sagt Mutter immer. Im Frühjahr mussten sie mit dem Wagen in das östlich gelegene Recker Moor zum Torf stechen. Den Sommer über ließen sie den Torf im Moor trocknen, im Winter hatten sie es dann wenigstens an Weihnachten warm. Heute wird im Recker Moor kein Torf mehr gestochen. Das Moor ist zum Land- und Naturschutzgebiet geworden und zählt zu einem der größten Moore in Nordrhein-Westfalen. Die Recker sind stolz auf ihr Moor und preisen es als ein Highlight der Gegend an.
Als ich den Wanderweg Richtung Recke entlang gehe, scheint für kurze Zeit die Sonne und ich darf einen Moment die Schönheit der Münsterländer Parklandschaft genießen. Felder wechseln mit Flüssen und kleinen Baumbeständen. Hier und da bieten Bauern Eier von freilaufenden Hühnern und die dicksten Kartoffeln der Region an.
Als ich Recke erreiche, regnet es aber schon wieder oder besser gesagt, es nieselt. Meine Lust zu wandern, erreicht in Recke einen weiteren Tiefpunkt. Wieder einmal ist meine Kleidung feucht und klamm; eine graue Wolkendecke drückt auf meine Stimmung. Ich setze mich im Ortskern von Recke, der nicht schwer zu finden ist, in eine kleine Bäckerei, bestelle mir ein Puddingteilchen und einen Kaffee und lese die Vereinszeitschrift des Heimatvereins Recke, die jemand auf meinem Tisch liegen gelassen hat. Ein Artikel berichtet von einem Recker Bürger, der gerade Achtzig geworden ist. Der alte Mann erzählt von früher und Weihnachten. Damals hätten sie ja nichts gehabt. Zu Weihnachten hat er mal eine Orange geschenkt bekommen und sich unglaublich gefreut. Die Orange hat er natürlich nicht gleich gegessen. Drei Tage lang hat er sie nur in seinen Händen gehalten und voller Freude an ihr gerochen. „Heute können sich die Kinder das gar nicht mehr vorstellen“, sagt er.
Ich schaue raus auf den Marktplatz. Am Marktplatz und ein paar Meter weiter an der Hauptstraße stehen ein paar alte Fachwerkhäuser, die an den Reichtum der Tödden erinnern. Die aufwendig verzierten Giebel an den Töddenhäusern zeigen, dass so manche Familie durch den Handel zu großem Wohlstand gekommen ist. Nachdem sich die Wanderhändler einen immer größeren Absatzmarkt und Kundenstamm geschaffen hatten, konnte so mancher Händler für sich arbeiten und wandern lassen. Einzelne Packenträger oder Tödden wurden zu Großunternehmern. C&A, Hettlage, Peek & Cloppenburg sind aus alten Töddengemeinschaften entstanden.
Mettingen
Nachdem meine Kleidung wieder trocken ist, mache ich mich auf in das ein paar Kilometer weiter gelegene Mettingen. Wie gesagt, Schnaps ist ein großes Problem im Töddenland. In Mettingen ist das Thema sogar zu besichtigen.
„Wir hatten ja nichts“, sagt Mutter gerne. Aber Korn hattet ihr, denke ich und stehe vor der Kornbrennerei Langemeyer an Mettingens Dorfrand. Fragt man nach den Spezialitäten im Töddenland, so wird gerne der Kornbrand genannt. Die Kornbrennerei C. Langemeyer in Mettingen war bis Mitte der siebziger Jahre sogar das Wahrzeichen der Dorfgemeinde. Der interessierte Schnapstrinker kann sich auf der Homepage der Firma Langemeyer die Kornstory anschauen, eine Dokumentation über die Herstellung des Korns. Für Gruppen werden auch Führungen angeboten. Leider bin ich keine Gruppe.
Neben Korn werden in Mettingen täglich bis zu 260-tausend Sahnetorten hergestellt. Seit 1991 ist die Firma Coppenrath & Wiese hier mit ihrem Stammwerk vor Ort. Herr Wiese hat sich in seinem Geburtsort eine Tortenfabrik gebaut und diese ist ein wichtiger Arbeitgeber in der Region geworden.
Arbeitgeber kann das Töddenland auch gut gebrauchen. Der Töddenhandel brach Anfang des 19. Jahrhunderts zusammen. Die neuen Möglichkeiten Waren zu transportieren, die großen Textilfabriken, die billig produzieren konnten, machten die Tödden arbeitslos. Doch neben Sahnetorten und Korn war es vor allem ein Produkt, was der Region neuen Wohlstand bescherte: Steinkohle.
Schafberg Ibbenbüren
Ibbenbürener Bergplatte
49497 Mettingen
Bergwerk Ibbenbüren
RAG Anthrazit Ibbenbüren GmbH
Osnabrücker Straße 112
49477 Ibbenbüren
Tel.: (0 54 51) 51 - 0
WebseiteSommerrodelbahn
Münsterstraße 265
49479 Ibbenbüren
Tel.: 05451 3226
von 10.00 bis 18.00 Uhr
vom 12. April bis 19. Oktober 2014 täglich.
Ibbenbüren
Von Mettingen aus mache ich mich auf in Richtung Süden nach Ibbenbüren und überquere den Schafberg. Der Schafberg heißt Schafberg, weil hier früher Schafe drauf standen. Heute stehen auf dem Schafberg keine Schafe mehr, aber eines der drei letzten Steinkohlebergwerke Deutschlands. Für mich ist es immer seltsam gewesen, dass im Münsterland Steinkohle abgebaut wird. Bergbau gehörte für mich immer in den Ruhrpott oder ins Saarland, aber nicht ins Münsterland. Ich verbinde das Münsterland mit Landwirtschaft, kleinen Seen, Wasserschlössern und Pferdezucht. In die Münsterländer Parklandschaft passt der Bergbau nicht richtig rein. Und doch arbeiteten viele meiner Onkels jahrzehntelang unter Tage im Bergwerk Ibbenbüren. In bis zu 1500 Meter Tiefe kloppten die Kumpels Steinkohle und brachten es zu dem Kraftwerk, welches direkt neben dem Schacht auf dem Schafberg stand und dort heute auch noch immer steht. In den sechziger Jahren arbeiteten über achttausend Menschen unter Tage. Der Bergbau wurde zum wichtigsten Arbeitgeber der Region und das Töddenland, dieser Teil des Tecklenburg Landes bekam noch einen weiteren Namen verpaßt: Kohleregion Ibbenbüren.
Mutter sagt: „Ach, damals. Da lebten wir alle gut von der Kohle.“ Heute arbeiten immer noch knapp 2000 Menschen im Bergwerk Ibbenbüren, aber bald ist auch damit Schluss. 2018 schließen sich die Tore endgültig. Kohle lässt sich billiger im Ausland einkaufen, als sie selber zu fördern.
Ich laufe traurig durch Ibbenbüren. Erst der schlechte Boden, auf dem nichts wächst, dann der Niedergang des Töddenhandels, jetzt das Ende des Steinkohleabbaus. In der Tageszeitung stand heute morgen, dass Coppenrath & Wiese auch verkauft werden soll. Als ob die guten Leute noch nicht genug Probleme hätten. Nee, leicht haben sie es hier nicht, denke ich gerade, als endlich mal die Sonne herauskommt. Und plötzlich ist die ganze Schwermut wie weggeblasen. Eigentlich doch ganz schön hier, schießt es mir in den Kopf. Das Heilige Meer, das Recker Moor, die zahlreichen Wanderwege durchs Tecklenburger Land. Vor zwei Tagen hätte ich nicht gedacht, dass es hier soviel zu entdecken gibt. Und zwei Tage sind längst nicht genug.
Doch ich muss wieder nach Hause, meine Tour ist fast beendet. Nur ein Programmpunkt steht noch auf meiner Liste. Der krönende Abschluss: Die Sommerrodelbahn und der Märchenwald.
Märchenwald
Am Ende, der Hauptstraße, die durch Ibbenbüren führt, steht man wieder vor dem Teutobur-ger Wald. Oben auf der Erhebung sitzen Horst und Dieter auf den Dörenther Klippen in ihrer Almhütte und begrüßen die Wandergruppen mit Brezel und Weizenbier. Am Hang des Waldes liegt die Sommerrodelbahn und der Märchenwald.
Die Sommerrodelbahn wurde 1926 von der Familie Derhake eröffnet, 1958 kam der Märchenpark hinzu. Wenn man den Park betritt, hat man das Gefühl, dass die Zeit stehengeblieben ist. Hier hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum was verändert. Die Kinder rodeln noch genauso wie vor neunzig Jahren die Sommerrodelbahn herunter. Im Märchenwald stehen kleine Holzhütten in die liebevoll Puppen gestellt wurden, die „Hänsel und Gretel“ oder das „Schneewittchen“ darstellen sollen. An jeder Hütte ist ein großer Schalter ange-bracht. Wenn man ihn drückt, wird einem das Märchen erzählt, was in der Hütte dargestellt wird. Der Märchenwald hat die digitale Revolution nicht mitgemacht.
Ich schlendere durch den Märchenwald und höre mir noch einmal das „Dornröschen“ und den „Froschkönig“ an. In einen riesigen Plastikesel schmeiße ich einen Euro, worauf der Esel Goldmünzen spuckt, auf einem Monsterfliegenpilz verweile ich einen Moment und trinke einen Schluck guten Metttinger Weizenkorn. Tief im Wald schmeißen zwei Geschwister eine Hexe in den großen Ofen.
Zu guter Letzt stehe ich endlich vor der Sommerrodelbahn. Mit meiner Grundschulklasse bin ich hier schon mal in den Achtzigern gewesen. Alles ist noch genauso wie damals, nur bezahlt man heute mit Euros und nicht mehr mit der guten alten D-Mark.
Für fünfzig Cent darf ich die 120 Meter lange Rodelbahn herunterfahren. Das ist wirklich günstig, denke ich. Was kriegt man heute schon noch für fünfzig Cent? Ich rodele dreimal den Hang herunter und habe einen Mordsspaß. Hier kriegt man noch was für sein Geld.
Doch irgendwann ist auch der schönste Tag zu Ende. Ich muss nach Hause, zurück in meine kleine Stadt. Auf der Heimfahrt denke ich, dass ich im Töddenland immer noch nicht tot übern Gartenzaun hängen möchte. Aber ich bin mit meiner Heimat versöhnt, denn eigentlich möchte ich nirgends tot übern Gartenzaun hängen.
Das Heilige Meer
LWL-Museum für Naturkunde
Westfälisches Landesmuseum mit Planetarium
Außenstelle Heiliges Meer
Bergstraße 1
49509 Recke
Tel.: 05453.9966-0
WebseiteHopsten
Gasthof zum Heiligen Feld
Die Gemeinde Hopsten ist der erste Ort, den ich besuche. Am Ortseingang haben die Bewohner Hopstens eine Holztafel mit der Inschrift Willkommen im Töddenland aufgestellt. Im Gasthof „Zum heiligen Feld“ habe ich mir ein Zimmer für eine Nacht gebucht. Circa hundert Meter vor dem Hotel steht ein Warnhinweis am Straßenrand: Vorsicht Menschenansammlung. Mit der Menschenansammlung ist das Schützenfest gemeint, das vor meinem Gasthof gefeiert wird. Brauchtumspflege wird in Hopsten groß geschrieben. Ein Bierwagen wurde aufgebaut, unter einem Pavillonzelt spielt eine Blaskapelle. Auf den aufgestellten Holzbänken sitzen die Schützenbrüder in ihren grünen Uniformen mit ihren Frauen und Kindern und trinken, reden und feiern. Keiner stört sich am Nieselregen. Vom Mistwetter lässt man sich hier nicht die Laune und das Fest verderben, denn heute wird ein neuer König gewählt.
Im Gasthof schaut man mich recht komisch an. Ein einzelner Gast aus dem fernen Münster scheint selten zu sein. Die Wirtin durchleuchtet mich mit ihren Blicken. In ihren Augen steht die Frage, was ich hier will. Nicht, dass der junge Mann in meinem Gasthof noch Drogen nimmt, Schindluder treibt? Man hört ja soviel im Fernsehen, denkt sie vielleicht. Ich will aber kein Schindluder treiben, sondern nur auf mein Zimmer, kurz auspacken, meine Mails abrufen und mir danach dieses Hopsten anschauen. „Haben sie WLAN?“, frage ich skeptisch. „Natürlich“, sagt die Wirtin und ich schäme mich ein wenig dafür, sie für eine Hinterwäldlerin gehalten zu haben. Sie ist wirklich sehr nett.
Sankt Anna Kapelle
Wandern heißt Gehen in der Landschaft. Ich wandere von meinem Gasthof ins Zentrum von Hopsten und von dort weiter über den Töddenland-Wanderweg zur Sankt Anna Kapelle, die kurz vor der Gemeinde steht. Es nieselt.
Die Sankt Anna Kapelle wurde von den Töddenbrüdern Teeken Ende des 17. Jahrhunderts in Auftrag gegeben. Die Teeken Brüder waren in Holland gewesen, um ihre Stoffe zu verkaufen. Auf der Rückfahrt waren sie in Holland auf der Zuiderzee in Seenot geraten. Es muss ziemlich schlecht für die Beiden in ihrem Segelboot ausgesehen haben und sie flehten die Mutter Gottes um Hilfe an. Ihre Gebete wurden erhört und sie bauten der Heiligen Anna, der Schutzpatronin der Tödden, aus Dankbarkeit eine Kapelle, die für das ganze Töddenland zur Wallfahrtsstätte wurde. Noch heute gibt es Wallfahrten aus Münster zur Sankt Anna Kapelle. Um die ganze Geschichte zu unterstreichen, haben die Hopstener kurz vor der Kapelle in einem Kreisverkehr eine Skulptur mit vier Segeln aufgestellt, die alle zur Kapelle weisen und die alte Abenteuergeschichte der Brüder Teeken noch mal vor Augen führen.
Wenn man in der Landschaft geht, also wandert, ist festes Schuhwerk Pflicht. Ich bin im Bereich „Wandern“ ein Anfänger. Es nieselt, nicht jeder Weg ist befestigt und meine Stoffturnschuhe sind nach kurzer Zeit durchnässt. Besser ausgerüstet ist die Wandergruppe, die den gesamten Töddenland-Rundweg entlangwandert. Funktionskleidung mit diversen Reflektoren, wasserdichte Rucksäcke, Wanderschuhe, Nordic Walking Stöcke und Stirnlampe zeichnen den Profi aus.
135 Kilometer ist der Tödden-Rundwanderweg lang. Im Münsterland führt er durch die wichtigen Töddendörfer Hopsten, Recke und Mettingen. Im Emsland geht es durch die Dörfer Beesten, Freeren und Schalen, die ebenfalls vom Töddenhandel lebten. Der Tödden-Rundwanderweg ist ein Teil des Weges, den die Tödden und Hollandgänger damals nehmen mussten, wenn sie in den entfernten Niederlanden ihre Leinen verkaufen wollten oder sie sich als Saisonarbeiter auf den Feldern, Torfstecher und Tagelöhner in den Niederlanden verdingten.
Die Hollandgänger
„Wir hatten ja nichts,“ sagt Mutter immer, wenn sie von früher erzählt. Sie meint die Zeit nach dem Krieg und guckt ernst, wenn sie daran zurückdenkt. Vor der Industrialisierung hatten die Menschen in dieser Region noch weniger. Der Boden im Tecklenburger Land war sandig, das Land mit Mooren und Sümpfen durchzogen. Viel wuchs nicht in dieser Gegend und längst nicht alle Bewohner konnten von den Erträgen der Landwirtschaft leben. Richtig heikel wurde die Situation durch den Dreißigjährigen Krieg, der diese Gegend besonders hart traf. Trotzdem wollten die Menschen ihre Heimat nicht aufgeben und so gingen viele nach Holland, um sich dort als Erntehelfer, Torfstecher oder ähnliches anzubieten. Was für viele Spargelbauern heute die billigen Arbeitskräfte aus dem Osten sind, waren früher für die Holländer meine Vorfahren aus dem Tecklenburger Land. Teilweise war fast die Hälfte der männlichen Bevölkerung aus den Dörfern unterwegs, um die Familie mit dem Töddenhandel oder als Hollandgänger über Wasser zu halten.
Schützenfest – Wenn ich einmal traurig bin, dann trinke ich einen Korn.
Nach einem langen Wandertag kehre ich abends wieder in meinen Gasthof zurück. Vor dem Gasthof tobt immer noch das Schützenfest. Wir haben einen neuen König, ruft eine Frau und alle klatschen in die Hände. Ich mache mich kurz auf meinem Zimmer frisch und gehe runter in die Gaststube, um eine Kleinigkeit zu essen. Ich bestelle mir einen westfälischen Grillteller, der hier aus einem Hacksteak, Gyros und einer Folienkartoffel mit Tsatsiki besteht.
Nach der deftigen Kost setze ich mich vor den Gasthof auf eine Bank, um eine zu rauchen. Ein älterer Herr in Schützenverein-Uniform gesellt sich zu mir. Er erzählt mir, dass er mal vier Monate hier im Gasthof gewohnt hat, nachdem sein Haus abgebrannt war. Kabelbrand. Mittlerweile hat er sein Haus wieder aufgebaut. Er ist Rentner. Früher hat er für Siemens gearbeitet. Vor der Wende war er in Westberlin bei Siemens, später in Erlangen. Eine Mark extra hat er sich mit Devisenhandel verdient. Er sagt, die Damen in Ostberlin haben alles für Devisen gemacht. Aber er hat das nie ausgenutzt, hatte er gar nicht nötig. Andere waren dort weniger zimperlich. Wenn er heute über die Frauen nachdenkt, kann er sie verstehen. „Sie hatten ja nichts,“ sagt er traurig und lädt mich noch zu einem Körnchen ein, bevor er zu seinen anderen Schützenbrüdern zurückkehrt.
Schnaps ist ein großes Problem im Töddenland. Vor mir fällt ein Mann um, der einen Korn zu viel hatte. Mit dem Hinterkopf knallt er auf einen Blumenkübel. Es sieht sehr schmerzhaft aus, aber er hat genug getankt, um den Schmerz ignorieren zu können. Nachdem wir ihm zu dritt wieder auf die Beine geholfen haben, steht er eine Zeitlang etwas verwirrt herum, dann geht er an die Theke und trinkt weiter.
Ältere, besoffene Menschen sind tragisch. Mit Zwanzig sieht man betrunken auch nicht gut aus, aber mit vierzig oder später noch mit sechzig Jahren sieht man nur noch tragisch aus. Auf dem Hopstener Schützenfest tummelt sich eine Menge Tragik.
Das Heilige Meer
Am nächsten Morgen sitze ich im Gasthof beim Frühstück, als mein Telefon schellt. Es ist Mutter. Sie fragt, wo ich stecke. Ich erzähle ihr, dass ich in Hopsten stecke und gleich zum Heiligen Meer will. „Zum Heiligen Meer?“ „Zum Heiligen Meer.“ Das Heilige Meer kennt Mutter. „Da sind wir damals mit der Schulklasse hingewandert,“ sagt sie. Eine kurze Pause am anderen Ende der Leitung, dann erzählt Mutter mir die Geschichte vom Heiligen Meer und den unzüchtigen Mönchen.
Mutter erzählt, dass damals an der Stelle, wo heute das Heilige Meer liegt, ein Kloster stand. Viele aus der Gegend mussten den Mönchen, die in diesem Kloster lebten, Abgaben zahlen und Dienste leisten. Den Mönchen ging es sehr viel besser als den anderen Bewohnern dieses Landstrichs. Die Felder und Gärten des Klosters waren fruchtbar und die Mönche hatten nicht viel zu tun, außer sich den ganzen Tag die Bäuche vollzuschlagen und sich mit Wein zu betrinken. Der Wein, erzählt mir Mutter, soll hinter den Klostermauern in Strömen geflossen sein. In so einer Umgebung fanden die Ordensregeln natürlich nur noch wenig Beachtung.
Als eines Tages die hübsche Tochter eines Gutsherren, der in der Nähe seinen Hof hatte, zur Sonntagsmesse ins Kloster kam, hatten die Mönche nur noch Augen für die hübsche Tochter. Sie schmiedeten einen Plan, die Tochter des Gutsherren zu entführen.
Schon wenige Tage später verschleppten sie die Tochter und sperrten sie ins Kloster, um sie für ihre Freuden zu missbrauchen. Glücklicherweise waren nicht alle Mönche im Kloster Schurken und Verbrecher. Ein älterer Mönch, welcher der Tochter das Essen bringen sollte, wollte bei dem Missetat seiner Mitbrüder nicht mitmachen und flüsterte einem Ritter die Entführung.
Der Ritter war natürlich aus verschiedenen Gründen bereit die Tochter zu retten. Zum einen war er ein Ritter und Ritter retten hilflose Jungfrauen, zum anderen war die Tochter sehr hübsch, der Ritter kannte sie von früheren Begegnungen, und er erhoffte sich selber ein Liebesspiel mit dem jungen Ding.
In einer Nacht- und Nebelaktion rettete er die Tochter. Draußen regnete, stürmte und blitzte es. Ritter, Tochter und der brave Mönch flohen und versteckten sich in einer alten Hütte unweit des Klosters. Die Mönche bekamen bei ihrem wüsten Gelage gar nichts von der Flucht mit. Sie lagen besoffen in der Ecke und träumten davon, was sie mit der Tochter anstellen konnten.
Gerade waren die drei Flüchtenden dem Kloster entkommen, da fuhr ein Blitz in das Kloster und zerstörte es und begrub die Mönche unter den Mauern. Als Ritter, Tochter und der alte Mönch am nächsten Morgen ins Tal schauten, war das Kloster verschwunden. An seiner Stelle war eine große Wasserfläche, ein See, ein Meer entstanden. Und noch immer stieg von der Wasserfläche Rauch auf.
Und damit endet die Geschichte. „Gottes Strafe hat die bösen Mönche getroffen“, sagt Mutter. „Und was ist aus den Dreien geworden?“, frage ich. „Der Ritter hat die Tochter geheiratet und der Mönch lebte noch bis zu seinem Tod bei ihnen“, erklärt mir Mutter.
„Klasse Geschichte“, sage ich. „Wenn man um das Heilige Meer herumläuft, sieht man an manchen Stellen noch die alten Klostermauern“, meint Mutter. „Wirst schon sehen“, sagt sie und legt auf.
Ich beende mein Frühstück und denke über den tiefen Glauben nach, den die Menschen hier haben. Auch wenn Glaube und Aberglaube überall im Münsterland tiefe Wurzeln haben, so ist er doch hier im Töddenland weitaus präsenter als in meiner Provinzmetropole Münster oder in den anderen Gegenden im Münsterland.
Ich packe meine Sachen und breche auf. Wandern heißt Gehen in der Landschaft. Ich wandere. Ich wandere zum Heiligen Meer und um es herum. Das nächste Mal nicht in Turnschuhen, denke ich und sacke auf dem Weg an manchen Stellen tief in den feuchten Boden. Wanderwege im Töddenland sind nichts für Turnschuhe, denke ich.
Um das Heilige Meer wurde ein Rundweg angelegt, auf dem man sich neben der Geschichte von den lasterhaften Mönchen, die auch hier erzählt wird, auch mit den Ergebnissen der Wissenschaftler vertraut machen kann. Das LWL-Museum für Naturkunde hat am Rand des Heiligen Meeres ein Forschungs- und Infohäuschen errichtet, wo sie neben dem Tier- und Pflanzenreich auch auf die Entstehung des Gewässers eingehen. Ich erfahre, dass das Heilige Meer nicht das einzige seiner Art in der Region ist. Zahlreiche Seen haben sich hier gebildet, weil das Land in sich zusammengefallen ist. Große Hohlräume unter der Erdoberfläche sind, so lese ich, zusammengefallen und in die großen Krater floss Grundwasser. Das Heilige Meer ist unter diesen Erdfallseen der größte See, der auch schon viele Jahrhunderte auf den Buckel hat. Ein kleinerer See in der Nähe ist dagegen gerade einmal vor hundert Jahren über Nacht entstanden. Plötzlich sackte der Boden ein, Wasser flutete in das Loch und ein kleiner Erdfallsee entstand. 1913 war das. Die Geschichte mit den Mönchen gefällt mir da besser.