Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Martina Kempter

Martina Kempter übersetzt seit 30 Jahren aus dem Italienischen (vorrangig Essay, Sachbuch, Wissenschaft). Sie ist Gründungs- und Vorstandmitglied der Weltlesebühne e.V.

Hamid Ismailov
Wunderkind Erjan
Aus dem Russischen von Andreas Tretner, Friedenauer Presse, Berlin 2022.

Im Lichtkegel der Leselampe erscheint die Steppenlandschaft Kasachstans. Schienen nehmen unseren Blick gefangen. Ein langer Zug der ostkasachstanischen Eisenbahn fegt, nachdem er eine Schleife über den gelb-rötlich eingefärbten Buchdeckel und –rücken gezogen hat, durch eine schier endlose Steppe. Der usbekische Autor Hamid Ismailov nimmt uns mit auf die Reise, mit in seine Erzählung, und schon bald hören wir das rhythmisch schnelle Rattern des Zuges, folgen unsere Augen dem Auf und Ab der Drähte der Telegrafenmasten an der Strecke, und selbst noch im Dämmerlicht und im Dunkel der Nacht blicken wir in eine bis zum Horizont sich erstreckende, eintönige, unwirtlich öde Landschaft. Abweisend wirkt sie auf uns, lebensfeindlich, geradezu apokalyptisch.

Kein Wunder, bewegen wir uns doch am Rande des zu Sowjetzeiten betriebenen Atomwaffentestgeländes von Semipalatinsk, zu dem wir auf dem Vorsatzblatt unseres Buches die Information aus einer Anhörung des kasachischen Parlaments von 2005 erhalten, es  habe dort zwischen 1949 und 1989 sowohl unterirdisch als auch atmosphärisch insgesamt 468 Kernexplosionen gegeben, und die Sprengkraft allein der in besiedelter Landschaft gezündeten Kernwaffen habe die der 1945 auf Hiroshima abgeworfenen Atombombe um das 2500fache übertroffen.

Ein Wunder hingegen, welch tiefgründige, vielschichtige und zutiefst poetische Geschichte Hamid Ismailov vor diesem düsteren Szenario entrollt – und wie kunstvoll und wie lebendig er sie erzählt, voller Empathie mit seinen Figuren, nah an den Menschen und ihren existenziellen Nöten. Zu dem Wunder gehört, wie gekonnt der Übersetzer Andreas Tretner die Geschichte aus dem mit etlichen kasachischen Ingredienzien gespickten Russischen ins Deutsche gebracht hat, mit welch fein nuancierter und zart lakonischer Sprache, die nach Bedarf auch derb sein kann und mit gutem Humor gewürzt, er sie den deutschsprachigen Leser·innen nahebringt: einer Sprache voll unterschiedlicher Klänge und farbenreich wie, bei genauerem Hinsehen, die Vegetation der Steppe.

Wie in einer klassischen Novelle nimmt die Erzählung ihren Ausgang von einer unerhörten, einzigartigen Begebenheit: der Begegnung des Erzählers mit einem kleinen Jungen, der offenbar zugestiegen ist, um den Zugreisenden ein lokales Getränk feilzubieten, zur allgemeinen Verwunderung jedoch auf der mitgeführten Geige erst einmal meisterhaft einen Ungarischen Tanz von Brahms vorspielt. Die Exposition birgt ein Rätsel: Dieses Wunderkind namens Erjan spielt die Geige wie ein junger Gott, ist aber längst kein Kind mehr, sondern ein Mann von 27 Jahren. Ein Mann in einem Kinderkörper.

In drei Teilen, gegliedert in kurze, rhythmisch und motivisch auf musikalische Weise verknüpfte Kapitel, wird uns, dramaturgisch dem weiten Raum und der langen Zeit der Zugfahrt angemessen, Erjans ganze Lebensgeschichte erzählt, von der Geburt oder vielmehr seiner rätselhaften Zeugung und dem damit einhergehenden Verstummen seiner Mutter über verschiedene Stationen und Wendepunkte bis in die Erzählgegenwart der Rahmenhandlung hinein. In den ersten beiden Teilen tritt Erjan selbst als Erzähler seiner Geschichte auf. Doch immer wieder übernehmen alte Mythen und Märchen das Wort, erzählen seine Geschichte weiter oder nehmen sie vorweg. Für ihn und die Leser:innen sind sie spiegelnde, klingende Räume des Verstehens, der Erklärung oder Bewältigung von anders schwer Verständlichem, Unerklärlichem, kaum zu Bewältigendem. Im letzten Teil schließlich greift der Ich-Erzähler aus der Rahmenhandlung den Faden von Erjans Erzählung auf, spinnt sie in dem wunderbaren Gewebe verschiedener Erzählstimmen aus eigener Imagination fort und führt  sie zu Ende.

So erfahren wir von Erjans behütetem Aufwachsen in der kleinen Gemeinschaft der Bewohner zweier Eisenbahnerhäuser an einer Station der Bahnlinie. Wir erfahren von seiner Liebe zum gleichaltrigen Nachbarskind Aysulu und von seiner ungewöhnlichen musikalischen Begabung. Musik, Musikunterricht und das Spiel auf Instrumenten wie der traditionellen Dombıra und der Geige, kasachische Gesänge aus alter Zeit und technische Errungenschaften aus der neuen – Radio, Schallplatte, Fernseher und die damit vermittelte Popkultur – prägen das Leben auf der Bahnstation ebenso wie der Wechsel der Jahreszeiten, die sich wiederholenden Arbeiten der Männer an den Zügen und am Stellwerk der Bahnstrecke sowie das Abfertigen der die Station passierenden Züge.

Was anderswo jedoch leicht zur Schilderung eines beschaulichen, allenfalls exotisch oder folkloristisch unterlegten lieblichen Idylls geraten könnte, öffnet sich hier unversehens in einen ganz anderen Raum: den Raum eines jede Vorstellung übersteigenden, entsetzlichen, grauenvollen Schreckens. Dafür sorgen die regelmäßigen, gleichwohl unvorhersehbaren Erfahrungen mit dem Geschehen in der „Zone“ unweit der Bahnstation. Es sind Erfahrungen völligen Ausgeliefertseins und absoluter Ohnmacht, der überwältigenden und unbezwingbaren Angst, einer vernichtenden Gewalt.

Von den atomaren Explosionen, den katastrophalen Erschütterungen der Erde, der Seele und der Körper erzählen uns die wechselnden Erzählerstimmen und die von altersher um Liebe und tödliche Gewalt wissenden Mythen in größter poetischer Eindringlichkeit. Erjan hört mit 12 Jahren auf zu wachsen und versucht fortan zu begreifen, was ihm widerfahren ist und ihm immer noch widerfährt. Ob es ihm gelingt? Ich meine Ja. In der der Literatur gelingt es. Die Geschichte des Wunderkindes Erjan schließt mit dem lapidaren Satz „Und das war alles.“ Vielleicht lässt er sich auch lesen als russische Variante unseres bekannten Märchenschlusses „Und wenn sie nicht gestorben sind ...“.

Am 8. September 2006 wurde in Semei (vormals Semipalatinsk) ein internationaler Vertrag geschlossen, der von Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan unterzeichnet wurde. In ihm wird Zentralasien zur atomwaffenfreien Zone erklärt.

Der Autor Hamid Ismailov, der vor rund 70 Jahren in Kirgisistan, an der Grenze zu Kasachstan geboren wurde, in Usbekistan bei seiner Großmutter aufwuchs, als Erwachsener nach London zog und jetzt in Prag lebt, schreibt seine Bücher auf Russisch, Englisch und Usbekisch. In Usbekistan allerdings sind seine Bücher bis heute verboten. Auf Russisch wurde Wunderkind Erjan erstmals 2011 veröffentlicht. Wir dürfen uns glücklich schätzen, es in Andreas Tretners deutscher Übersetzung in der liebevoll gestalteten Ausgabe der Friedenauer Presse  (Imprint von Matthes&Seitz Berlin) lesen zu können.

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