Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Simone Falk

Simone Falk wurde 1984 in Bremen geboren. Sie studierte Philosophie, Geschichte, Interkulturelle Studien und Polonistik in Bremen, Kiel und Posen. Heute lebt sie in Berlin und Warschau, ist Autorin und Übersetzerin aus dem Polnischen. 

Gunnar Gunnarsson
Advent im Hochgebirge
(Erzählung); Aus dem Dänischen von Helmut de Boor, Reclam, Leipzig 1937.

Benedikt, Leo und Knorz: ein Knecht, ein Hund und ein Leithammel. Sie haben ein Ziel: Die Schafe, die bei den herbstlichen Einsammlungen nicht gefunden werden konnten, im isländischen Hochland aufzusuchen und wohlbehalten wieder zurückzubringen, bevor der Winter einbricht.
Es ist der erste Adventssonntag, an dem Benedikt mit seinen zwei treuen Begleitern aufbricht, einen Sack mit getrocknetem Fleisch, Brot und Kaffee auf dem Rücken. Und es ist schon seit 27 Jahren in jedem Dezember eben dieser Tag, an dem seine Reise zu den Schafen beginnt.
Doch in diesem Jahr ist etwas anders: Hund und Leithammel sind unruhig, etwas scheint in der Luft zu liegen. Auch Benedikt spürt es ‒ doch er ist ein pflichtbewusster Mann, und seine eigene Angst wiegt nichts im Vergleich zu seiner Aufgabe: die verlorenen Schafe vor dem Tode im Schnee zu retten. Die letzten Menschen, auf die er zu Beginn seiner Reise trifft, blicken besorgt gen Himmel und warnen Benedikt davor, sein Leben für ein paar Schafe zu riskieren. Doch er hält an seinem Vorhaben fest.
Und dann tobt der Sturm.
Nahezu blind, stumm und taub kämpfen sich die drei von Unterschlupf zu Unterschlupf, mal suchen sie in einem Erdloch Zuflucht und schlafen dicht aneinander gedrängt, mal buddeln sie sich entkräftet und halberfroren in den Schnee ein.

Mir scheint es beinahe, als hätte Gunnar Gunnarsson hier und da dem Sturm die Feder überlassen, als wäre es der Sturm, der hier Dichter ist, und ein Maler obendrein. So beispiellos wütet er, ergreift Leo und schleudert ihn im Schnee herum, lässt Benedikts Bart über dem Mund zufrieren, so dass er nicht mehr atmen kann. Ein Sturm, der aus allen Himmelsrichtungen, von unten und von oben zu kommen scheint, von Erde und Sternen ‒ welch schönes Bild, wäre es nicht so grauenvoll für den, der es gemalt bekommt!
Der Sturm als Dichter, oder zumindest als Mitdichtender: Das ist es wohl auch, warum Gunnarsson oft in einem Atemzug mit Halldór Laxness und Ernest Hemingway genannt wird. Laxness, der einzige isländische Nobelpreisträger und literarische Konkurrent Gunnarssons, ein weiterer Meister des Windes, der Schafe und der isländischen Seele. Und Hemingway ‒ denn man munkelt, er habe seinen Alten Mann und das Meer inspiriert eben durch Gunnarssons Advent im Hochgebirge geschrieben.
Gunnarsson, acht Mal für den Literaturnobelpreis nominiert, war nicht nur Schriftsteller, sondern eigentlich auch Übersetzer: Er schrieb seine Werke auf Dänisch, übersetzte sie später selbst ins Isländische. Seine Bücher wurden früh auch ins Deutsche übertragen; er erlebte seinen Ruhm unglücklicherweise zu Zeiten des Nationalsozialismus. Heute ist er hierzulande fast vergessen. Advent im Hochgebirge ist sein bekanntestes Werk.
Und wie auch Hemingways altem Fischer gelingt Gunnarssons altem Knecht die Rückkehr: An Heiligabend finden er und seine tierischen Begleiter die letzten verlorenen Schafe. Mit vereinten Kräften schaffen es Mann, Hund und Hammel, die ausgehungerten Tiere zusammenzutreiben und sie sicher aus dem Hochland herauszuführen.

Mehr Informationen

2020

91