Leselampe

2018 | KW 30

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Buchempfehlung der Woche

von Tobias Herold
Tobias Herold, *1983, lebt als Autor und Kulturveranstalter in Berlin. Er hat die Lyrikbände "Kruste" und "Ausfahrt" veröffentlicht und ist Mitbetreiber des Veranstaltungsortes ausland.

Konrad Bayer
Der Kopf des Vitus Bering
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Günther Eisenhuber, Jung und Jung Verlag, Salzburg/Wien 2014 (Erstausgabe: Walter-Druck, Freiburg 1965)

Vielleicht passt es ganz gut, dass diese Leselampe im Hochsommer erscheint – in meiner Erfahrung als Leser fand ich es immer hilfreich, auch und gerade die etwas finstereren Bücher bei heiterem Sonnenschein zu lesen, zum Beispiel im Freibad oder am Strand.
„Der Kopf des Vitus Bering“ erschien zuerst 1965 posthum – im Jahr zuvor hatte sich Konrad Bayer im Alter von 32 Jahren in Wien das Leben genommen. Seinen Titelhelden, den dänisch-russischen Marineoffizier und Entdecker Vitus Bering, begleitet das Buch in loser Anlehnung an die historischen Gegebenheiten – und mit der Person Berings mehr als zentralem Motiv oder als Projektionsfläche, denn als „Protagonisten“ – auf dessen Winterreise ins Gebiet der nach ihm benannten Beringsee, wo er 1841 auf einer entlegenen Insel an Entkräftung und Kälte verstarb. Der Auftrag seiner Expedition lautete, die Spekulation zu widerlegen, es gebe eine Landbrücke zwischen Ostsibirien und Alaska. Konrad Bayers Prosa ihrerseits widerlegt auf 80 großzügig gesetzten Seiten die Vorstellung, die Literatur wäre klar umrissenes Terrain, das festen Boden unter den Füßen bietet.

Der Hauptteil von „Der Kopf des Vitus Bering“ ist in knapp 90 Abschnitte stark variierenden Umfangs unterteilt, die so schöne Überschriften tragen wie „Wenn man nicht weiter kann, hört man einfach auf“, „Theorie der Schiffahrt, 1. Fortsetzung“ oder „Vitus Bering, ein Mannequin“. Sie erscheinen über weite Strecken als Montagen/Collagen/Variationen von Material aus ganz unterschiedlichen Kontexten und Quellen (Historie, Religion, Naturwissenschaft, Ethnologie, Technik,...); der zweite, kleinere Teil des Buches, „Index“, versammelt mehr scheinbar und fast als Scherz Auszüge aus etlichen solcher Quellen, als dass er als erschließender Anhang oder Kommentar im klassischen Sinne fungieren würde.

Als eine eigene Form zwischen Prosagedicht, dokumentarischer Prosa, experimentellem Lesedrama und Stationenroman bildet das Buch nur sporadisch Handlungsverläufe ab, legt vielmehr ein anarchisch verzweigtes System von Motiven und Bildkomplexen an, von denen manche für sich allein stehen, andere wiederkehrend aufgegriffen werden.
Bereits Seite 1 („Steigerung des idealen Sinnes“) verknüpft auf engem Raum die Gegenstände Christus - Papst – Kaiser – Salbung – Windrose - Wirtshaus – Schachspiel – Genesis und Kannibalismus; letzterer, die Menschenfresserei, wird zu einem Hauptmotiv des Textes und in vielerlei Nuancen variiert. Keine 20 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs vefasst, verhandelt das Buch implizit auch die Menschenvernichtung im Nationalsozialismus. „wer keine kriegstaten aufzuweisen vermochte, hieß altes weib oder niemand“, heißt es einmal.

Seinen – ja – ansteckenden Charme und Esprit bezieht „Der Kopf des Vitus Bering“, unabhängig von der Artifizialität des Texts im Ganzen, aus der Ungekünsteltheit und Profanität seiner Sprache – stets wird hier Klartext geschrieben, bei aller Offenheit der Aussage, aller Traumlogik und streckenweisen Düsternis der Bilderfolgen. Diese Klarheit der Sprache im Verbund mit dem unberechenbaren Rhythmus der Montageverfahren und dem Überbietungsdrastizismus insbesondere der Gewalt- und Kannibalismusdarstellungen gebiert einen bösartig-travestiehaften Humor als einen wesentlichen Grundzug des Buchs: Splatter und Trash lösen tendenziell ein expressionistisches Pathos ab.

„Der Kopf des Vitus Bering“ ist ein Hauptwerk der Nachkriegsavantgarde aus dem Kontext der Wiener Gruppe. Das Buch erinnert daran, dass das, was man mit „konzeptuelle/experimentelle Literatur“ oder „Avantgarde“ meint, so viel mehr leisten kann als die selbstzufriedene Kunstwilligkeit und Vorhersehbarkeit, das biedere Malen nach Zahlen, das unter diesen Schlagworten im deutschsprachigen Raum oft publiziert wurde und wird. Nichts könnte von der Vorstellung einer cleanen white cube-Literatur weiter entfernt sein als Bayers Vitus Bering.

Wenn wir Friedrich Achleitner glauben dürfen, den Günther Eisenhuber in seinem Nachwort zitiert, ist es womöglich auch der rückhaltlose produktive Zweifel noch an den schönsten Konzepten gewesen, der es Konrad Bayer als komplementäre Ressource ermöglicht hat, ein Buch wie dieses zu schreiben: „In Momenten nach Diskussionen ist der Konrad oft in sich zusammengefallen, ist hilflos dagesessen und hat fast geweint. Da hat er den Wunsch gehabt, aufzuhören mit diesen Spielereien, Experimenten, mit diesen auskalkulierten Sachen! Stattdessen möchte er etwas Schlichtes, Wahres, Handfestes schreiben.“

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