Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Maria Păcurariu

Maria Păcurariu wurde 2002 in Nürnberg geboren. Sie arbeitet als freie Journalistin und studiert als Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes Philosophie und Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie schreibt Lyrik und Prosa - interessiert sich dabei vor allem für Ausnahmezustände, Glauben und Herkunft. Sie liebt kontroverse Diskussionen und Wikipediabiografien. Sie schwimmt, um klarer denken zu können und hört Songlyrics wie Gedichte.

Von Februar bis Juli diesen Jahres ist Maria Păcurariu die studentische Berliner Stadtschreiberin des Berlin Stories-Projekts des studierendenWERK BERLIN, welches die spezifische Perspektive von Berliner Studierenden auf ihre Stadt über einen längeren Zeitraum hinweg einfangen möchte. Jedes Jahr wird ein·e andere·r Stadtschreiber·in von einer Jury ausgewählt. Ein paar ihrer Texte finden sich hier: https://www.stw.berlin/kultur/literatur/berlin-stories/stadtschreiber*innen/maria-pacurariu.html

J.D. Salinger
Franny and Zooey
(Erzählungen), Aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007.

Franny und Zooey als Liebeserklärung an die Dicke Frau in uns

Was ist J.D. Salingers Franny und Zooey für eine Geschichte? Buddy Glass, der Erzähler schreibt dazu: „Irgendwo in „Der große Gatsby“ (mein Tom Sawyer“, als ich zwölf war) bemerkt der jugendliche Erzähler, jeder vermute, wenigstens eine der Kardinaltugenden zu besitzen, und er fährt fort, er glaube seine sei, wie rührend, Ehrlichkeit. Meine ist, glaube ich, dass ich den Unterschied zwischen einer mystischen Geschichte und einer Liebesgeschichte kenne. Ich sage, dass mein vorliegender Opus überhaupt keine mystische oder religiös mystifizierende Geschichte ist. Ich sage, es ist eine zusammengesetzte oder vielschichtige Liebesgeschichte, so rein, so kompliziert.

Ich finde eine gebrauchte, hellpinke Version von Franny und Zooey mit sechzehn in einem Buchladen in Edinburgh und kaufe sie als Erinnerung an die Stadt und vielleicht auch, weil ich vage glaube, dass Salinger jemand sei, von dem man vielleicht mal gehört haben sollte. Es ist Liebe auf die erste Lektüre.

Viel Handlung gibt es in dem Buch nicht. In der aus zwei Teilen zusammengesetzten Erzählung wird vor allem geredet und diskutiert. Franny und Zooey sind beide Teil der Glass-Familie. Eine Großfamilie, deren Mitglieder in verschiedenen Büchern Salingers einen Auftritt haben. Die Glasses, das sind zwei ehemalige Zirkusleute und ihre sieben außerordentlich klugen Kinder. Diese Kinder sind so klug, dass alle von ihnen in einem gewissen Alter Teil einer Radioshow namens „Kluges Kind“ sind. Allen ist eine gewisse Affinität zur Spiritualität, vor allem zum Zen-Buddhismus eigen.  Dabei übernehmen die beiden älteren Geschwister Seymour (um dessen Selbstmord sich die berühmte Kurzgeschichte A Perfect Day For Bananafish dreht) und Buddy (selbst Schriftsteller und vermeintlicher Verfasser von Franny und Zooey) eine Mentorenrolle. Zooey und Franny, beide Schauspieler·innen, sind die beiden jüngsten Geschwister.

Der erste Teil „Franny“ beschreibt einen Nervenzusammenbruch Frannys in einem Restaurant, in das sie mit ihrem Freund einkehrt. Franny hinterfragt ihr akademisches Umfeld, die Welt, die ihr oberflächlich scheint. „Ich hab´s so satt, immer Ego, Ego, Ego. Meines und das von allen anderen. Ich habe alle satt, die was erreichen wollen, die was Herausragendes machen, jemand Interessantes sein wollen und so“, erklärt sie. Nur konsequent also, dass auch sie selbst das Schauspielern aufgibt. Stattdessen hat sie eine Faszination für das sogenannte Jesus-Gebet entwickelt. Ein einfaches Gebet, das, wenn man es immer wieder spricht, sich quasi verselbstständigen, Teil von einem werden soll. Franny redet sich in Rage und wird schließlich ohnmächtig. Als sie wieder erwacht, kann man sehen wie sich ihre Lippen bewegen. Sie betet das Jesus-Gebet.

Im zweiten Teil „Zooey“ befinden sich Franny und Zooey beide zuhause bei ihren Eltern, wohin Franny sich nach ihrem Zusammenbruch geflüchtet hat. Hier passiert noch weniger: Zooey sitzt sehr lange in der Badewanne, liest alte Briefe von seinen Brüdern und unterhält sich durch einen Duschvorhang mit seiner Mutter. Die ist in Sorge um Franny und möchte einen Psychiater einschalten. Aber Zooey beschließt die Sache selbst in die Hand zu nehmen: Er begibt sich ins Zimmer der beiden älteren Brüder, des Erzählers Buddy und des zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Seymours und ruft Franny über die hausinterne Leitung an.

Und hier, wie auch an anderen Stellen wird klar mit wievielen liebevollen Details Salinger seine Figuren ausarbeitet. Über Seiten hinweg werden die Kritzeleien und Zitate, die die älteren Brüder an ihre Zimmertür gekritzelt haben, beschrieben. Als würde man ihnen selbst nachspüren.

Zooey ruft also Franny an, wobei er Buddy imitiert – er schauspielert für seine Schwester!- und versucht herauszufinden, worum es ihr geht mit der Ablehnung der Welt und dem Jesus-Gedicht. Aus Weisheiten, die aus der religiösen Erziehung durch die älteren Brüder stammen müssen, versucht er für Franny Antworten zu finden.

Und wieder kann man nicht anders als sie alle ganz innig lieb zu haben – diesmal für die Ernsthaftigkeit mit der Frannys Problem angegangen wird. Eine Antwort auf Frannys Frage nach dem Grund Weiterzumachen präsentiert Zooey in Form einer Anekdote: Als Zooey noch ein Kind gewesen wäre und an der Radioshow „Kluges Kind“ teilgenommen hatte, genervt von dem affektierten Show-Umfeld und kurz davor sich bockig zu verweigern, habe Seymour ihm gesagt er solle es für eine Dicke Frau tun. Eine Dicke Frau, die einfach nur dasitzt, vielleicht allein, und ihm aufmerksam zuhören würde. Auch Franny solle ihr Schauspielern, vielleicht auch ihr Leben für niemanden fortführen als für Seymours Dicke Frau. Aber, so erklärt Zooey, was sie verstehen müsse, sei, dass jede·r Seymours Dicke Frau sei.

Immer wieder kehre ich zurück zu den Glasses, frage mich immer wieder aufs Neue was genau es mit der Dicken Frau und dem Jesus-Gebet auf sich hat. Als ich meine beste Freundin kennenlerne, schenke ich ihr ein Exemplar und freue mich, als sie sagt es mache Sinn, dass das mein Lieblingsbuch sei. Und als sie ein halbes Jahr später eine Hausarbeit über Franny und Zooey schreibt, ist das eine der schönsten Liebeserklärungen überhaupt.

Vielleicht wirken die Figuren in Franny und Zooey bisweilen etwas affektiert und weltfremd, aber ich fühle mich wohl bei ihnen. Ich glaube sie zu kennen. Und wenn sie gekünstelt bzw. gespielt wirken, vielleicht spielen sie wirklich, aber auch das – das Spielen - ist ja nach Salinger gewissermaßen eine Liebeserklärung an die Dicke Frau in uns.

Wir Lesenden sind Salingers Dicke Frau und Buddy Glass hat Recht, wenn er wie anfangs zitiert behauptet Franny und Zooey sei eine Liebesgeschichte. Weil es klar ist wie sehr die Glass-Familie in ihrer Verschrobenheit einander liebt, wie sehr der Erzähler Buddy Glass seine Familie liebt, vielleicht noch mehr, weil es klar ist, wie sehr Salinger seine Figuren liebt. In irgendeiner Kritik schreibt jemand Salinger liebe seine Figuren mehr als Gott sie liebt. Er hat Recht. Und weil Salinger seine Figuren so sehr liebt, weil Salingers Figuren einander so sehr lieben, kann man nicht anders: Man liebt sie auch.

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