Leselampe

2024 | KW 51

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Buchempfehlung der Woche

von Sybille Hein

Die Kinderbuchautorin, Illustratorin, Kabarettistin, Designerin und Musikerin Sybille Hein, geboren 1970 in Wolfenbüttel, lebt mit ihrer Familie in Berlin. 2022 veröffentlichte sie mit Eure Leben, lebt sie alle (dtv Verlag) ihren ersten Roman für Erwachsene.
Zuletzt ist 2024 das Bilderbuch  Freiheit...du große Wundertüte bei Fischer Sauerländer erschienen und seit 2024 illustriert sie auch die Kinderbuchreihe Wir sind (die) Weltklasse von Tanya Lieske. Im Frühjar 2025 wird das Anti-Angst-Bilderbuch Grosse sind Schisser (Hanser Verlag) herauskommen.

Jelena Kostjutschenko
Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist, in Russland zu leben
Aus dem Russischen von Maria Rajer, Penguin Verlag, München 2023

Kein Buch hat mich im vergangenen Jahr so nachhaltig beschäftig, wie »Das Land, das ich liebe« von Jelena Kostjutschenko.

Ich kannte die Autorin zuvor schon als investigative Journalistin für die Zeitung Nowaja Gaseta. Eine der wichtigsten, unabhängigen Zeitungen Russlands. Bereits in sehr jungen Jahren hatte Kostjutschenko begonnen, sich mutig und mit großer Klarheit gegen die Repressionen ihres Landes zu stellen. Sie schrieb als eine der ersten Journalistinnen über die Band Pussy Riot, deren Mitglieder früh die maßlosen Machtdemonstrationen der russischen Behörden zu spüren bekamen. Auch Kostjutschenko wurde für ihre Arbeit mehrfach verhaftet. Vier ReporterInnen ihrer Zeitung wurden ermordet. Die Fotos ihrer KollegInnen hingen bis zur Schließung der Zeitung in den Redaktionsräumen. Jelena Kostjutschenko lebt mittlerweile im Exil in Berlin.

In ihrem Buch versammelt Jelena Kostjutschenko nun mehrere Reportagen aus ihren letzten Jahren in Russland. Sie erzählt von Menschen und Ereignissen hinter Putins Propaganda-Apparat und reiste dafür bis an den letzten Zipfel ihres riesigen Heimatlandes.
Wir begegnen den Nganasanen, ein Volk, sesshaft im nördlichsten Teil Russlands, das nur noch aus 700 Menschen besteht. Früher lebte es vom Fischfang und der Rentierjagd. Heute gibt es kaum noch Rentiere und in den verdreckten Flüssen lassen sich an manchen Tagen nur noch tote Fische von der Wasseroberfläche pflücken. Die Perspektivlosigkeit hat die Sterberate unter Nganasanen in die Höhe schnellen lassen – nur einer von sechs stirbt eines sogenannten natürlichen Todes. "Zwei oder drei erfrieren oder sterben im Suff. Zwei oder drei bringen sich um."
Wir lernen obdachlose Kinder und Jugendliche in Moskaus Umland kennen. In der Bauruine eines nie fertiggestellten Krankenhauses schlagen sie sich nach eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten durch ihre Tage. Ein Menschenleben scheint an diesem Ort nicht viel wert zu sein. Dieses Gefühl zieht sich durch viele Reportagen im Buch. Immer wieder stoßen wir auf verzweifelte, sich selbst und dem Leben entfremdete Individuen.

Alkohol und verklärende Erzählungen über Glanz und Größe der ehemaligen Sowjetunion scheinen in weiten Teilen des Landes der Klebstoff zu sein, mit dem der Einzelne seine Tage und die Gesellschaft ihr russisches Selbstverständnis zusammenhält.
Auch der übermächtige, manipulative Staatsapparat, der gleichzeitig absolut kein Interesse an den Einzelschicksalen seiner Bevölkerung zu haben scheint, taucht an vielen Stellen in Kostjutschenko Geschichten auf.

Jelena Kostjutschenko findet in ihren Reportagen eine sehr eigene, poetische Sprache, die es geschafft hat, mich tief in ihre Geschichten hineinzuziehen. Eine Vielzahl ihrer Erzählbilder sind immer noch sehr lebendig in meinem Kopf. Zudem gelingt Kostjutschenko das unglaubliche Zauberstück, trotz der Schwere ihrer Geschichten, auch ihre große Verbundenheit und Liebe zu Russland und seinen Menschen einzufangen.

Ein imponierendes Buch. Und eine unglaublich imponierende Frau.

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