von Gert Loschütz
Gert Loschütz, 1946 in Genthin geboren, hat Erzählungen, Romane, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke und Filmdrehbücher geschrieben und wurde für sein Werk vielfach ausgezeichnet. Seine Romane Ein schönes Paar (Schöffling & Co., 2018) und Besichtigung eines Unglücks (Schöffling & Co., 2021) wurden für den Deutschen Buchpreis nominiert. Besichtigung eines Unglücks wurde mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2021 ausgezeichnet. Der Autor lebt in Berlin.
Henri-Frédéric Amiel
Tag für Tag – Intime Aufzeichnungen. Ausgewählt von Leo Tolstoi
Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Felix Philipp Ingold, Aus dem Französischen von Eleonore Frey, Pendo Verlag, Zürich 2003.
Der Moralist
Was für ein seltsamer Mensch, dieser Monsieur Amiel aus Genf! Ein Moralist und Gottsucher, der das Hohe Lied der Pflicht sang und dem es aus fehlendem Selbstvertrauen und mangelnder Antriebskraft doch nie gelang, sich selbst in die Pflicht zu nehmen, um das Werk zu schaffen, das ihm vorschwebte. Ein stiller und friedfertiger Mensch war er, der es nicht durch seine wenigen Gedichtsammlungen und Essays zu Ruhm brachte, sondern - ausgerechnet - durch ein laut klirrendes Kriegslied, „Roulez tambours!“, das er 1857 verfasste, als er sein Vaterland von den Preußen bedroht sah, und das es zur Nationalhymne der welschen Schweiz gebracht hat.
Eine Fußnote in der Literaturgeschichte – mehr wäre wohl nicht von ihm geblieben, wäre da nicht das gewaltige, nach seinem Tod entdeckte, annähernd 17.000 Seiten umfassende Tagebuchwerk, das in einem Zeitraum von über vierzig Jahren entstanden ist und in dem er sich als ein Selbstbeobachter von hohen Graden erweist. Nach seinem Tod unter dem Titel Fragments d´ un Journal intime 1883/84 in Teilen veröffentlicht, machte es ihn dann doch noch über die Landesgrenzen hinweg berühmt.
Die ersten Übersetzungen erschienen in England und Schweden, und als Leo Tolstoi die von Freunden Amiels zusammengestellte Auswahl in die Hände fiel, sorgte er sogleich für ihre Verbreitung in Russland: er ließ von seiner Tochter Marija ein Übersetzung anfertigen und traf ein zweites Mal eine Auswahl, die er selbst redigierte und mit einem Vorwort versah, in dem er sich nicht scheute, Amiels Journale intime in eine Reihe mit den großen Gedankenbüchern der Weltliteratur zu stellen: Mark Aurels Selbstbetrachtungen, Pascals Pensees und Epiktets Handbüchlein der Moral, und diese von Tolstoi verantwortete Ausgabe ist es, die der Züricher Pendo Verlag mit einem Nachwort des Herausgebers Felix Philipp Ingold noch einmal vorgelegt hat.
Wir haben es also mit einer doppelten Auswahl zu tun: jener der Freunde Amiels und jener Tolstois. Was letzteren an dem Schweizer interessierte, wird rasch klar, wenn man sich die Zeit vergegenwärtigt, zu der er auf Amiel stieß: Anfang der 1890er Jahre. Es war nicht mehr der Verfasser von Krieg und Frieden und Anna Karenina, der ihn las, sondern der „Graf im Bauernkittel“, dem „Schöpfungen künstlerischer Fiktion zuwider“ waren und der jede Kunst, jede literarische Arbeit – ausgenommen das Evangelium und die Volkskunst – als parasitär empfand. „Aufrichtigkeit“ und „Nützlichkeit“ waren es, die er von den wenigen um sich herum geduldeten Werken verlangte. Das Wort „Aufrichtigkeit“ ist es, mit dem er im Vorwort die Aufzeichnungen Amiels am häufigsten charakterisiert. Gleich eingangs bekennt er seine Erschütterung „von der Bedeutsamkeit und Tiefe des Inhalts, von der Schönheit der Darlegung, hauptsächlich aber von der „Aufrichtigkeit dieses Buches“, er sieht in Amiel einen „aufrichtigen Wahrheitssucher“ und beschließt sein Vorwort mit dem bündigen Urteil, das Buch sei „aufrichtig, ernst und nützlich“.
Henry-Frédéric Amiel, geboren 1821, gestorben 1881, hat, abgesehen von seiner Studienzeit in Berlin und ein paar Reisen nach Frankreich und Italien, sein ganzes Leben in Genf zugebracht. Mit 28 Jahren wurde er Professor für Ästhetik, mit 33 für Philosophie an der Universität in Genf. Als er das bis zu seinem Tod fortgeführte Tagebuch begann, war er gerade 18. Anfangs sollte es wohl vor allem der Selbsterziehung dienen, der Überwindung seiner von ihm erkannten Schwächen, später wurde es immer mehr zum Fluchtort, an dem er seine Gedanken zusammentrug, zur Klagemauer, in die er seine sonst niemandem mitteilbaren Nachrichten steckte, zum Versuchsfeld für kunst-, musik- und literaturkritische Arbeiten, die, wie seine Anmerkungen zu Victor Hugo, so unprätentiös und hellsichtig sind, dass es bis heute bedauerlich ist, dass sie (wie das meiste, das er begann) nie zur Ausführung kamen.
Er lebte im „Schrecken vor der Tat“ und fühlte sich „nirgends wohl außer im unpersönlichen, desinteressierten, objektiven Leben des Denkens ... Wo man handeln sollte, sehe ich überall nichts als Fallen und Nachstellungen, Anlaß für Irrtum und Reue“. Und wusste zugleich: „Wer völlig klar sehen will, bevor er sich entschließt, entschließt sich nie.“
Bei aller persönlichen Tragik, entbehrt es doch nicht der Komik, wenn man sieht, mit welcher Gewissenhaftigkeit er sich selbst in den absoluten Stillstand hineinmanövriert, etwa wenn er auf einer Tagebuchseite, nummeriert von 1–9, wie ein Buchhalter alle für und gegen eine Eheschließung sprechenden Gründe auflistet.
„Das Familienleben vor allem, in seinem Zauber, in seiner zutiefst moralischen Haltung, stellt seine Forderung an mich, beinahe wie eine Pflicht. Sein Ideal verfolgt mich manchmal geradezu ... Aber ich schiebe die Bilder beiseite, denn jede Hoffnung ist ein Ei, aus dem ebensogut eine Schlange wie eine Taube ausschlüpfen kann.“
Mark Aurel, Pascal, Epiktet – die Essais von Montaigne, das Gedankenbuch von Leopardi, möchte man hinzufügen, ohne dass er indes über die heitere Souveränität des einen oder den bitteren Skeptizismus des anderen verfügte, die beiden – volens nolens vielleicht – eine unvergleichliche Freiheit des Denkens ermöglichte. Amiels Blick richtet sich immer auf sich selbst, nicht die Welt ist es, die er reflektiert, sondern sein Scheitern in ihr. Dennoch (oder gerade deshalb?): Ein wunderbares Buch, ein reiches Buch, und es ist ein Glück, dass Ingold die Kürzungen, die der bittere, aufs Wesentliche versessene Tolstoi innerhalb der Tageseintragungen vornahm, rückgängig gemacht hat, weil man sonst auf eine so leicht hingetupfte Beobachtung, wie die vom 14. Mai 1852, hätte verzichten müssen:
„Habe den ersten Leuchtkäfer der Saison gesehen, im Rasen neben dem kleinen gewundenen Pfad, der von Lancy zur Stadt herabführt. Er kroch verstohlen durchs Gras, wie ein ängstlicher Gedanke oder ein erwachendes Talent.“
Ach, was für ein seltsamer Mensch, dieser scheue, unglückliche, von seinen Skrupeln in Fesseln geschlagene Monsieur Amiel aus Genf!
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