Erinnerungen an Spaziergänge, Spaziergänge in Gedanken - ein realer Spaziergang. Man wird hineingezogen - vom Rande des Prenzlauer Berges bis nach Weißensee.
Judith Hermann
»Spazieren.Gehen.«
Fotos: Tobias Bohm
Watt iss´n dein Thema, hatte der Fotograf am Telefon gefragt. Das Thema von deinem Spaziergang, dit bräuchte ich mal so langsam, dit wäre langsam wichtig für mich, damit ich weiß, was für Fotos ich machen soll zum Text; und ich sagte zögernd und erstaunt, ich hätte gar kein Thema, tatsächlich nicht, wohl die Stationen des Spaziergangs jedoch ohne Thema, es täte mir leid. Wir legten dann auf.
Ich schrieb eine Kette von Worten auf ein abgerissenes Stückchen Papier, das auf dem Küchentisch lag - Assoziationskette. Thema: Spaziergang. Sonntag. 3 x Sonntag. Aussicht. Altes Brot für die Schwäne - Erinnerungen. Gute Erinnerungen, schlechte Erinnerungen. Winter. Nachdenken. Nachdenken ohne zu einem Schluss zu kommen. Gehen. Verliebt sein. Nachmittag. Gespräch, Selbstgespräch. Erkenntnis, die sich in Luft auflöst. Kastanien. Früher Abend. Schluss – aber das führte zu nichts; vielleicht, dachte ich, ist ja das mein Thema: die Themenlosigkeit, Erinnerung an Spaziergänge wie diesen einen mit meinem Kind am ersten Januar eines Jahres, das für mich ein neues und für mein Kind sein siebentes Lebensjahr gewesen ist. Und das Nachdenken darüber. Zu keiner Erkenntnis kommen. Außer eben der, dass es zu jeder Etappe, Station, Aussichtshöhe eines Spazierganges, den ich mache, den man macht, eine Erinnerung gibt oder geben wird, so etwas wie eine kleine, kurze Geschichte. Mag das ein Thema sein, sage ich in Gedanken zu dem Fotografen, dessen heftiger Ostberliner Dialekt mir wie ein zusätzlicher, rätselhafter Hinweis scheint. Mag dit unsa Thema sein?
Am 1. Januar bin ich mit meinem Kind auf den Berg gegangen. Wir hatten das schon am 31. Dezember versucht, mussten aber umkehren, das Wetter war gegen uns, schwerer Wind und heftiger Regen, gleich an der Oleanderstraße war die Jacke meines Kindes völlig durchnässt und eine Mütze hatten wir ohnehin vergessen; wir suchten in einem Hauseingang Zuflucht, sahen zum Berg hin, zu den vom Wind getriebenen Wolken über seiner struppigen, grauen Höhe, wir warteten ein wenig, schon zitternd vor Kälte und klamm in den nassen Jacken, vielleicht würde der Himmel aufreißen und ein klares Blau frei geben, der Himmel riss nicht auf, wir kehrten um, nahmen die S-Bahn nach Hause und aßen die Hasenbrote, tranken den Tee aus der Thermoskanne in der warmen Küche, während das Radio vor sich hin plapperte und der Regen gegen die Scheiben schlug.
Aber am 1. Januar versuchten wir es noch einmal. In einem der Bücher meines Kindes hatten wir über einen Berg gelesen, den schweren Weg hinauf, oben angelangt die weite Aussicht und dann den leichten Weg hinunter; mein Kind hatte auf den Berg gewollt, zeig mir einen Berg, viele Berge gibt es nicht in Berlin. Am 1. Januar war das Wetter nicht unbedingt besser, es stürmte immer noch, regnete aber nicht mehr und wir waren auch besser ausgerüstet, sehr warm angezogen, festes Schuhwerk; mir kam es bedeutsam vor am ersten Tag des Jahres auf den Berg zu gehen und über die Stadt zu schauen in Richtung Osten, auf einen Berg zudem, auf den ich immer gehe, wenn ich alleine sein will und sentimental, wovon ich meinem Kind selbstverständlich nicht das Geringste mitteilte. Wir flogen, vom Wind getrieben, den Syringenweg entlang. Ich erklärte das Wort Syringen: Flieder, und zeigte auf die Fliederbüsche am Straßenrand, die Fliederbüsche waren kahl, ich sagte, wir müssen unbedingt noch einmal im Frühjahr gehen, dann blüht der Flieder und du darfst dir einen Zweig brechen, wozu mein Kind nachsichtig nickte, wie immer, wenn ich über die Zukunft spreche, über das, was kommen wird, ein unmögliches Versprechen. Es sah hoch zum Berg, der ihm sehr groß vorkommen musste, vielleicht auch abweisend, sein mit kahlen Bäumen bestandener, düsterer Hang. Kein Mensch auf der Straße außer uns. Vereinzelt und fern das Zischen von verspätetem Feuerwerk. Nichts ist besser, als den schrecklichen ersten Tag des Jahres mit dem Kind zu verbringen, ich dachte das und sagte es nicht.
Wir nahmen, am Fuß des Berges angelangt, den asphaltierten Weg, ein Stückchen lang, und schlugen uns dann in die Büsche, die Abkürzung, ein Trampelpfad durch Dickicht und Sträucher, sehr steil aber kurz; wir gerieten außer Atem, worüber mein Kind froh war, weil es wusste, dass das zu einer Bergbesteigung dazu gehört. Es fand drei weißblaue Scherben am Rand des Pfades, die es umständlich aufsammelte und in den Taschen seiner Jacke verstaute, dann stiegen wir weiter, der Wind war hier im Gebüsch kaum zu spüren, einmal sahen wir eine Amsel, ein Eichhörnchen, den Fuchs sahen wir nicht, worüber mein Kind traurig, ich erleichtert war. Das letzte Stück half ich, indem ich ein wenig schob und auch ermutigte, dann waren wir oben, stolperten aus den Büschen aufs Plateau hinaus und sofort war, als hätte er auf uns gewartet, der Wind wieder da, er riss uns an den Haaren und riss die Worte weg, also drehte ich mein Kind stumm in die richtige Richtung und da war es tatsächlich so, dass es staunte – es sagte oh! und das freute mich sehr. Es wurde schon wieder dämmerig, wir sahen weit nach Osten über die Trabantenstädte hinweg, in den Wohnungen waren die Lichter schon angegangen und leuchteten golden und bunt und über den Häusern waren die schweren schwarzen Wolken und hinter den Wolken ein wenig noch die Sonne, wir waren wirklich sehr hoch oben und gänzlich alleine, mein Kind stellte das zufrieden fest. Wir hockten uns aufs Mäuerchen am Rand des Plateaus – zählten die Pappeln, sieben genau – und sahen eine Weile über die östliche Stadt; obwohl ich immer denke, dass ich mein Kind mit Sentimentalitäten und kitschigen Gedanken verschonen will, kam ich nicht umhin zu sagen, dass so vielleicht auch die russischen Städte aussehen, Novosibirsk, Omsk, Sibirien, und dass ich einmal dorthin würde wollen und mein Kind sagte freundlich, dann käme es mit. Wir aßen unsere Brote, nicht weil wir Hunger hatten, sondern weil das dazu gehört, und dann liefen wir die steile Wiese runter, die jetzt stumpf und versteppt war und im Sommer hoch wuchert mit blauen und gelben wilden Blumen, Schafgarbe, Ginster darin. Wir waren schnell wieder unten. Noch immer kein Mensch außer uns und ich erzählte meinem Kind, dass ich hier noch niemals jemandem begegnet sei, außer seiner Kindergarten-Tante Sonja, Hand in Hand mit einem fremden Mann, was stimmte, mein Kind aber nicht glauben wollte.
Wir kehrten, weil auch das dazu gehört, in der Laube ein, der Kneipe an der Kleingarten-Kolonie am Rand des Parks. In der Laube war es dunkel und verraucht, auf dem Boden lagen zertretene Luftschlangen, zerplatzte Ballons und es schien in diesem neuen Jahr noch niemand auf den Gedanken gekommen zu sein, das Radio leiser zu stellen. Mein Kind hatte ein wenig Angst vor den betrunkenen Laubenpiepern und ihren Neujahrswünschen, aber die Aussicht auf eine Fanta trug es über die Angst hinweg und wir setzten uns an einen Tisch am Fenster, vor dem der Berg stand, die struppige Höhe jetzt schon von der Dämmerung verschluckt. Ich trank ein kleines Bier. Wir hingen beide unseren Gedanken nach. Mein Kind baute ein Kartenhaus aus Bierdeckeln. Als es draußen ganz dunkel geworden war, zogen wir uns die Jacken wieder an, setzten die Mützen auf, zahlten und gingen.
Volkspark Prenzlauer Berg
Der Berg, auf den ich mit meinem Kind gegangen bin, ist der Berg vom Volkspark Prenzlauer Berg, mit dem Prenzlauer Berg hat das dankenswerter Weise nicht das Geringste zu tun. Dieser Park ist leer. Er ist verlassen, dunkel, ungepflegt, verwunschen, das liegt auch daran, dass er ab vom Schuss ist, ganz weit draußen, schon am Rand von Weißensee und Marzahn. Landsberger Allee muss man aus der S-Bahn steigen, über die Storkower hinweg in den Syringenweg hinein und immer geradeaus, an Oleander-, Maiglöckchen-, Chrysanthemenstraße vorbei, dann ist man da. Ein großer Berg, ein kleinerer, eine Talsenke dazwischen. Die Scherben, die mein Kind gefunden hat, sind Scherben aus dem Krieg, der Berg ist ein Trümmerberg, 15 Millionen Quadratmeter Schutt vom Alexanderplatz samt Umgebung, und darauf gepflanzt alles, was wild wächst, üppig ist, rankt und zudeckt - kanadische Pappel, Robinie, Esche und Ahorn, Ölweide, Vogelbeere, Holunder, Weißdorn und Wildrose. Man kann den Weg nehmen, der in Spiralen den Berg rauf geht, man kann den Trampelpfad nehmen, wie wir es gemacht haben, oben angelangt ist man 91 Meter überm Meeresspiegel; der Fotograf hat dann nachgelesen, das sei der höchste Berg Berlins, was ich nicht wusste. Pappelplateau. Manchmal lässt ein Kind auf der Wiese unten einen Drachen steigen. Immer nur ein Kind. Niemals mehrere. Am schönsten ist es auf dem Berg in der Dämmerung. Wenn weit weg in anderer Leute Wohnungen die Lichter angehen. Und ein Tag bald vorbei ist.
Kleingarten-Kolonie
Als ich Kind war, erzähle ich dem Fotografen in Gedanken, hatte ich eine Freundin, die hieß Marion Förster. Marion Försters Eltern hatten einen Schrebergarten in der „Kolonie Frohsinn“ an der Sonnenallee im Bezirk Neukölln in Westberlin in den siebziger Jahren. Eine Hütte aus dem Holz von Zigarrenschachteln zusammen gebaut, eine Veranda mit Hollywood-Schaukel, ein kleiner Rasen, ein Apfelbaum, eine Hecke, ein Reh aus Gips, eine Wäscheleine, ein Glück. Marion Försters Vater saß im Unterhemd auf dem Klappstuhl im Schatten vom Sonnenschirm, trank Biere und hörte die Fußballübertragung aus dem Transistorradio. Wenn seine Frau das Abendessen fertig vorbereitet hatte - Kartoffelsalat, Wiener Würstchen, Limonade aus dem Krug - pfiff er nach uns, sein Pfiff gellte durch die ganze Kolonie, wir bogen auf klapprigen Rädern um die Ecke und zogen eine prächtige Sandfontäne hinter uns her. Geruch von Grillkohle, Quietschen der Hollywood-Schaukeln, Klappern der Heckenscheren. Es gab ein Vereinshaus, in dem wir Wassereis und Brausepulver kauften. Der Geschmack von Brausepulver. Aus der hohlen, schmutzigen Hand geleckt, unter der Kastanie vor dem Vereinshaus sitzend, Musik aus der Jukebox dazu und zwar, sage ich zu dem Fotografen in Gedanken und triumphierend, „tanze Samba mit mir, Samba, Samba, die ganze Nacht“.
Ich bat meine Eltern, auch einen Schrebergarten zu mieten, meine Eltern waren sprachlos über diesen Wunsch und voller Verachtung. Ich bat den lieben Gott. Ich habe um einen Schrebergarten gebetet in der „Kolonie Frohsinn“, ich bin nicht erhört worden, selbstverständlich nicht. Aber meine Liebe zu den Schrebergärten habe ich nicht verloren, meine unerfüllte Liebe, die mir ja auch peinlich sein könnte und es nicht ist. Wäre es nicht schon dunkel gewesen an diesem 1. Januar, an dem wir auf den Berg gingen, wäre ich gerne mit meinem Kind durch die Kleingarten-Anlage Volkspark Prenzlauer Berg nach Hause spaziert. Ich glaube nicht, dass mein Kind den Schrebergärten gleich verfallen wäre – es ist ein Kind der Nachwende, für das die ganze Geschichte der Mauer und der geteilten Stadt wie ein Märchen klingt, lächerlich, beeindruckend, unglaubwürdig zugleich. Mein Kind muss die Sommerwochenenden nicht in einem Kleingarten, in einem Spanholz-Häuschen verbringen, es fährt raus an die Seen, in die Uckermark und an die schöne wilde Oder, auf kaputte Höfe mit verfallenen Scheunen, es kennt gar keine Zäune und Heckenscheren, keine Zwergengemütlichkeiten und leider auch keine Väter wie Marion Försters Vater einer war. Ich hätte es auch nicht mit Anekdoten belästigt, ich wäre im Spazierengehen mit meiner Sehnsucht nach der Kindheitskolonie für mich geblieben. Aber wir hätten uns gemeinsam den Kinne Diabas ansehen können, den Findling aus den Schichttortenbergen Kinnekulle und Billingen südlich vom Vänersee, Schweden, ein Geschenk für die Kolonie zum 100jährigen Bestehen. Die Vögel gezählt in der Voliere, hundert Wellensittiche, drei Papageien, eine Wildtaube. Wir wären den Sandweg entlang spaziert immer geradeaus an der Kastanie vorbei, neben der kein Vereinshaus steht, die aber im Herbst mit Kastanien nur so um sich schleudert und dann wären wir geradewegs nach „Grönland“ hinein gelaufen, aber das machen wir im Frühling, sage ich meinem Kind, im Mai, das verspreche ich dir.
„Grönland“ heißt die Kolonie, die an die Kolonie „Volkspark Prenzlauer Berg“ anschließt. Es sei dort kälter, behaupten die Leute. Der Findling Kinne Diabas, über dessen Herkunft auf einer Informationstafel zu lesen ist, steht am Eingang der Laube, vis á vis die Voliere mit den Wellensittichen, Papageien und der traurigen Wildtaube. Im Frühjahr, im Sommer, hat der Biergarten der Laube geöffnet, ein Biergarten mit langen Bänken, langen Tischen und bunten Lichterketten, Kaffee, Pflaumenkuchen mit Schlagsahne, Klosterbier. Alte Leute. Abendsonne, bis sie hinterm Berg untergeht. Geschlossene Gesellschaft der Laubenpieper, in der ich gerne abseits sitze. Tach. Und Aufwiedersehen. Wer lange bleibt, wird schwermütig. Dann geht man an einem Abend im Mai den dunklen Weg nach „Grönland“ hin, an Endweg, Talweg, Landweg vorbei und kann das leise Klappern der Vorhänge hören an den Türen der Lauben, bunte schmale Plastikstreifen im Wind, das gab es damals schon in der „Kolonie Frohsinn“, damit schliefen wir ein.
So stehen wir also da – am Ende von „Grönland“, am Ausgang der Kleingartenanlage. Kniprodestraße, schon rauscht der Verkehr vorbei und hinter dem Blechzaun ist die BSR, da sind die ersten Plattenbauten, was machen wir jetzt. Nach Hause gehen oder noch ein Stück weiter, es ginge noch ein Stück, mir fällt noch etwas ein, wir könnten rechts lang, am Pennymarkt, an Daniels Bistro vorbei in die Sackgasse rein, die Mauer dahinten ist die Mauer vom Jüdischen Friedhof Weißensee.
Jüdischer Friedhof Weißensee
Herbert-Baum-Straße 45
13088 Berlin-Weißensee
Seit 1880 in Gebrauch
der größte noch bestehende jüdische Friedhof Europas
ca. 40 ha groß mit etwa 115.000 Gräbern
Geöffnet: 01.04. bis 31.10.: Mo, Di, Mi, D o, Fr, So 8 bis 17 h,
01.11. bis 31.03.: Mo, Di, Mi, Do, So 8 bis 16 h,
01.11. bis 31.03.: Fr 8 bis 15 h
Anfahrt: Albertinenstr. – Tram 12 und Bus 255
Jüdischer Friedhof Weißensee
Schön, hatte der Fotograf gesagt. Ich hatte ihm am Telefon die Stationen des Spazierganges aufgezählt: Volkspark Prenzlauer Berg, den kannte er vom Hörensagen, Kleingarten Kolonie „Grönland“, dazu wollte er sich nicht äußern, Jüdischer Friedhof Weißensee, da sagte er: Schön!
Einmal, vor ein paar Jahren, ging ich auf die Atelier-Eröffnung eines Malers, für den ich einen Katalog-Text schreiben sollte. Das Atelier war klein, die Eröffnung sehr privat, worauf ich nicht vorbereitet war und was mich nervös machte, ohnehin war meine Verfassung nicht die beste. Der Maler, den ich flüchtig kannte und dessen Bilder ich zum ersten Mal sah, sprach mich, noch ehe ich meine Jacke ausgezogen hatte und umringt von seinen Freunden zur Begrüßung zielstrebig aufs Schlimmste an: die kleine Welt - er kenne doch tatsächlich meinen Ex-Mann, er hätte ihn heute zufällig wiedergetroffen und dann gleich eingeladen, doch auch ins Atelier zu kommen, mein Ex-Mann habe dankend, mit Hinweis auf meine Anwesenheit, bedauerlicherweise abgelehnt. Was war los, denke ich heute, was war denn mit diesem Typen los, war der unsicher oder was, verlegen, so wie ich; damals zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Das scheußliche Wort vom Ex-Mann war ein Schlag, noch verletzender als die dankende Ablehnung, mir schoss die Röte ins Gesicht und ich verstand akustisch nur noch die Hälfte, Rauschen in den Ohren, mein Atem viel zu flach, dann war die Frau da. Eine helle, große Frau, die plötzlich zwischen uns stand, mir die Hand reichte und ihren Namen sagte; der Maler ging achselzuckend weg, die Frau blieb an meiner Seite, ich sei so hochrot, dann plötzlich blass geworden sagte sie später, sie hätte mich festgehalten, wäre ich gefallen.
Mit dieser Frau bin ich Wochen später einmal auf dem Jüdischen Friedhof spazieren gegangen. Am Ende der Ausstellung, für die ich dann keinen Text geschrieben habe, hatte sie mich nach Hause gefahren und wir hatten uns verabredet – auf einen Spaziergang, sie hatte das vorgeschlagen: lass uns einmal zusammen spazieren gehen. Sie hatte auch den Friedhof vorgeschlagen und ihn benannt – dieser Friedhof sei einer ihrer liebsten Orte. Sie holte mich mit dem Auto ab, das war im März, mittags, es regnete in Strömen, auf der Berliner Allee hielten wir noch einmal an und ich kaufte in einer Drogerie einen blauen Schirm. Einen Schirm. Nicht zwei Schirme, für zwei Schirme reichte das Geld nicht. Wir parkten das Auto vor dem Friedhof, spannten den Schirm auf und gingen hinein. Sie bestimmte den Weg. Ich hielt den Schirm. Der Schirm war klein, wir gingen eng nebeneinander, sie hätte ihren Arm in meinen legen können, aber das tat sie nicht. Ich erinnere mich nicht mehr daran, worüber wir redeten während des Spazierganges. Der Regen war laut auf dem Schirm. Vielleicht redeten wir nicht, das kann auch sein, möglicherweise redeten wir nicht. Sie zeigte mir einen Grabstein – eine Inschrift auf einem Grabstein: „Liebe macht das Lied unsterblich“. Ich vergesse das nicht, es hat mich nicht getröstet damals, aber es tröstet mich heute. Wir gingen eine Stunde lang durch den Regen über den Friedhof, dann fuhr sie mich mit ihrem Auto, in dem der blaue Schirm, wie sie sagte, von nun an für immer bleiben würde, nach Hause; wir sahen uns noch ein paar Male, dann irgendwann nicht mehr.
Ja, sage ich zu dem Fotografen in Gedanken, so war das. Ich habe diese Frau, deren Namen ich für mich behalten und ihr auch keinen andern geben will, nicht gefragt, warum gerade der Jüdische Friedhof Weißensee einer ihrer liebsten Orte war. Sie war nicht jüdisch. Sie bekam, das erzählte sie, oft Besuch aus Israel und mit diesem Besuch ging sie immer über den Jüdischen Friedhof, so wie sie auch mit mir gegangen war. Der Fotograf hat mich nicht gefragt, warum gerade der Jüdische Friedhof Weißensee mit hinein soll in diesen Spaziergang, er hat Schön! gesagt und ich weiß, was er meint. Ich sehe ihm zu, wie er über den Friedhof spaziert – auf meinen Wegen, auf den Wegen der Frau, den Wegen der anderen, auf seinem Weg. Sein Blick auf die Grabsteine von Sarah und Isaak Rosenstein, die ein wenig gekippt sind und sich aneinanderlehnen. Sein Blick durch das Objektiv seiner Kamera. Er wird alleine sein, man begegnet dort niemandem. Schön – die hohen Bäume, die stillen Wege, ihr Ende nicht in Sicht. Steinchen auf den großen Grabplatten in der Gruft mit der Kuppel aus blauem Glas. An einer Kreuzung ein Obelisk mit moosigem Kopf und eingraviertem Pfeil: zum Ausgang. Dass wir uns das noch aussuchen dürfen. Ich habe, als ich zum zweiten und letzten Mal dort gewesen bin – alleine, im Januar, ohne Regen und ohne Schirm – im Blumenladen neben der Pforte eine Postkarte gekauft mit einem Foto der Friedhofswege im Herbst. Rote Blätter. 60 Cent. Darüber nachgedacht, sie vielleicht der hellen, großen Frau zu schicken und den Faden unserer Bekanntschaft somit wieder aufzunehmen, bis jetzt habe ich sie nicht abgeschickt. Sie steckt zwischen den Seiten meines Kalenders, wer weiß, für wen sie eines Tages sein soll und aus welchem Grund.
Der Weiße See
Weißensee. Wenn wir schon einmal hier sind, der Fotograf und ich und das eine oder andere Gespenst aus vergangnen Zeiten, dann gehen wir, sage ich, jetzt noch ein Stück ins Komponisten-Viertel hinein und weiter bis zum Park vom Weißensee.
Und dann ist es so, das sage ich auch, ich sage es zum Fotografen, mit dem ich im Laufe dieser Seiten hier in eine seltsame Bekanntschaft geraten bin - ich habe den Fotografen noch nie gesehen, ich kenne nur seine Stimme am Telefon, ich weiß, dass er jemand ist, der so langsam mal ein Thema braucht und es hat sich ergeben, dass er gerade immerzu an meiner Seite ist, eine Gestalt ganz nach meinen Wünschen, immer mit der Kamera vorm Auge und bereit zu sehen was ich sage; wenn wir uns erstmals gegenüber stehen werden in der so genannten Wirklichkeit, wird sich das erledigt haben – und dann ist es also so, dass es auch Orte gibt, die haben gar keine Geschichte für mich. Wohl eine Erinnerung, dieses Bild, jenes, aber eben keine Geschichte - so ein Ort ist der Weiße See. Macht nichts. Gehen wir trotzdem hin: gerade deshalb. Der stille Friedhof hinter uns und geradeaus, dann immer nach rechts. Bizet, Mahler, Smetana, Chopin und Brahms. Alle Straßen gehen auf die Indira-Gandhi-Straße hin, die Indira-Gandhi-Straße geht nach links auf die Berliner Allee, in der breiten Kurve der Berliner Allee liegt der Eingang vom Park am Weißen See.
Am Weißensee gibt es ein altes Strandbad. Blauweiß gestreifte Liegestühle. Ich habe dort mal gesessen, einen Abend verbracht, hinter den Bäumen auf der anderen Seite des Sees ging die Sonne unter, von rechts schwebten sachte die Flugzeuge ein, ich trank Rotwein, überm See hing ein Staubschleier, der Sand war tatsächlich warm vom Tag, spät kamen die Mücken und im Fernseher oben in der Strandbar lief ein Fußballspiel; so kann man sitzen im Strandbad Weißensee, dort unten oder auf einer Bank ein wenig höher im Park und zwischen Rabatten aus Schilf und Lavendel, nach Einbruch der Dunkelheit kommen die Jugendlichen, bringen sich Biere mit und knutschen oder lassen es bleiben; ganz spät tasten sich die Flaschensammler, sehr höfliche Leute, an den Bänken vorbei und klirren leise mit den leeren Flaschen. Vor langer Zeit – das könnte ich meinem Kind erzählen - war hier einmal ein Vergnügungspark, ein Berliner Tivoli, das Welt Etablissement Schloss Weißensee. Es gab ein Seetheater, Musik-Pavillons, Riesenrad, Schießhalle, Hippodrom und eine Schweizer Berg-und-Tal-Bahn. All das ist nicht mehr. Dem Kind wäre das vertraut – es war einmal und ist nicht mehr. Stattdessen aber eine Badestelle, ein Bootsverleih, eine Freilichtbühne, eine Liegewiese, ein Rosengarten, eine Sonnenuhr. Denke ich an den Berg, an den Friedhof, so scheint der Park vom Weißen See geradezu zivilisiert zu sein, ein heller, freundlicher Ort. Nicht verwunschen. Nicht schwierig. Nicht melancholisch, keinerlei Sentimentalität. Anderer Leute andere Geschichten, also jetzt einmal um den See herum mit leichtem Herzen. Das ist ein kurzer Weg, eine maßvolle halbe Stunde, wenn man langsam geht, sich ab und an etwas mitzuteilen hat, stehen bleibt, um nach den Schwänen zu sehen oder den Rehen im Dammwildgehege, oder auszuruhen auf der grünen Bank auf die jemand mit schwarzem Stift das gute Wort „Lyrics“ geschrieben hat und die an einem klaren Januartag um elf Uhr am Vormittag genau in der Sonne steht. Und dann weiter. Warum wohl hält mich hier nichts?
Das Schloss Weißensee, das als Kaserne genutzt wurde, ist abgebrannt, am 21. Februar 1919. Die Brauerei in der Berliner Allee steht noch, im alten Ballsaal der Brauerei ist heute das „Kulturhaus Peter Edel“, nach der vergangnen Festlichkeit kann man auf den Fotos suchen, die neben der Garderobe hängen hinter Glas. Das ist also auch vorbei. Aber im Anbau des Kulturhauses ist das Umweltbüro Weißensee zu finden und in seinem kleinen Foyer stehen Schaukästen mit den getrockneten Pflanzen und Kräutern des Parks. Fotografier das, sage ich zu dem Fotografen, tu mir den Gefallen. Gelbes Sonnenröschen, blutroter Storchenschnabel, raue Gänsedistel, wilde Malve, gemeiner Beifuß und strahlende Kamille. Kaukasische Flügelnuss, Bitternuss, Götterbaum. Lyrics.
Café Surprise
Und dann gehen wir die Berliner Allee hinunter bis zum Antonplatz. Wir gehen an Reinigungen vorbei, Haushaltswarenläden, Reisebüros, Waschcentern, Euro Asia Imbissen, Drogerien und Handy-Shops. Immer geradeaus. Gibt nicht mehr viel zu erzählen. Am Antonplatz in die Straßenbahn, M 13, eine Station bis zur Behaimstraße. Als ich Kind war – ich sage das so sachlich wie möglich – ging ich in der Karl Marx Straße in Berlin Neukölln einmal in der Woche zur Ballettschule. Die Ballettschule gehörte Alice Oswald. Alice Oswald war klapperdürr, eine Zwergin mit einer riesigen Trommel auf der sie einen zornigen Takt schlug, zu dem wir voller Angst in die Höhe sprangen, elf kleine Mädchen, eine Stunde lang, auf und ab vor blinden Spiegeln. Im Café neben der Ballettschule, die in einem düsteren Hinterhof lag, saß bei Sachertorte und einem Kännchen Tee meine Großmutter und wartete auf mich. Wenn die Stunde vorbei war und ich aus der Unterwelt zurückkehren durfte, bekam ich eine heiße Schokolade, und dann spazierte ich mit meiner Großmutter nach Hause. Diesen Spaziergang, sage ich, hätten wir auch machen können, einen Spaziergang durch Neukölln. Aber das ist mir zu heikel, ich kann es nicht erklären, ich bin befangen, zu verstrickt. Und letztlich ist das alles auch ein und dasselbe. Der Spaziergang damals mit meiner Großmutter durch die immer regennassen Neuköllner Straßen führt direkt in diesen Spaziergang hier und jetzt hinein, wir gehen von Bild zu Bild.
An der Langhansstraße Ecke Behaimstraße gibt es ein Café, das früher einmal „Café Guske“ hieß und jetzt „Café Surprise“. Ich habe mich dort einmal mit meiner Freundin Constanze getroffen, die auf ihr Kind wartete, das in einer Hinterhofwohnung zwei Häuser weiter Geigenunterricht bekam. Ich weiß nichts über den Geigenunterricht. Nichts über die Geigenlehrerin, den Schrecken oder das Glück, heute spielt dieses Kind nicht mehr Geige, sondern Klavier. Aber ich erinnere mich an die Stunde im „Café Surprise“ mit Constanze, der es fast peinlich war, mich aus dem Prenzlauer Berg in diese dunkle, fremde Gegend geholt zu haben und der ich dann von Alice Oswald erzählen konnte und dem Café in Neukölln, das es heute noch gibt, die Ballettschule gibt es nicht mehr, aber an der grünspanigen Tür zu ihren Räumen steht noch immer Alice Oswalds Name. An diesem Nachmittag im Oktober trug Constanze einen braunen Pullover und eine Bluse mit geblümtem Kragen. Die Haare zum Zopf. Wir saßen, so wie damals meine Großmutter und ich, auf Stühlchen mit rotem Samtbezug vor einer Garderobe, an der unsere Jacken auf Bügeln hingen. Musik aus dem Radio. Golden beleuchtete Torten hinter Glas. Eine Kellnerin in einer weißen Schürze, sehr freundlich. Constanze trank ein Glas Rotwein, das war beeindruckend, es war Nachmittag, aber draußen wurde es schon dunkel. Dann kam das Kind ins Café, den ganz kleinen schwarzen Geigenkasten unter dem Arm und mit erhitztem Gesicht. Wir zahlten und gingen zusammen nach Hause.
Es soll ja, sagt der Fotograf am Telefon, auch ein Foto gemacht werden. Das musste dir dann irgendwie aussuchen, das Foto, da sollst du drauf sein, wo willst du das machen. „Im Café Surprise“, sage ich, selbstverständlich dort, wo denn sonst, ich stelle mich nicht auf den Berg vor die Aussicht nach Osten, überhaupt will ich all das doch für mich behalten, verstehste, den Volkspark, Grönland, das Liebeslied; den Weißensee kannst du haben, das Café Surprise in gewisser Weise auch – es bleibt ja doch meines, sage ich zu mir selbst, es ist ohnehin nicht zu teilen, mit niemandem nämlich, leider.
Also – im „Café Surprise“ selbstverständlich, am Fenstertisch auf der roten Samtbank mit dem Spiegel dahinter und vor einem Kännchen Kaffee, einem Stückchen Eierschecke sitzend, die Eierschecke macht der Herr Guske selber, er steht in der Küche und bäckt, ihm gehört das Café, immer schon, und im Übrigen hat er es zu Ostzeiten in „Surprise“ umbenannt, und warum, das weiß niemand. Ich habe hier einmal mit meinem Kind gesessen, es hat einen Eisbecher bestellt und die verstaubte Schönheit dieser Umgebung nicht besonders würdigen wollen. Ich habe hier auch mit der großen Frau gesessen, die sich für ein Glas grünen Tee entschieden und mir glaubhaft versichert hatte, dass dieses Café genau so sei, wie die Cafés ihrer Kindheit, in denen sie mit ihrer Großmutter saß vor über 30 Jahren und in der Zone, im Osten, damals. Ich habe hier alleine gesessen und einen Kaffee getrunken, Eierschecke gegessen, es ist also alles richtig, es sind alle da, wir können das Foto jetzt machen. Ich setze mich ganz gerade hin und schaue mal am besten links aus dem Fenster. Hoffe, das geht so mit dem Licht. Wenn du, sage ich zu dem Fotografen, auf den Auslöser deiner Kamera gedrückt hast, haben wir einander kennen gelernt. Ist der Spaziergang vorbei.