Der „Grenzfall“ Ruhgebiet als disparater Raum von dynamischen Spannungsfeldern, als ein zwischen Natur und Zivilisation, Industrie und moderner Technik, Arbeitswelt und Kunstsammlung schwankendes „Revier der Möglichkeiten“. Die Autorin lädt ein, sich auf die Unübersichtlichkeit dieses Verkehrsnetzes einzulassen und es in seinem Rhythmus, seiner Mehrdimensionalität und seiner Freiheit an sich selbst zu erfahren.
Barbara Köhler
»Duisburg für Anfänger«
Fotos: Barbara Köhler
Seit Ende Juli 2010 wissen es plötzlich wiedermal alle (und vor allem die, die’s ja immer schon wussten): Duisburg ist die Stadt mit dem „Schimanski-Image“, das sie auch nie und nimmer loswerden wird – denn immer, wenn sie’s versucht, passiert etwas noch Schlimmeres: Mafia-Morde, Rocker-Bandenkrieg, Loveparade-Katastrophe. Kismet…
In kaum einem der darauf folgenden Berichte über die Stadt durfte das Adjektiv „marode“ fehlen und als Farbe kam einzig „grau“ infrage (womit wohl eher ein Anthrazit gemeint war; aber das hätte zu edel geklungen). Es scheint sich – in Analogie zur just frisch erfundenen Bad Bank – um eine Art Bad Town zu handeln, in der postindustrielle Konkursmassen bis zur finalen Abwicklung geparkt werden und in regelmäßigen Abständen den Rest der Republik mit Grusel-News versorgen. Eine echte No-go-Area?
Wenn man schon 16 Jahre in Duisburg überlebt hat, kann man auch finden, dass man hier besser fährt: mit Fahrrad (fantastisches Radweg-Netz!), mit den Öffentlichen, mit Auto; nur zu Fuß ist die Stadt eher etwas für Fortgeschrittene. Daher empfiehlt diese Tour Linien, auf denen sich der Eindimensionalität entkommen ließe, die Gegensätze verbinden, die selten so dicht und spannungsreich beieinander liegen wie hier: Sehwege, auf denen man ein Bild bekommt – und kein Image.
I Entenfang
Wo Duisburg aufhört, an einem entlegenen Ende des Stadtplans, hinter den Sechs Seen und jenseits der Güterbahn, wo schon Mülheimer Gebiet beginnt, aber Mülheim und Ruhr noch weit weg sind und auch Ratingen-Lintorf kaum näher, schlägt die dort sonst fast geradlinig in Nord-Süd-Richtung verlaufende Gemarkungsgrenze zwischen den Städten einen sonderbaren Bogen um einen kleinen See, ungefähr dessen westlichem Ufer folgend, das so streckenweise zu Duisburg, das Wasser aber vollständig zu Mülheim gehörig erscheint. Ein paar Meter entfernt vom Ufer endet eine Regionalbahn 37 an der Station „Entenfang“ und dies ist auch der Name des Sees. Nach dem einfach auf Kante asphaltierten Perron, ein Stück hinterm Prellbock und parallel zu den Gleisen des kilometerlangen Güterbahn-Rangier-Geländes, das hier mählich ausläuft, zuzuwachsen beginnt, erstreckt sich, fast unsichtbar hinter Gebüsch und Bäumen, auch noch ein kaum 7 Meter breiter, ein paar hundert Meter langer, schnurgerader Graben, den die Karte seltsam versprechend als „Weissen See“ bezeichnet – was die Fakten allerdings in einer Weise verfehlt, die für ein Paradox nicht genug Spannung aufbringt und es eher unwahrscheinlich macht, dass er so auch genannt wird. Beansprucht wird er mittels eines verschlossenen Tores von einem „EASV e.V.“; ob das etwa einen Eisenbahner-Angelsportverein meint, bleibt obskur wie das Wasser im Graben.
Unter der Woche und manchmal sogar an Sonntagen quietschen dahinter sporadisch Züge, klirren und krachen mit Getöse Waggons ineinander, Metall auf Metall. Auf der anderen Seite, östlich des Entenfangs dröhnt die A3, eine sechsspurige Amateur-Rennstrecke Richtung Köln/ Frankfurt. Dieses Geräusch hört man unaufhörlich, um den ganzen See, als einen Niagara oder reissenden Fluss oder Tinnitus, je nach Entfernung und Windrichtung, doch ist nichts dazu Passendes zu sichten; als sei es bloß ein Soundtrack, Tonspur aus einem anderen Film, die falsche Klangtapete vom AudioPlayer. Einmal nur, mitten im Wald, übernimmt, übertönt ein Bach das Rauschen, ein überbrückter Miniwasserfall von einem halben Meter Höhe, der die Akustik kaum spürbar verändert – aber plötzlich rauscht es natur-synchron, rauscht im O-Ton, und das kann ein kleines Erschrecken hervorrufen.
Optisch gibt es an dieser Natur nichts auszusetzen, man läuft hindurch wie über die Heide von Hampstead, durch so ein hinreissend schönes Herbstleuchten beispielsweise zwischen färbigen Bäumen. Oder jenes unglaubliche rosige Schimmern in der Woche, bevor die ersten Knospen aufgehn; nur zwitschern wohl die Vögel in einem wieder anderen Film (der etwa im Central Park spielen könnte), und wenn einem nach ungefähr zwölf Minuten die gleichen Leute wieder begegnen, die nun wie alte Bekannte grüssen, weiss man: den Entenfang hat man zur Hälfte umrundet. Es gibt eine winzige Insel an seiner engsten Stelle, die aber das Ganze perspektivisch enorm zu weiten vermag und ordentlich etwas hermacht als romantische Idee; selbst Lancelot „Capability“ Brown hätte sie sinnfälliger nicht plazieren können.
Ihr gegenüber, im Hinterland des östlichen Ufers, nah der A3, findet man die "Schlemmer-Insel", einen Kiosk mit handgemalter Reklame im Stil der 1960er, ein Schildchen präzisiert: „Trinkhalle Margret Bitterschulte“, die sich zu jeder Jahreszeit und bei den meisten Wetterlagen eines regen Zuspruchs erfreut. Unter dem verblasst grünen Wellplastik-Vordach bekommen Horst und Heinz („Tachauch!“) ihr Pilsken ungefragt übern Tresen gereicht, Brühwurst dauert und saure Gurken gibt’s einzeln und extra für 50 Cent. Die Brühwurst ist eine richtige, mit richtig Senf und einer diagonal halbierten, dicken, weichen Weissbrotscheibe auf Pappe. Einzige Spuren des jungen Jahrtausends sind die mit Edding auf weißer Übermalung nachgetragenen Euro-Preise. So beschrieben in einer Notiz von 2009 – hat sich nur ein Jahr später das meiste verändert; eigentlich alles, außer dass Brühwurst dauert. Immerhin gibt es den Kiosk noch, nunmehr sogar mit Internetpräsenz unter fd-entenfang.de…
Südwestlich, gegenüber auf der Duisburger Seite residiert ein Verleih für je fünf Ruder- und Tretboote, die letzteren im Motorboot-Design der 70er Jahre eines ebenso verblichenen Jahrhunderts – was man damals „schnittig“ nannte, Plastik in Farbkombinationen wie Orange plus Blau. An den Süduferweg grenzt eine Kreuzung aus Dauer-Campingplatz und Kleingartensparte, mit erstaunlich hohen und noch erstaunlicher gestutzten Thuja- und Taxushecken um Autostellplätze, zwischen Blockhütten, Baracken und eingewachsenen Wohnwagen mit Satellitenschüsseln und Deutschlandfähnchen, manche sogar noch mit rostigen Antennen. Pflanzen erscheinen sonst vor allem als ein Beiwerk in Blumentöpfen und penibel rasierte Rasenflecken, ein Anlass für enorme Mengen dazu arrangierter Gartendekoration.
Am Nordwestufer befindet sich das mit Jägerzaun eingefriedete Klubhäuschen des Anglervereins „Fischwaid“ – zugänglich allerdings „Nur für Klubmitglieder“, dem Rest der Bevölkerung wird empfohlen: „Besuchen Sie uns im Internet unter www.avfischwaid.de“. Am Anleger Reihen grün überdachter Boote: schwimmende Zelte, die an manchen Tagen übers Wasser verteilt sind wie die seltsame Siedlung einer fremden Zivilisation.
Rings um den See gibt es winzige Badebuchten, die im Sommer möglicherweise bei – das Wort hat auch so ein seltsames 60er-Jahre-Aroma – Pärchen beliebt sind, und einen durchwurzelten Weg, brüchiger Asphalt durch Urwäldchen, Dickichte aus Brombeeren, Springkraut, Brennnesseln und riesige Adlerfarnbestände, vorbei an lichten Wiesen und ein paar Quadratmetern Sandstrand, auf dem eine doppelstämmige Birke steht, deren Wurzeln freigelegt erscheinen. Ein geflochtener, hohler Hügel, als sei der Sand mehr als einen Meter höher gelegen, als sie jung war; wie seltsam, dass sie noch steht, noch lebt so.
Hinter der „Schlemmer-Insel“, zur A3 hin, gibt es eine weglose Wildnis mit Wasserlöchern, sumpfigen Tümpeln voll Entengrütze und Schwertlilien, Windbruch und dick bemoosten Baumstümpfen, überwachsen von wilder Waldrebe; für die Gegend aber sieht das alles ein wenig zu natürlich, zu ungezwungen aus, und auch die Umrissformen des Sees tun so verdächtig zufällig und absichtslos. Wer sich die Mühe macht, im Katasteramt nachzufragen oder einen älteren Stammkunden der Trinkhalle anzusprechen, erfährt schnell, dass der See ein künstlicher ist, als Kiesgrube angelegt in den 1920er Jahren, als es noch keine Autobahn gab und keine Sechs-Seen-Platte, nur ein paar Güterbahngleise tief im Wald, den Weißen See als nicht nennenswerten Wassergraben – und diese eigenartige Beule in der Gemarkungsgrenze.
Ein bisschen abgelegen, ein bisschen aus der Zeit gefallen: ein See, der eine Art Insel ist, mit diesem komischen Namen „Entenfang“, einem Anklang zwischen Ente und Anfang, ein Grenzfall zwischen zwei Städten, halb gebastelt und halb gewachsen, halb aufgegeben und doppelt angefangen. 1930 soll es zwei schmale Gewässer mit zwei Inseln gegeben haben, sagt eine alte Karte; in dieses Jahr fällt auch bereits die Gründung des Anglervereins „Fischwaid“. Von den beiden zuständigen Stadtverwaltungen scheinbar glücklich vergessen, bei deren Bevölkerungen durchaus beliebt, geliebt auf eine ganz alltägliche Weise: keinerlei avancierte Freizeitaktivitäten sind zu beobachten, vereinzelte Jogger nur, Wochenend-Radler höchstens in Kleinfamilien, nicht Rudeln, einige stöckchenwerfende Hundehalter, alte Frauen mit Sudoku oder Strickzeug sonnen sich. Sonntagsspaziergänger hauptsächlich, auch unter der Woche, in kleine Wolken von Weichspülerduft, Parfüm oder Aftershave gehüllt, die Damen verlässlich blondiert. Neben den obligatorischen Enten und ein paar Blesshühnern gibt es manchmal genau ein Paar schwarzer Schwäne und einmal pro Stunde fährt vom Gleis 1 des Duisburger Hauptbahnhofs ein Triebwagen Richtung „Entenfang“: ganze drei Stationen.
II Linien
Und einmal pro Stunde wechselt auch nur die Zielanzeige auf Bahnsteig 1; ebenfalls im Stundentakt fährt eine S-Bahn da ab, die S2 nach Dortmund. Sie nimmt jedoch nicht die Ruhrgebiets-Hauptstrecke via Mülheim – Essen – Bochum (das tut alle 20 Minuten die S1 von Gleis 9), sondern den Weg durch die Vier-Silben-Gegend im Norden: Oberhausen – Altenessen – Gelsenkirchen – Wanne-Eickel – Castrop-Rauxel; zweisilbige Brückenpfeiler der Linie sind Essen und Herne, von wo noch ein Abzweig auf Recklinghausen zielt. Es wäre dies ein durchaus empfehlenswerter Ausflug, um mit dem Ruhrgebiet anzufangen: bis Dortmund eine Stunde, ebenso dann retour nach Duisburg auf der Hauptstrecke mit der S1. Eine Rundreise entlang an den Rückseiten der Städte, durch Bahndammdschungel (das oft bestaunte Ach-so-Grün voller wilder Müllkippen) und an Graffitti-Galerien vorüber, an Kleingartenkolonien, unter Auto- und Werkbahnbrücken hindurch, über ausgedehnte Industriebrachen, teils üppiges Pionierpflanzenbiotop, teils mit sauber sanierten Zechengebäuden, die möglicherweise als „Technologiezentren“ genutzt werden. Eine durch und durch gemodelte Landschaft: ergrabene Seen, kanalisierte Bäche, aus Abraum gebaute Berge; Bauernhöfe, Kleingärten, ein Weltkulturerbe, das extra angesagt wird, Kraftwerke neben Pferdeweiden, plötzlich Anzeichen von Innenstädten (Kirchtürme und Hauptbahnhöfe), zu denen es dann aber nur auf der Hauptstrecke kommt. Ein Hochhaus mit Mercedes-Stern, das sich zu wiederholen scheint. Das Unablässige, das Nichtendenwollen der Stadtschaft hinter den Bäumen.
Es sind Linien, die das Disparate liieren, auf denen man das Ruhrgebiet erfahren kann, die es zusammenhalten und in der Welt. Linien, auf die es hier eher anzukommen scheint als auf Orte, Sehwege, auf denen man anders ankommt: in Bewegung. Spannungslinien, durch die Energie fließt, potenzielle Energie, dort generiert, wo es Widersprüchliches, Polares zu verbinden gelingt.
Man ist ja so schnell weg aus Duisburg, dieser Halbmillionen-Kleinstadt, der Hauptbahnhof hat 13 Bahnsteige, Gelegenheiten in alle Welt: 2 Stunden nach Amsterdam oder Frankfurt am Main, nach Brüssel – mit einmal Umsteigen – drei, bis Berlin knapp vier (wie nach Luxemburg), eine halbe Stunde länger nur nach Paris oder Basel oder Oostende; sogar London wäre machbar per Bahn: 2x umsteigen, knapp fünfeinhalb Stunden bis St.Pancras; 23 Minuten länger als nach München. Für weitere Destinationen stehn in einer S-Bahn-Viertelstunde die Maschinen auf dem Düsseldorfer Flughafen bereit.
Die Stadt ist verzurrt in einem Knoten aus 4 großen Autobahnkreuzen, von Wasserstraßen durchzogen: Rhein und Ruhr und Kanäle und der vielbeschworene „größte Binnenhafen der Welt“ (wenn nicht Europas…) und manchmal klingt es, als würde hier eine Art multidimensionales Schach gespielt: von der A3 über die A42 auf die B8 – oder mit der U79 bis Hauptbahnhof, dann die 901, die S4, den RE5, SB10 oder eben die RB37.
Duisburg, lässt sich daraus auch schließen, ist nichts für Fußgänger – oder etwas radikaler zusammengereimt, die Losung in lokalem Slang: DUISBURG IS NIX FÜR ANFÄNGER. „Autogerecht“ eingerichtet wie all diese Nachkriegs-Ruhrgebiets-Städte, aber auch mit einem ziemlich flächendeckenden Nahverkehrsnetz, in dessen Linien man sich allerdings auskennen muss; Hinweise werden nur sehr spärlich und offensichtlich ungern erteilt, es gehört zu den unentdeckten Abenteuern der Stadt. Man könnte es als Herausforderung, als Spiel betrachten, als eine Schatzsuche, Schnitzeljagd, die am Bahnhof beginnt; oft scheitern Reisende schon beim Übergang in die U-Bahn, auf der Suche nach Tram oder Bus. Die Taxi-Innung immerhin freut’s; ihre Stellplätze findet man noch am leichtesten.
Aber Duisburg hat eine U-Bahn – oder zumindest sieben subterrane, sogar von mehr oder weniger bedeutenden Künstlern (Gerhard Richter z.B.) gestaltete Tram-Haltestellen – und die Linie U79, die zwischen Bahnhof Meiderich und Steinsche Gasse via Hauptbahnhof sechs davon passiert, um dann oberirdisch als ganz normale Straßenbahn über Feld und Flur und Froschenteich und Kaiserswerth bis nach Düsseldorf weiterzufahrn, in die Landeshauptstadt, wo es dann wieder ein paar Haltestellen unter der Erde hat: die ehemalige D-Bahn, wie gern in eventuelle Auskünfte zur weiteren Verwirrung Ortsunkundiger eingeflochten wird. Auch dies wär ein empfehlenswerter Ausflug, ebenfalls etwa 1 Stunde für eine Strecke, die der ICE in 12 Minuten erledigt, ein Regional-Express braucht – mit Zwischenstopp am Flughafen – grad 14; die S-Bahn eine halbe Stunde; doch diese Straßen- oder U- oder D-Bahn (die in den Duisburger Südvierteln zudem als Hochbahn verkehrt) ist ungleich spektakulärer und fährt alle 10 Minuten.
Übertroffen wird sie in ihrem „Erfahrungswert“ höchstens noch von den Tramlinien 901 und 903 – und es gibt nur diese beiden; weder eine 900 noch 904 existieren; 905 ist schon ein Bus und die 902 eine Art Geisterbahn, die nachts gradmal eine Handvoll Haltestellen anfährt. Zwei Linien nur, die aber, bei je einer Stunde Fahrtzeit von Endhaltestelle zu Endhaltestelle, eine Vielzahl von Welten durchqueren. Unterm Duisburger Hauptbahnhof kreuzen sie sich, die 901 kommt da aus dem Osten, vom Mülheimer Hauptbahnhof: ein Überbleibsel jener langen Linie bis Dortmund, auf der Joseph Roth einst die "Trübsal einer Straßenbahn im Ruhrgebiet“ erfuhr; die 903 hat im Duisburger Süden die Endstelle „Mannesmann Tor 2“, der Stadtteil heißt Hüttenheim und im Hüttenwerk dort wird noch Stahl gekocht.
Beide Linien führn weiter Richtung Norden, über die Häfen oder unter Ruhr und Kanal, Haltestellen der 901 tragen Namen wie „Thyssen Tor 30“, „Thyssen Kokerei“(demnächst dort vermutlich „Grünzug Bruckhausen") oder „Thyssen Verwaltung", dazwischen „Matenastraße“: wo das Ruhrgebiet auch noch so aussieht, wie man es sich anderswo vorstellt – und eine „Metropole Ruhr“ um keinen Preis sein möchte, in der es Thyssen sowieso nicht mehr geben soll, höchstens noch „TKS“: die modisch cleane Abkürzung für ein ins Globale fusioniertes ThyssenKrupp Steel. Neue Hochöfen und Kühltürme werden inzwischen bunt verkleidet und sehn nicht mehr aus wie Maschinen, in denen Menschen verschwinden; die Zeiten sind vorbei… die Zeiten, als man so was noch sah und darauf zeigen konnte.
Ein Gegenstück dieser Gegend befindet sich an der 903 unweit der Haltestelle „Landschaftspark Nord“ – und hier wird noch an die Kraft der Worte geglaubt und eine wirklichkeitsverändernde Spannung, die durch paradoxe Benennung entstehen kann: was „Landschaftspark“ heißt, ist ein altes Hüttenwerk, Produktionsaus 1985. Die Rede von den kleinen Leuten und der Großindustrie erscheint ganz augenfällig in diesem Jurassic Park des Industrie-Zeitalters; die Proportionen stimmen – aber die Verhältnisse nicht mehr: Hochofen 5 wird als Aussichtsturm bestiegen, die Werkbahngleise führen neben Radwegen durch Obstbaum-Haine, in der Sinteranlage finden sich traumhafte Gärten, im Gebläsehaus ein Theater, Tauchsportler im Gasometer und im Möllerbunker die Kletterstrecken des Duisburger Alpenvereins.
Mit etwas Glück gerät man bei einer Führung an einen alten Herrn, der selber am Ofen gearbeitet hat und etwas anders und anderes erzählt als das üblich geschulte Personal; vielleicht ja kaum spürbar, mit minimaler Verschiebung nur, hin zu einer Art Stimmigkeit, zum O-Ton, ein Erschrecken wär möglich.
Der Ort erscheint als ein seltsam utopischer, so unwirklich wie real; es könnte daran liegen, dass die Verlassenschaften der Montan-Industrie hier nicht zur Kulisse, zur „Location“, zu bloßem Dekor degradiert werden – für Design etwa und anderweitige „Events“, die damit nicht das Geringste zu tun haben und die Orte nur noch ein weiteres Mal ausbeuten, final ausschlachten. Hier ist ein Arbeitsbereich zum Freizeitbereich verwandelt, pathetisch könnte man sagen: eine Welt der Notwendigkeit in eine Insel der Freiheit verkehrt worden (verkehrt: umgestülpt: erinnert) – und nicht primär als Investorenköder oder als exotischer Anreiz für ein zahlungskräftiges Publikum von Außerhalb, sondern für die gleichen „kleinen Leute“, die in den kleinstädtischen Strukturen der Umgebung mit ihren Kleingärten noch die unmöglichsten Winkel urbar machen, sonntags sonst häufig auf Minigolf-Plätzen anzutreffen sind, und gern kleine Geschichten zum Besten geben: Dönekes, worauf auch die beliebteste Kunstform der Gegend basiert: Kabarett, Comedy – Kleinkunst. Dieses Klein-Klein kann man ziemlich spießig finden, und oft ist es auch nichts anderes; doch gibt es Orte wie diesen „Landschaftspark“, Situationen, wo es, wo sich etwas trifft, etwas stimmt: wo dieses Kleine, Alltägliche in ein Verhältnis findet und darin zu einer Größe, die keine absolute ist, sondern eine relative, relationale, so veränderbar- wie verbindliche. Man könnte es Lebensgröße nennen; eine Maßgabe.
Weiter im Norden treffen sich die Linien 901 und 903 ein zweites Mal, die Kreuzung heißt "Marxloh Pollmann"; um die Ecke der August-Bebel-Platz, den eine Friedrich-Engels-Straße tangiert, und auf den auch die Karl-Marx-Straße mündet: ein zur Hälfte beschaulich grünes Einbahnsträßchen, die andere Hälfte Sackgasse am lokalen Einkaufs-Center. Der Name des Stadtteils Marxloh hat mit dem Straßennamen nichts zu tun. Aber auch das Stahlwerk ist nicht weit und ja – es gab hier mal eine Arbeiterbewegung… Die Pollmann-Kreuzung ist umgeben von Läden, in denen Ausstattungen für Märchenprinzessinnen angeboten werden, für Feen und Elfen, für rauschende Feste; eine türkische Heiratsindustrie scheint hier ihr Zentrum zu haben: prächtige, paillettenglitzernde Kleider und Goldschmuck für große Träume von sozialem Aufstieg – oder auch nur vom kleinen Glück.
III Fußläufiges
Wer aber den Zugang zur U-, zur D-, zur Straßen-Bahn partout nicht finden sollte, kann vom Hauptbahnhof aus vielleicht ja doch ein Stück zu Fuß gehen – mutig zum Haupteingang hinaus, geradeaus, die A59 überqueren (auf einer Brückenkonstruktion, die den Bahnhofsvorplatz trägt), dann an der linken Ampel über die Mercatorstraß;. auf der Ecke, wo sich ein himmelblau angestrichenes Hochhaus befindet (ohne Mercedes-Stern – woran man Duisburg fast erkennen könnte…), nun die Friedrich-Wilhelm bis zur ersten Querstraße links, der Hohen Straße – oder wahlweise auf der Mercator links bis zur zweiten Querstraße rechts, die Güntherstraße heißt; die Gegend gilt nun mal als „Revier der Möglichkeiten“ – es gibt immer mehr als einen Weg und oft unterschiedliche Geschwindigkeiten, um einen Ort zu erreichen. Übrigens selbst für Autofahrer: das hier signifikanteste Verkehrszeichen zeigt drei schwarze Pfeile auf weißem Grund, nach links, nach rechts und geradeaus weisend, manchmal noch ergänzt durch ein imperatives EINORDNEN!; es ist ca. 100 m vor Kreuzungen installiert und wird nur in eher seltenen Fällen ergänzt um Auskünfte, wohin das führen könnte: als sei das völlig gleich…)
Wo die Hohe auf die Güntherstraße trifft, trifft die Besucherin, der Besucher auf das Museum DKM. Auf beiden Strecken wird er oder sie zuvor ein Beispiel dessen passiert haben, was in „richtigen“ Großstädten ein Bahnhofsviertel mit Halbwelt und Nachtleben ausmacht; hier gibt’s bloß diese beiden, wenig verheißenden Zitate, die der üblichen Gemengelage eine spezielle Note hinzufügen. Die Florida Table Dance Bar verspricht „Cocktails & Dreams“ und der „Erotiktreff“ "FÜR SIE, IHN & ES" tatsächlich: „Pärchen haben freien Eintritt“. In den Nebenstrassen wird gewohnt und wo die Güntherstraße aufhört, beginnt der Kantpark, in dem auch das Wilhelm-Lehmbruck-Museum zu finden wäre.
Wo die Hohe Straße aufhört, wie gesagt: das Museum DKM.
Bei diesen drei Buchstaben handelt es sich weniger um eine Abkürzung, eher um eine Verbindung; sie fusioniert die Initialen der beiden Sammler Dirk Krämer und Klaus Maas. Das Museum ist ein verwandeltes Gewerbegebäude aus den 60er Jahren, die sich noch ablesen lassen an den Geländern in beiden Treppenhäusern oder an den ockerfarbenen Fliesen der Fassadenbasis. Solche Elemente aber sind dezent eingepasst, aufgenommen in eine Neugestaltung ohne Retro-Koketterie, wie sich ja auch die ganze Fassade auf einen ersten Blick unspektakulär in den Straßenzug einzufügen scheint, eher zurücktritt als sich hervortut, auffällig höchstens durch eine sachliche Eleganz von Proportionen und Farbigkeit.
Dahinter öffnet sich in 51 Räumen der Kosmos einer Sammlung, die zwar für Welt- und Zeitreisen durchaus geeignet, doch keine Allerweltssammlung ist; weder Präsentation von Kapitalanlagen, Parade von Big Names und usual suspects, noch geschmäcklerisches Kuriositätenkabinett. Ihr Zeitraum spannt sich über 5000 Jahre, vom Alten Ägypten bis in die Gegenwart, über Gandhara, das China der Han und das der Nördlichen Qi, das siamesische Ayutthaya, die konkrete Kunst des Jungen Westen (und überhaupt verblüffend viel aus der Region) – um nur ein paar Eckpunkte zu nennen; enthalten sind Gefäße, Skulpturen, Malerei, Grafiken, Fotos…
Der größte Reichtum der Sammlung aber ist ihr Beziehungsreichtum. Was als bloße Aufzählung disparat erscheinen mag, entfaltet eine räumliche, augenfällige Logik, eine Kommunikation in Formensprachen über Jahrhunderte und Kontinente hinweg, geht man durch das Haus. Da gibt es Räume, die einzelnen Künstlern gewidmet sind, einem Œuvre; es gibt einen Raum, in dem nur ein Bild hängt; es gibt mehrpolige Räume, Themenräume, Zeitenräume; zwischen allen aber Beziehungen, eine Art Verbindlichkeit. Und es bleibt den Betrachtenden überlassen, diese herzustellen: wahrzunehmen. Sie ist gegeben, ohne dabei vorgegeben zu sein – nahe am Paradox.
Ein Foto im ersten Stock erinnert an eine Grafik im zweiten, man erinnert sich, wird erinnert: realisiert, dass man an genau der gleichen Stelle steht, nur eine Etage höher. Es ist die Kunst der Sammlung, dieser Sammlung, dass die Objekte in ihr gleichgestellt sind, ohne gleichgesetzt zu werden; Industriedesign aus dem 20. Jahrhundert z.B. kann neben Porzellan aus dem fünfzehnten stehn – in einer gleichen, aber nicht in derselben Vitrine. Es sind die Abstände, die Lücken, sind historische und geographische Entfernungen, über die sich Spannungsfelder aufbauen; Disparitäten, Differenzen, Intervalle, die einen Rhythmus ergeben, das Geraume dieser Sammlung: ein mehrdimensionales Gefüge, mit dem Besucherinnen und Besuchern Bewegungsmöglichkeiten eingeräumt sind, ohne irgendwie vorgeschrieben, festgelegt zu werden.
Hilfreich dabei erscheint ein Orientierungssystem, das erst einmal wenig hilfreich erscheint: es gibt keine Schilder für die Bilder, lediglich feine Schraffuren von Raumnummern an den Türgewänden, die abgeglichen werden können mit knappsten Auskünften eines an der Kasse erhältlichen Heftchens: U5. China Han (206 v. – 220 n. Chr.)… 1.2. Ägypten… 1.6. HÄNDE, Eduardo Chillida, Guiseppe Spagnulo… 2.12. Tadaaki Kuwayama… F/G/H. Ernst Hermanns… Für jemanden, der oder die gerade von der A40 (also der alten B1, der neuen E34) kommt und halbwegs gewohnt ist sich in der Gegend zurechtzufinden, klingt das eigenartig vertraut. Auch dass die Informationen wiedermal nicht reichen, um dem Befehl EINORDNEN gerecht zu werden… – es aber diese Auswahl von Richtungen gibt, eine Mehrzahl von Möglichkeiten und zwischen ihnen die Freiheit einer Wahl; und ohne dass gleich gesagt würde, wohin das führen soll. An diesem Raumpunkt aber könnten einander auch Auskenner und Anfänger begegnen; es sind sowohl die Dinge aus gewohnten Kontexten freigestellt als auch die Betrachtenden versuchsweise von eingefahrenen Wahrnehmungsmustern.
Freiheit der Wahl – eine Freiheit, die sich ja Sammler nehmen, die nicht im öffentlichen Auftrag sammeln, sondern privat, die Vorlieben nachgehen, ihnen Raum geben können; wo dieser Raum aber öffentlich zugänglich gemacht wird, steht die Frage, ob es bei der privaten Vorliebe, bei einer genommenen Freiheit bleibt – oder ob diese Freiheit etwa auch vermittelt, weitergegeben werden könnte, ob nicht sie das vielleicht kostbarste Gut der Sammlung sei.
Es steht die Frage, ob Freiheit nicht dort anfangen könnte, wo man nicht mehr weiss, was man mit den Gegebenheiten anfangen soll, wo es keine Zielgrößen und Vorgaben mehr gibt, nur Gegebenes, zu und in dem man sich verhalten muss, kann (diese Sammlung, dieses Duisburg, dieses Ruhrgebiet…); wo man den eigenen Augen trauen, Vorlieben, Impulsen folgen kann, muss – um weiter zu sehen, vielleicht das Unvorhergesehne: wie sich in Verhältnissen die Größen ändern können, wie beweglich Gleichgestelltes sein kann, wo nicht gleichgesetzt wird; wie Energie generiert wird durch bestimmte Abstände, Verbindungen hergestellt werden können, Verbindlichkeiten auf der 903, der S2/S1, der U79, A42 …. und auf „Linien stiller Schönheit“– wie der Ausstellungstitel des Museums DKM provokant idyllisch dagegenhält.
Wo man nur ankommen kann, wenn man das Navigationsgerät ausschaltet, das Vorgesagte, Vorgesehne, Vorgegebene, die Zielgröße, das Zentrale; wo man sich erinnern kann, erinnert wird – worauf es ankommen könnte: wo auch eine Vorliebe endlich ohne Vorsilbe auskommen, wirklich anfangen könnte.