Zum Meer will der Autor und macht sich mit seinem gleichnamigen, aber nicht verwandten Fotografen in seinem alten Benz auf den Weg gen Westen. Unterwegs kommen sie auf ihrer Route an vielem vorbei. Sie landen schließlich in Gronau, von wo aus es zum Meer nicht mehr weit ist …
Hermann Mensing
»Wo das Gold liegt...«
Fotos: Roman Mensing
Es gibt Tage, an denen ich auf meinem Balkon stehe und mir die Häuser gegenüber fortwünsche, weil ich das Meer riechen will. Dann bleibt nichts, als sie auf Armesbreite nach links und rechts zu verschieben, was immer ein bisschen mühsam ist und zu reichlich Gepolter führt, dann aber streicht der Wind ungehindert heran und ich bin glücklich.
Münster Roxel: 51° 57' nördlicher Breite, 7° 37' östlicher Länge auf 78,41 Meter Höhe über NN. Bis zum Meer sind es etwa drei Stunden. Dazwischen Land, das sich auffaltet und flach legt. Konturen, die manchmal denen eines auf der Seite liegenden weiblichen Körpers ähneln. Jede Wiese atmet ihr eigenes Klima, jeder Wegrand hat seinen Geruch. Frisch aufgebrochene Erde, metallisch glänzend, darauf manchmal Störche, blühender Raps, unterm Wind das Meer wogender Gerste, hüfthoher Roggen, sichelnde Schwalben, Maisdschungel spät im Jahr, kühl, wenn man daran entlang fährt, ein kupferfarbener Himmel zum Abend mit einem Stich ins Rosa und Lila, im Südwesten ein gewitterschwarzer Horizont, vor dem sich ein Regenbogen krümmt und mir verrät, wo das Gold liegt. Da will ich hin.
Ich mache mich auf den Weg. Erste Station ist die katholische Kirche in Roxel, in den Urkunden Rokes- bzw. Rukeslare genannt, die Rappenkoppel, oder (wie immer streiten auch hier die Experten) die Krähenweide.
1698 hatte Heinrich Johann von Droste-Hülshoff einen jungen Afrikaner an den Hof gebracht, den er auf einer Kavaliersreise gekauft hatte. So etwas galt damals als chic. Die Hülshoffs ließen ihn taufen, nannten ihn Johann Junkerdink und machten ihn zum Kammermohr. Die feinen Damen erröteten, wenn sie ihn sahen, die Bauern nannten ihn „swatten Jehann“.
Die Hülshoffs gingen in Roxel zur Kirche. Sie hatten St. Pantaleon (1242 erstmals erwähnt) eine Orgel geschenkt, aber ihnen fehlte ein Organist. Johann war musikalisch. Man bildete ihn aus. 1711 wurde er Organist. 1728 heiratete er Maria, die Tochter des Küsters. Die beiden hatten fünf Kinder. Vier von ihnen starben einen frühen Tod, der überlebende Sohn Ernst Constantin wurde erwachsen, aber seine Spur verliert sich in der Geschichte. Maria starb am 8. Oktober 1758, Johann knapp zwei Wochen später, am 21. Oktober. Er konnte nicht ohne sie leben.
Wie werden die Bauern gestaunt haben über diesen „Mohr“. Die wenigsten konnten lesen, ihr Leben war harte Arbeit, für viele in Fron der Hülshoffs. Afrika war ihnen höchstens ein fernes Gerücht, aber da saß nun Sonntag für Sonntag ein Afrikaner an ihrer Orgel und spielte.
Auf Hülshoff wohnt längst kein Hülshoff mehr. Die Menschen kommen der Gärten wegen, Gärten mit uralten Buchen, sie kommen wegen Annette und der dort herumwehenden Geschichten, trinken Kaffe und essen Kuchen im Schlosscafé.
Annette mochte die höfische Etikette nicht besonders. Wenn sie Ruhe wollte, zog es sie zum Rüschhaus. Ihr Weg führte durchs Aa-Tal, unwirtliches Moor, sumpfiges Land, heute Wiesen mit Rindviechern und Äckern, Buchenwäldchen, die stelzenden Riesen der Stromindustrie, ein Umspannwerk und der Lärmschutzwall längs der Autobahn. Er bewirkt nicht viel. Es gibt Nächte in Roxel, in denen die heranwehenden Geräusche auf ferne, bedrohende Art denen in David Lynchs Film Eraserhead gleichen.
An den Beginn der Buchenallee vorm Haus Rüschhaus hat der amerikanische Bildhauer Richard Serra eine Skulptur gesetzt. Sie neigt sich zum Hauptportal des von Johann Conrad Schlaun erbauten, etwa hundert Meter entfernten Gebäudes, Annettes Sommerhaus. Die Skulptur ist ein Kubus aus Cortenstahl und kontrastiert die Pracht des Barock mit leichter Ironie. Aber ich kann mich täuschen. Sicher aber ist das eine sehr lebendige Skulptur. An ihr frisst der Rost, das ist ihre Bestimmung, aber es wird dauern, bis er sie aufgefressen hat, es wird sehr lange dauern, das weiß sie und strahlt große Ruhe aus.
Ich höre Tom Waits auf dem Weg zur Hunderennbahn Nienberge. Sie ist nicht weit vom Rüschhaus, groß wie ein Fußballplatz, umringt von Pappeln und Eichen, dazwischen Wohnwagen mit aufgesteckten Flaggen: Franzosen, Niederländer, Belgier, Deutsche, Schweizer und sogar ein Russe. Sie sind hier, um ihre Afghanen, Asawahks und wie all diese Windhundrassen heißen, ins Rennen um Pokale zu schicken. Noch nie habe ich so viele Hunde mit eingekniffenen Schwänzen gesehen.
Am Parcours fiebern die Besitzer mit ihren Hunden. Sie feuern sie an. Die Hunde hetzen einem Lappen hinterher und am Ziel balgen sie sich darum. Am Kiosk wird gefachsimpelt. Es gibt Bratwurst, Pommes und Bier, Kaffee und Kuchen. Die Merchandiser ringsum haben alles, was Hund und Besitzer schmücken könnte. Über Lautsprecher quäkt Musik, aber das ist nicht meine.
Ich höre John Scofield: Do like Eddie. Das schiebt, denn es geht zum Longinusturm in den Baumbergen, von 78,41 Metern über NN auf stolze 187,6 Meter, die höchste Erhebung weit und breit.
Anfang des 20. Jahrhunderts als Aussichtsturm errichtet, im zweiten Weltkrieg für Feindabwehr umgerüstet und später für die frühe Übertragung von Radio und Fernsehen genutzt, ist er jetzt wieder ein Aussichtsturm mit Café. Von seiner Spitze kann man weit ins Münsterland sehen. In Osternächten ist es wunderbar, die ringsum leuchtenden Feuer zu zählen.
Im Dunst ahnt man die Borkenberge und den Teutoburger Wald. Ein Fasan schreit. Im Nordwesten sieht man die Kirchturmspitzen des Ludgerus-Doms in Billerbeck. Ganz gleich, wie man sich der Stadt nähert, man sieht zunächst nur diese Spitzen. Sie sind ungeheuer oben, wie Brecht sagen würde, hundert Meter hohe Doppelspitzen, so dass ich jedes Mal staune, was Glaube bewegt und zustande bringt.
Von dort geht es Richtung Darfeld, über die Bahn, durch einen kleinen Buchenwald in einer Haarnadelkurve steil bergan. Waldmeister und Buschwindrosen blühen, man findet Bärlauch und Aronstab, auch Farne. In Westfalen gibt es viele solcher Wäldchen (auch Hochzeits- oder Mitgiftwäldchen genannt), aber nur zwei oder drei Haarnadelkurven, in Tecklenburg und in Bentheim, aber die zählen nicht. Hier ist die westfälische Bucht, einst ein Kreidemeer, und da finde ich eine Haarnadelkurve sensationell.
Auf dem Berg liegt das Hotel Weißenburg, in dem Schalke 04 dann und wann zur Saisonvorbereitung Quartier nimmt, was oft zu Murren führt, denn durch das Münsterland verläuft eine Grenze, die die Anhänger des BVB und des Schalke 04 trennt.
Thelonius Monk spielt Round Midnight, die Straße senkt sich gegen Norden und zieht gut einen Kilometer weiter wieder bergauf zum nächsten Wald.
Ich war etwa zehn, es war Sonntag, mein Onkel Hans, Onkel Bernd, mein Vater und ich saßen in einem VW Käfer. Onkel Bernd hatte versprochen, mit Hilfe der Senke einhundert Stundenkilometer zu erreichen. Der Boxermotor lief hochtourig, die Landschaft schrie, flog um mich oder ich flog durch sie, der Himmel flirrte, alles war atemlose Raserei, als Onkel Bernd triumphierend auf die zitternde Tachonadel zeigte.
Ich biege nach Aulendorf ab. Erstens, weil es dort eine Bushaltestelle gibt, die Mensing heißt, was beweist, dass der Clan, der mit Johann Conrad Mensing erstmals im frühen 14. Jahrhundert in Coesfeld auftaucht, es weit gebracht hat. Zweitens, weil ich in die Beerlage will. Dort gibt es eine Landstraße, an der ich einmal ein Herz gewann, um es wenig später brechen zu müssen.
Damals regnete es. Die Straße ist kurvig, aber weit einsehbar, hier ist wenig Verkehr, ich fahre Ideallinien. Nicht dass Sie glauben, ich rase, nein, keine Sorge, ich schwinge mit 80 durch diese Links-rechts-Kombinationen und stelle mir vor, ich würde rasen. Ich höre Medeski, Martin & Wood, eine Band, die zeitgenössischen Jazz spielt, wie ich ihn am liebsten habe (Bemsha Swing – Lively Up Yourself), ich brumme die Basslinie und dann sehe ich diesen Hund. Zerzaust und niedergeschlagen hockt er am Straßenrand.
Ich halte an und gehe zu ihm, aber er fürchtet sich. Irgendetwas ist ihm nicht geheuer. Er hat etwas erlebt, und das war nichts Schönes. Der Hund rennt los wie vom Teufel gehetzt. Ich fahre ihm langsam nach. Zweihundert Meter weiter bleibt er sitzen. Ich halte neben ihm und öffne die Fahrertür. Ich sage, komm, steig ein, und nach einigem Zögern tut er das. Steigt mir übern Schoß, setzt sich auf den Beifahrersitz, schaut mich an und legt seine linke Pfote auf meinen rechten Unterarm. Ich schließe die Tür, ich frage beim nächsten Bauern, ob man den Hund kennt, aber niemand hat ihn je zuvor gesehen. Also fahre ich heim, da ist großes Hallo, alle schließen ihn sofort ins Herz, aber er ist ein Terrier und wir haben eine Katze, und so bleibt mir nichts, als ihn ins Tierheim zu bringen.
Schloss Darfeld
Schlossallee
48720 Rosendahl
02545/820
Website
St. Mariä Eggerode
Marienplatz
48624 Schöppingen Eggerode
Zum Schloss Darfeld führt eine Lindenallee, junge, noch umwickelte Bäume, kaum drei Meter hoch. In meiner Erinnerung war hier einmal eine Kastanienallee, ein tiefgrüner, manchmal leuchtender, je nach Tages- und Jahreszeit in diffusem Licht liegender Weg, der sich zu einer gepflegten, prächtigen Anlage öffnet, weite Rasenflächen, eine Gräfte, die sich zu einem Teich weitet. Eine Trauerweide, eine Eiche, noch eine Eiche. Der Teich wird von einem Schwan beherrscht, ein Aristokrat, der Kanadagänse und Enten nicht duldet. Der Teich war Fischreservoir, sein Wasser trieb die Mühle, daneben weitläufige Wirtschaftsgebäude.
Das Schloss, im frühen siebzehnten Jahrhundert vom münsterschen Baumeister Gerhard Gröninger erbaut, zitiert mit seinen markanten Arkaden die venezianische Renaissance. Schade, dass es man es nicht besichtigen kann.
Also träume ich mich unter diese Arkaden, es ist eingedeckt, ich trinke ein Glas Wein, die westfälische Dämmerung spinnt Dunst über Land. Ich höre Bach, Stücke für Klavier, Opus 19. 1-6, leicht, zart, langsam, sehr langsam, rasch, aufregend gegenwärtig, so dass ich stutze und nicht glauben kann, dass das Bach ist, um gleich darauf festzustellen, dass ich Arnold Schönberg höre. Klar, Bach und Schönberg kann man nicht velwechsern, da stimmt also irgendetwas nicht mit der CD.
Der Weg durch die nördlich gelegene Bauerschaft Rockel, in der ortsfremde Postboten wie in vielen westfälischen Bauerschaften, die oft Stadtgröße erreichen, aber nur spärlich besiedelt sind, verzweifelten, zählt zu meinen Lieblingsrouten. Wenn Löwenzahn auf den Wiesen blüht, leuchtet es hell, Kopfweiden stehen am Grabenrand, der Rockeler Bach fließt in der Nähe, der Burloer Bach ebenfalls und zahllose, namenlose Gräbchen, auf deren Böschungen Mädesüß, Sauerampfer, Schlüsselblumen und Wiesenschaumkraut wachsen.
Am besten, man ginge zu Fuß durch den Burloer Wald, durch das hellgrünste Frühlingsgrün, durch das Licht flösse, hörte Bussarde schreien, Buchfinken schlagen, ein Specht hämmerte, man träte schließlich hinaus und sähe Kiebitze ihre halsbrecherischen Manöver fliegen.
An der Weggabelung in Tinge stand ein Hof lange leer und verfiel. Dann kamen neue Bewohner und haben ihn renoviert. Haben sich ihre Bärte abgeschnitten, sich zeitgemäß gekleidet, einer hat falsche Zähne, zwei tragen Toupets, einer hat eine Brille und sogar ein Tattoo. Untereinander sprechen sie sich immer noch gern mit ihren wirklichen Namen an, aber wenn sie von Tinge nach Schöppingen fahren, zum Lidl oder zum Aldi, achten sie darauf, dass niemand Zwerg Nase zu Zwerg Nase sagt, höchstens, dass einem einmal „Nase“ herausrutscht, und natürlich achtet auch jeder darauf, dass Schneewittchen nicht von den Zwergen zu erzählen beginnt, wie sie das so gern tut. Auf der Rückfahrt darf sie das Auto fahren und erzählen so viel sie will, dann ist man unter sich, schließlich ist es nicht einfach in Tinge, die Einheimischen haben ein Auge auf sie geworfen, sie müssen also vorsichtig sein. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
In Eggerode steht ein Gnadenbild, Unsere Liebe Frau vom Himmelreich, eine kleine Marienskulptur mit Kind aus Zedernholz. Man sagt, sie stamme aus Byzanz, ein ortsansässiger Ritter von Eckenroth, genannt Stryck, Kreuzfahrer und Verehrer der Jungfrau, habe sie mitgebracht. Man sagt auch, einmal hätten die Schöppinger sie geraubt, als eine Stimme vom Himmel gekommen sei und gesagt habe, sieben Jungfrauen brächten sie nach Eggerode zurück, und so gibt es heute noch Prozessionen.
Prächtige verkleidete Männer unter einem Baldachin tragen Monstranzen über Landstraßen zu kleinen, von steinernen jungen Frauen bewohnten, mit Blumen geschmückten Kapellen, die wohl nur zu dem Zweck existieren, dass die Menschen, die hinterm Baldachin laufen, sich vor ihnen versammeln und im Chor Worte sprechen, um diese junge Frau und noch andere, nicht physisch Anwesende, zu loben. Dabei umweht sie der Duft verbrannter, halluzinogener Substanzen. Dass man da schon mal Stimmen hört, wundert mich nicht.
Verehrt wird Unsere Liebe Frau vom Himmelreich seit dem dreizehnten Jahrhundert, vor allem dann, wenn es schlecht lief, während der Kriege also, und die gab es hier zur Genüge, die Aristokraten waren ständig in Händel verstrickt.
Heute hat das Pilgern ein wenig nachgelassen. Stattdessen sausen Menschen auf Elektrorädern durch die westfälische Parklandschaft.
Eggerode ist klein. Der Burloer- und der Rockeler Bach vereinen sich in der Nähe und werden zur Vechte, die nach 167 Kilometern in Holland ins Zwarte Meer mündet, aber das ist noch nicht das Meer, nach dem ich mich sehne, denn in Holland heißt der See Meer, und das Meer See.
Auf dem Schöppinger Berg drehen sich riesige Flügel unzähliger Windkraftanlagen. Im Rahmen der Skulptur-Biennale 2005 hat ihnen der Künstler Jan Philip Scheibe eine Skulptur gewidmet, ein hohes Gerüst mit einer roten Inschrift: Er macht seine Engel zu Winden (Psalm 104: Altes Testament). Man kann auf einen Schalter drücken, dann leuchtet sie. Das ist schön, nachts. Man kann auf einer Bank unterhalb eines steinernen Schutzengels sitzen und weit über Land schauen. Mit einsetzender Dunkelheit senden die roten Positionslichter der Windräder ferne, geheime Signale ins All, man atmet ruhig und darf sprachlos werden.
Statt Musik jetzt das ferne Rauschen der sich drehenden, Wind zu Strom mahlenden Flügel (garrrommmgarrrrommm), der Ruf eines Nachtvogels, nicht zu identifizieren, die Silhouette einer prächtigen Eiche, Schöppingen da unten, Schuöping auf Platt, dahinter das Land, in dem einmal alles ganz anders war. Da waren Tropen und Meer, unglaubliche Fische und Tiere, ja, Saurier auch.
Aufsteigender, böiger Wind, es wird frisch, ich denke ans Meer und an das, was dahinter liegt.
Daran dachten die Faschisten wohl auch und schossen vom Schöppinger Berg V2 Raketen nach „Engelland“. Später vergrub sich die Nato mit ihren Raketen auf dieser Anlage. Heute sind die alten Stellungen und Bunker verlassen.
Meine Mutter hatte mir erzählt, wie diese Raketen Feuerschweife nach sich ziehend und bösartig röhrend auch über Gronau, meine Heimatstadt, flogen. Als ich Kind war, ist mein Vater einmal mit mir auf dem Motorrad hierher gefahren. Als wir zurückfahren wollten, sprang der Motor nicht an, da konnte mein Vater den Kickstarter treten, soviel er wollte. Schließlich saßen wir auf und ließen uns den Schöppinger Berg hinabrollen. Mein Vater legte einen Gang ein, der Motor sprotze, knallte und nahm die Arbeit wieder auf.
Ich höre A few honest words von Ben Sollee.
Ich sehe noch all die Menschen, die in Schöppingen vor und während des Zusammenbruchs der DDR in den von der Nato verlassenen Kasernen erste Zuflucht fanden, halte vor der Eisdiele beim 1583 gebauten Rathaus, springe heraus, kaufe mir ein Hörnchen mit zwei Kugeln und fahre weiter.
Ich will zu Brinkwirts Erben, eine Abkürzung nach Metelen, ein Bauernweg, den ich irgendwann einmal ausgekundschaftet habe. Ich mag ihn wegen der Birkenallee, wegen der Maisdschungel, wegen der mächtigen Linden vor einem Hof und wegen der Vechte, die ich überquere. Sie ist dicht bestanden von Eschen und Erlen und fließt träg durch ihren Tunnel.
Die Einheimischen hier sprechen ein in feinen Nuancen anderes Plattdeutsch als in Schöppingen. Leider tun das nur noch wenige, aber sie sprechen es in Metelen anders als in Epe und so weiter und so fort, die Sprachforscher wissen das besser, die haben jede Lautverschiebung registriert und kartografiert.
Metelen (plattdeutsch: Maidelen) liegt an einer meiner Routen nach Westen. Ich habe viele und variiere nach Lust und Laune.
Sandböden und Feuchtgebiete wechseln sich ab. Wir nähern uns der Grenze zu den Niederlanden, ein Landstrich, in dem sich aus Tuchwebereien und Bleichen seit dem 17. Jahrhundert eine alles dominierende Industrie entwickelte, von Nordhorn über Gronau, Bocholt, Krefeld bis nach Mönchengladbach. Auch in Metelen gab es eine Fabrik. Metelen ist ein hübscher Ort, es gibt ein 889 gegründetes Stift, ich habe ein paarmal dort gelesen und es gab immer belegte Brötchen und Kaffee. Aber in meinem Kosmos lag Metelen früher ein wenig abseits, ein Ort, den ich nur kannte, weil an seiner ein paar Kilometer ortsauswärts liegenden Bahnstation Metelen Land die nach Münster fahrenden Züge auf die von Münster kommenden warten mussten, so dass Zeit blieb, von einem Zugfenster zum anderen herüber zu winken (siehe auch: Paarungsrituale junger Primaten ).
Durchs das Landschaftsschutzgebiet Strönfeld nähere ich mich Gronau. Plattes Land jetzt und die Musik dazu: Erdmöbel: Der blaue Himmel. Pferdekoppeln, Kühe in Halbtrauer, wie Arno Schmidt das nannte, Kiebitze, die Hasen der Lüfte, aufsteigende Lerchen. In den Pensionen ringsum macht man Reiterferien.
Das Ammert Mark lasse ich rechts, vor mir die Füchte. Die Füchte ist sandig. Die Dinkel ist nicht weit, es gibt Kiefern und Birken, und dann geht es nach Büschamberge hinauf, ein Hügel.
Büscher am Berge müsste es wohl heißen, die Westfalen benennen ihre Bauerschaften gern nach den dort seit Jahrhunderten ansässigen Bauern, die einzige nennenswerte Erhöhung bei Gronau, zu der wir als Kinder im Winter wanderten, um zu rodeln.
Also rauf auf den Schlitten, aus dem über die Jahrzehnte ein uralter Benz geworden ist, und hinunter nach Gronau.
Knapp einen Kilometer von der Bismarckstraße entfernt, in der ich aufwuchs und die der Straße, in der ich nun seit dreißig Jahren lebe, auf beunruhigende Art ähnelt, summt ein Elektrizitätswerk.
Auf einer Wiese in Sichtweite hatten wir einmal einen Drachen aus Leisten und Zeitungspapier in Position gebracht, der größte Drachen diesseits der Dortmunder Bahn. Einer mit einem langen, mit Grasbüscheln beschwerten Schwanz. Die Zahl der Grasbüschel variierte, damit konnte man seine Flugeigenschaften beeinflussen. Einer hielt ihn gegen den Wind, der andere rannte ein paar Schritt. Weit musste er nicht rennen, der Drachen stieg auf wie eine Rakete, er zerrte, wir gaben ihm Leine, er tanzte höher und höher. Möglich, dass wir in diesem Augenblick glücklich waren, aber wir hatten auch die Warnungen der Eltern im Ohr, den Hochspannungsleitungen fern zu bleiben. Die Schnur sang, wir konnten den Drachen kaum halten, die Schnur riss und der Drachen taumelte zum Elektrizitätswerk hinab. Gleich würde ein gewaltiger Blitz Gronau in Staub und Asche verwandeln. Wir flüchteten. Noch Stunden später rechneten wir mit allem.
Gronau also, wo meine Eltern ein Wagnis eingingen.
Ich kam zur Welt, ich wurde groß und erlebte den Untergang der Textilindustrie, von dem auf die ein oder andere Art alle betroffen waren, und sie konnten nur fassungslos zuschauen.
Ich liebe und hasse diesen Ort, wobei nie auszumachen ist, was schwerer fällt. An so einem Ort türmen sich Siege und Niederlagen zu gewaltigen Wellenbergen.
Ich küsste zum ersten Mal, im Esch stieg ich mit dem Schwatten Geier ins Moos, weil alle sagten, der Schwatte Geier mache es gern und mit jedem (Rolling Stones: Play with fire), ich lernte tanzen und rebellierte, und als es für die Rebellion zu eng wurde, verließ ich es. 6
Das Schönste an Gronau ist die Grenze.
Durch sie erfuhr ich, dass es Königinnen nicht nur in Märchen gibt, ihr Portrait zierte Geldstücke, und sie war mir näher als Adenauer.
Ich war vier oder fünf, saß auf der Stange des Rades meines Vaters und war ängstlich und voller Fragen. Auf dem Klosterhof gleich hinterm Schlagbaum in Glanerbrug standen dunkelbraune Menschen.
Waren das Negerlein?
Mein Vater war mit mir dorthin gefahren, er wollte, dass ich das sah. Die Menschen waren Flüchtlinge aus den ostasiatischen, niederländischen Kolonien.
Gronau ist meine Liebe.
Alle Menschen sollten an einer Grenze groß werden, das beflügelt und bringt die Hirnhälften auf Trab. Ich staune noch immer, dass die Welt hinter Grenzen so grundlegend anders sein kann. Dass Häuser anders gebaut werden, Menschen anders sprechen, kurz, dass Dinge, von denen ich dachte, sie seien so und nicht anders, anders sein können. Es ist wie bei Menschen, die auch überall anders und gleich sind.
Sonntagnachmittags ging ich ins Parktheater, um Wildwestfilme zu sehen. Anschließend ritt ich durch die geöffneten Seitentüren in das ins halbdunkle Kino flutende Licht auf den Kirmesplatz, vorbei an den Klohäuschen mit der zweifelhaftesten Reputation in den Stadtpark, um Spaziergänger zu erschießen. Bei Blömers Schleusen grub ich handtellergroße Muscheln aus der Dinkel, brach sie auf, um zu sehen, ob sie leben, wodurch ich sie tötete.
Das nenne ich eine Metapher.
Gronau vibrierte Tag und Nacht vom Summen unzähliger Webstühle. Zeitweise waren es mehr als in Manchester. Menschen zogen von überall her. Tausende. Wohnungen wurden gebaut. Siedlungen, darunter die architektonisch beachtenswerte Hollandsiedlung. Männer fuhren auf Rädern von und zur Schicht.
Es gab ein Schloss und den dazugehörigen Schlossplatz, es gab eine Altstadt, aber das alles wurde Ende der 60er geschleift, man baute neu und in Waschbeton, so dass Jahre später Architekturstudenten von fern anreisten, um sich anzuschauen, wie man es nicht machen soll.
Nach dem Zusammenbruch der Textilindustrie standen die Fabriken jahrelang nutzlos herum, dann wurden auch sie geschleift und geschreddert. Im Rahmen der Landesgartenschau 2003 legte man auf dem Fabrikgelände die Dinkelauen an, ein weitläufiges, von Grachten durchzogenes Gelände, und schichtete den Schutt zu einer 14 Meter hohen Pyramide.
Hier treffen sich Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart, ich sehe den Bahnhof, auf dessen Gleisen ein Sonderzug wartet. Er fährt zum Meer. Ich fahre mit.
De grijze Noordzee.
Dazu Jacques Brel: Mijn vlakke land.
Das Meer ist ein mächtiger Zauberer. Es macht, dass wir, 13-14-jährige Jungen und Mädchen, unruhig werden. Als der Zug die Endstation Zandvoort erreicht, sind alle in kürzester Zeit auf dem Bahnsteig. Auf dem Boulevard flattern Fahnen am Mast. Der Wind trägt Gerüche heran, man kann die weite Welt spüren, man riecht Freiheit, auf der Haut spürt man sie. Die ersten rennen los, sie haben Witterung aufgenommen, da können Lehrer rufen, soviel sie wollen.
Wir rennen. Wir wollen das Meer sehen, und jeder will Erster sein. Wir rennen über den Vorplatz, erreichen den Boulevard, die Fahnen knattern, Drachen stehen in der Luft, das Meer gleißt silbrig und golden und trägt weiße Dauerwellen. Wir staunen sprachlos. Die Welt ist rund, hier ist der Beweis, wie sonst wäre zu erklären, dass Schiffe am Horizont einfach verschwinden.
Als das Staunen vorüber ist, stürmen wir schreiend den Sandweg hinab zum Strand und stehen schon bis zu den Knien im Wasser.