Mit der Bahn von Xanten, Duisburg, Oberhausen, Essen, Bochum nach Hagen; S2, Kulturlinie 107, S1, A40, U306, U35:
Sehenswürdigkeiten werden hier nur am Rande erwähnt. Der Weg ist das Ziel, die Mobilität steht im Mittelpunkt.
Sebastian 23
»Unruhepuls Ruhr«
Fotos: Tobias Heyel
Das Ruhrgebiet erstreckt sich über mehrere tausend Quadratkilometer und einige Dutzend Städte bemühen sich darin, gleich einer allzu großen Geschwisterschar, um Einigkeit. Wie Fäden in einem Webstuhl durchziehen Verkehrsadern die Region und verbinden den Pott zu einem großen Ganzen. Genauso muss das auch sein, denn die Menschen hier sind immer in Bewegung, wenn sie nicht grade im Stau stehend Radarfallen auslachen oder wegen der viel beschworenen „Betriebsbedingten Verzögerung“ an Bahnsteigen ausharren.
Werfen wir im Rahmen dieser Tour einmal einen Blick auf genau diese Bewegungen, steigen wir in die Bahnen und Autos und erleben wir unser graues Wunder.
Denn reich an Erstaunlichem ist dieses Gebiet allemal!
In Xanten werden mythologische Helden zu Spaßbädern verarbeitet, in Duisburg gibt es eine Außenstelle der Mecklenburgischen Seenplatte, in Oberhausen zwängte man den Mond in einen Gastank, in dem vorher nur Gestank war. In Bottrop hat man einen Stadtteil nach Tarzans Sohn benannt, in Gelsenkirchen gar nach einem berühmten Bundesliga-Verein. Im Ennepe-Ruhr-Kreis sieht das Ruhrgebiet plötzlich aus wie ein Mittelgebirge und in Bochum sitzt ein Autor im Bermuda-Dreieck und schreibt diese Zeilen.
Mir ist klar, dass das alles sehr unwahrscheinlich klingt, daher empfehle ich vorm Weiterlesen einen Spaziergang vom Nibelungen-Bad Xanten, an der Duisburger Sechs-Seenplatte vorbei, das Gasometer links liegen lassend, Bottrop-Boy passierend, schließlich Schalke überquerend und Bochums trianguläre Innenstadt mitnehmend, bis nach Hagen runter. Geschätzte Dauer: 3 Tage.
Natürlich kann man dann auch das komplette Ruhrgebiet per Spaziergang erkunden, allerdings sollte man dafür bei seinem Arbeitgeber ein Sabbatjahr einreichen, oder besser gleich zwei.
Diese Spaziergänge, so aufwändig sie auch sein mögen, haben zugleich einen lehrreichen Effekt, denn sie helfen verstehen, warum es in meiner Tour mal nicht um einen Spaziergang geht, sondern vielmehr um Züge, Straßenbahnen, S-Bahnen, Autos, Busse, Droschken und U-Bahnen.
Okay, das mit den Droschken ist gelogen, verbuchen Sie das unter künstlerischer Freiheit. Der Rest stimmt – heute gilt unser Augenmerk jenen Verkehrsmitteln, in denen man sich fürwahr in Bewegung setzen kann.
In dieser großen Metropole kommen dem außenstehenden Betrachter die einzelnen Städte an vielen Stellen so vor, als wären sie Stadtteile ein und derselben Stadt statt Städte. Lesen Sie den letzten Satz gerne auch mal laut, insbesondere das Ende ist sehr klangvoll.
Nun machen Sie schon, wenn sie von Xanten bis Hagen zu Fuß laufen wollen, geht das doch bestimmt auch.
Die Bewohner des Ruhrgebiets bewegen sich meistens jedenfalls nicht zu Fuß, sondern nutzen ihr Auto oder den öffentlichen Nahverkehr. Noch so ein schönes Wort.
Xanten
Also beginnt meine eigentliche Tour am Bahnhof in Xanten. Diese mittelgroße Stadt am Niederrhein ist der Ort, an dem ich zur Schule gegangen bin und es mag den ein oder anderen wundern, dass Xanten und die drum herum liegenden Kuhwiesen auch zum Ruhrgebiet gehören. Es handelt sich um die westlichen Ausläufer, aber tatsächlich gehört der komplette Kreis Wesel dazu, also auch das schöne kleine Xanten. Neben dem bereits erwähnten Spaßbad, in dem ein sehr ironischer Drache aus Stein Wasser spuckt, kann man Xanten nicht erwähnen, ohne an den Archäologischen Park zu denken. Neben ein paar Ausgrabungsstellen, in denen echte Archäologen in Freilandhaltung leben, gibt es diverse rekonstruierte Gebäude der Colonia Ulpia Traiana, dem römischen Vorläufer der Stadt.
Dass es diesen Park gibt, liegt nur daran, dass die Germanen die Stadt Xanten neben die Reste der Römischen Siedlung gebaut haben, vermutlich aus purer Gemütlichkeit. Später hat man dann neben die römischen Ruinen eine Rutsche und eine Schaukel dazu gestellt und jetzt geht das ganze als attraktives Freizeitangebot durch.
Richtig scharf wird es, wenn hier die jährlichen Römer-Tage sind, dann rennen nämlich ganze Kohorten originalgetreu gekleideter Legionäre durch den Park und brüllen sich auf Latein Kommandos zu. In Zelten werden nach antiken Rezepten auf offenen Feuern längst entschwundene Gerichte wieder hervorgezaubert und zum süßlichen Duft der südlichen Küche mischt sich das fast schon hörbare Lächeln der Lateinlehrer. Im Zentrum des Parks sieht man Gladiatoren in einem Amphitheater mit Holzschwertern und Hartgummidreizack aufeinander einschlagen, während das Publikum gierig auf blaue Flecken hofft.
Ansonsten ist es eher ruhig in Xanten, ein paar Mühlen, ein Stadttor, ein kleines Museum für dreidimensionale Bilder und ein knuspriger Dom müssen da als markante Punkte herhalten. In letzteren Dom kommt angeblich manchmal zu Weihnachten Claudia Schiffer, die unweit in Rheinberg zur Schule gegangen ist. Dieser Jetset-Streifschuss ist aber so unspektakulär wie kurzfristig und so murmelt der Einheimische unbeeindruckt weiter seinen Tagesablauf in das Räderwerk der Zeit. Murmel, murmel, klingt es leise durch die backsteinumrahmten Kopfsteinpflastergassen. So ist das in Xanten, jener ehemaligen Außenstelle einer Großmacht. Heute liegt Xanten ganz alleine da, zwar nicht geographisch, aber doch im Postleitzahlenbuch unter dem Buchstaben „X“.
Wenn sich der Xantener mal richtig alleine fühlen will, dann spaziert er zu seinem eigenen Bahnhof. Der Bahnhof Xanten ist reichlich reizarm. Er verhält sich zu einer Scheibe Weißbrot wie sich ein grauer Kieselstein zu einer Weltreise verhält. Oder ein gelungener Vergleich zum letzten Satz. Hier wird nicht der Hund in der Pfanne verrückt, hier ist der Hund begraben, würde der Niederrheiner sagen. Und sobald die Dunkelheit über die Ebene eintrudelt, fühlt man sich erinnert an Stephen Kings „Friedhof der Kuscheltiere“.
Zugegeben, es handelt sich um einen Bahnhof, da soll man ja auch weg wollen. Schnell noch am Kiosk einen Schokoriegel erwerben und feststellen, dass das Verfallsdatum in eine Zeit verweist, als man hier noch auf Lateinisch über seinen Nachbarn lästerte. Noch schnell ein Foto von Wartenden und dann ab in das röhrende Neon der Gegenwart.
Duisburg
Mit dem „Niederrheiner“ lasse ich diese geschichtsschwangeren Gegenden schnell hinter mir und gleite die Gleise entlang dem entgegen, was man gemeinhin unter dem Ruhrgebiet versteht. An Moers vorbei, dem Jazzfestival zuwinkend, geht es über den Rhein nach Duisburg hinein.
Der frisch renovierte Duisburger Bahnhof ist im vorderen Bereich hell und lebensfroh geworden. Auf dem dunkelgrauen Vorplatz hingegen gibt es eine Wurstbude, vor der die Tauben mit ängstlichen Blicken zurückweichen.
Dort aß ich, aus Bochum angereist, vor nicht allzu langer Zeit auf dem Weg zu einem Auftritt eine Wurst und verköstigte ergänzend ein Duisburger Bier. Plötzlich standen meine Eltern vor mir, die in einer ganz anderen Stadt wohnen und durch puren Zufall zur selben Zeit an dieser Stelle auftauchten.
„Was machst du denn hier?“ fragte meine Mutter.
„Ich bin hier jeden Abend“, behauptete ich und nahm einen Schluck von meinem Bier, „was macht ihr hier?“
Es war ein glorioser Moment in unserer Familiengeschichte.
Wenn man zu Fuß die Umgebung des Bahnhofs Duisburg erkunden möchte, dann hat man zwei Möglichkeiten: Man verlässt den Bahnhof durch den Hauptausgang oder man wagt sich aus dem Hinterausgang.
Entscheidet man sich für einen rückwärtigen Ausstieg und wird dabei nicht von Mafiosi erschossen, dann lohnt es sich, nach rechts auf den Parkplatz abzubiegen. Dort stehen nicht nur die parkenden Fahrzeuge rastloser Pendler, sondern echte Straßenkunst. Jemand hat vor den Pfeil, der den Autos die Fahrtrichtung auf diesem Platz anzeigen soll, einen weiteren, genau entgegengesetzten Pfeil gemalt. An schönen Tagen komme ich gerne zum Meditieren hier her. Ich setze mich vor die Pfeile, die sich zart an den Spitzen berühren und denke einfach mal eine Stunden lang nur „Bumm“.
Das ist Duisburger Zen.
Wenn man es etwas weniger Buddhistisch mag, dann geht man tendenziell vorne aus dem Bahnhof heraus, an der Familienwürstchenbude vorbei. Auf dem Bahnhofsvorplatz gemahnt ein martialischer meterhoher Anker an die Tatsache, dass Duisburg den größten Bienenhafen Europas hat. (In den letzten Satz habe ich einen Schreibfehler eingebaut, damit die Imker unter den Lesern sich freuen.)
In Wirklichkeit hat Duisburg nicht nur den größten Binnenhafen Europas, sondern auch die breiteste Fußgängerzone, die ich kenne. Und den schlimmsten Geschmack, was Kunst im öffentlichen Raum angeht. Da ist der 5-Meter-Anker nur der Anfang, aber der Reihe nach.
Die breite Fußgängerzone rührt daher, dass hier einst eine vierspurige Straße plus Straßenbahnschienen quer durch den Innenstadtbereich führte. Das war den Duisburgern aber dann doch irgendwann zu stressig und sie sagten sich: „Stopp.“
Ganz im Sinne des Duisburger Zens wurde aus der breiten Straße eine sehr breite Fußgängerzone, in der man prachtvoll flanieren oder meditieren kann, auch wenn man breit ist. Freunde veralteter Werbewitze könnten sagen: „Das ist keine breite Fußgängerzone, das ist der längste Platz der Welt.“
Sagten sie dies, nickte ich Ihnen milde schmunzelnd zu.
Freunde des Konjunktivs, unweit des Bahnhofs stößt man in dieser Fußgängerzone auf das nächste Kunstwerk, einen riesigen knallbunten Vogel, der sich geschlechtlich mit einer ebenso bunten Rubens-Frau vereinigt, während allüberall Wasser aus ihm spritzt, denn er ist ein Brunnen. Genauer gesagt handelt es sich um den berüchtigten Life-Saver-Brunnen der französischen Künstlerin Niki de Saint-Phalle.
Erstaunt über die gewagte Motivwahl der frankophonen Bildhauerin reißt man genau da das Ruder rum und biegt ab, wieder Richtung Bahnhof. Doch an der Friedrich-Wilhelm-Straße erwartet einen die nächste Überraschung. Hier hat jemand einen fünf Meter hohen nackten Mann aufgestellt und ihn fleischwurstfarben angestrichen. Schön ist das nicht, aber der Bahnhof ist schon wieder in Sichtweite.
Eilen wir also vorbei an sich reimenden Anlaufstellen für Menschen mit unfreiwillig hohem Freizeitanteil wie der Pfandleihe „Crash Cash“ oder der Arbeitsvermittlung „Top Job“. Ich weiß, dass das sehr plakativ ist, aber ich hatte sie gewarnt – wenn sie es meditativer mögen, dann wären sie mit der Rückseite des Bahnhofs besser beraten gewesen.
CentrO Oberhausen
Centroallee 1000
46047 Oberhausen
Öffnungszeiten:
Mo - Sa 10 - 20 Uhr
Anfahrt mit PKW: A42 Abfahrt Oberhausen Neue Mitte
LVR-Industriemuseum
Rheinisches Landesmuseum für Industrie- und Sozialgeschichte
Hansastraße 18
46049 Oberhausen
Zentrum Altenberg
Disko, Konzert, Kultur, Kino
Hansastr. 20
46049 Oberhausen
Oberhausen
Von Duisburg aus kommt man mit der S2 in kürzester Zeit nach Oberhausen. Dort angekommen kann man eine der leersten Innenstädte der Welt begutachten, weil es der Leitung der Stadt klug erschien, vor den Toren der Stadt ein riesiges Einkaufszentrum zu errichten, inklusive einiger Touristenattraktionen. Zugegeben, da gibt es einiges, vom Schwimmbad bis zum Musical über Drachen. Die werden allerdings getrennt gehalten – und nicht wie in Xanten verschmolzen. Wenn man Einkaufszentren mag, dann wird man die „neue Mitte“ Oberhausens, wie es auf den marineblauen Autobahnschildern heißt, zu schätzen wissen. Und letztlich ist Oberhausen mit Sicherheit nicht die einzige Stadt in der vergleichbares Innenstadt-Welken stattfindet.
Auf der anderen Seite des Bahnhofes blüht es hingegen – dort liegt mit dem Rheinischen Industriemuseum und dem Zentrum Altenberg in Sichtweite der Gleise eine doppelte Attraktion. Ins Museum gehen wir aber später in Essen, darum sei hier nur erwähnt, dass das Zentrum Altenberg neben einem Programmkino und Poetry Slams auch jede Menge Partys anbietet. Regelmäßig findet dort z.B. eine Ü25-Nichtraucher-Party statt. Den dahinter stehenden, fast schon separatistischen Gedanken mochte ich, also bin ich dereinst einmal da gewesen. Wenige Minuten später fing ich auf dem Heimweg zu rauchen an. An meinem Alter konnte ich ja nicht drehen, auch wenn das meine erste Wahl gewesen wäre, wie ich hustend zu sagen pflege.
Grundsätzlich gefällt mir, wie gesagt, der Gedanke hinter dieser Ü25-Nichtraucher-Party allerdings. Eines Tages mache ich mal Ü37-Nichtvegetarier-Partys oder Ü12-Nicht-Crackraucher-Partys. Für jetzt gilt: Sollten sie diese Tour bei Nacht machen, schauen sie ruhig mal ins Zentrum Altenberg – es liegt ja fluchtwegmäßig optimal in Bahnhofsnähe.
Positiv angemerkt werden kann an dieser Stelle, dass es in Oberhausen nirgendwo in Bahnhofsnähe riesige gruselige Skulpturen gibt. Das ist doch schon mal was.
Dennoch bleibe ich dort meist nicht lange und steige auch jetzt gleich in die S3, die mich nach Essen schaukelt, ins Herz der Finsternis. Oh, da hab ich grade aus Versehen Joseph Conrad zitiert, das passiert mir in letzter Zeit immer öfter. Ich meinte natürlich: Ins Herz der Kulturhauptstadt Ruhr.2010.
Folkwang Museum
Museumsplatz 1
45128 Essen
Öffnungszeiten Sammlung
Di bis So 10 bis 18 Uhr
Fr bis 22.30 Uhr
Mo geschlossen
Essen
Ach, Essen.
In der Nähe von Berlin gibt es im Brandenburgischen einen Ort, der in der Tat „Kotzen“ heißt. Ein lebenslang gehegter Traum von mir ist es, die Ortsschilder dieser beiden Städte zu vertauschen. Auch wenn es vermutlich nicht groß auffallen würde, ich würde mir täglich morgens nach dem Zähneputzen einmal auf die Schulter klopfen und sagen können: „Du hast es durchgezogen.“
Man wird ja noch träumen dürfen.
Neben einem nagelneuen Bahnhof, in dem es abends nirgendwo mehr Bier und Würstchen zu kaufen gibt, bietet Essen dem Kulturgeneigten fürwahr einiges: Die Zeche Zollverein ist seit 2001 Weltkulturerbe und es findet sich neben den spektakulären Gebäuden allerhand, inklusive Design-Zentrum, dem Ruhr Museum und einem einzigartigen Schwimmbad. Man erreicht die Zeche mit einer eigenen Straßenbahn, der Kulturlinie 107.
Wenn man aus jener Straßenbahnlinie einen Blick nach draußen riskiert (trauen Sie sich ruhig), dann sieht man kaum einen Unterschied zum Straßenbild in Duisburg, Oberhausen oder sonstwo im Ruhrgebiet. Architektonisch und industriell bieten all diese Städte wesentlich mehr Verbindungspunkte, als die Tatsache, dass sie zufällig nebeneinander liegen. Hypothetisch: Würde ich Sie im fahlen Dämmerlicht einer gewöhnlichen Straße in Mülheim aussetzen und Ihnen glaubhaft versichern, Sie seien in Gelsenkirchen, Sie wären eine ganze Weile mit Ortskunde beschäftigt, bis Sie bemerkten, welcher Lüge Sie aufgesessen sind.
Aber keine Sorge, das wäre so ziemlich das Gegenteil der Intention dieser Tour, die ja vollkommen zu Recht nicht „Verloren gehen in Mülheim“ heißt. Also zurück nach Essen.
An der Zeche Zollverein kann man wunderbar manifestiert finden, was ich mit industriellem Verbindungspunkt meinte. Ein fast schon monströs anmutender Förderturm überragt das weitläufige Gelände, auf dem man, wenn man ganz, ganz leise ist, das Gras des Strukturwandels wachsen hören kann.
Auf dem Rückweg von der Zeche Zollverein nutzen wir erneut die 107, denn dann kann man am Rüttenscheider Stern aussteigen und gleich noch das Folkwang-Museum besuchen, das mit einer gloriosen Kunstsammlung aufwarten kann. Ich belasse es jetzt allerdings mal bei der Erwähnung, denn heute geht es ja nicht darum, einen gewöhnlichen Touristenführer zu erstellen, sondern eine Tour. Von daher bleiben wir munter in Bewegung, so wie es der Titel von uns fordert.
Heute ist ja der Weg unser Ziel, auch wenn das für Essener Verhältnisse etwas zu sehr nach Duisburger Zen klingen mag. Also auf schnellstem Wege zurück zum Bahnhof und ab in meinen Lieblingszug, die berüchtigte S1. Von Düsseldorf kommend durchmisst dieses kühne Gefährt das ganze Ruhrgebiet und endet erst in Dortmund, nicht ohne vorher 35 mal angehalten zu haben. Die gefühlte Haltestellen-Anzahl liegt allerdings etwa bei 529. Spätestens zwischen Essen-Steele und Essen-Steele-Ost stellen selbst Hartgesottene die Notwendigkeit dieser vielen Haltestellen in Frage.
Im weiteren Verlauf der Strecke kommen die Bahnhöfe Bochum-Langendreer-West und Bochum-Langendreer. Diese liegen gefühlte 120 Meter auseinander, so dass das hintere Ende der S1 fast noch am vorigen Bahnhof ist, wenn der Zug vorne schon wieder anhält. Aber man kommt kaum dazu, sich auf diese spektakulären Manöver zu konzentrieren, denn drinnen, im Inneren des Zuges, spielen sich die wahren Wunder ab. Ich weiß, dass jeder das vom öffentlichen Nahverkehr in seiner Heimatstadt behaupten wird, aber ich war schon fast in jeder Stadt in Deutschland unterwegs und ich verspreche Ihnen: Die seltsamen Gestalten in der S1 sind noch ein wenig seltsamer, als die obskuren Figuren in der U8 in Berlin oder die kreativ mutierten Reisenden zwischen Altona und Schanzenviertel auf dem Hamburger Hansestadtgebiet.
Wer jetzt denkt: „Das klingt schrecklich!“ der hat keine Ahnung.
Das Gegenteil ist der Fall: Es ist wunderschön. Man muss nur mal probieren, zwischen all den Pendlern, Pfandflaschensammlern, Studenten und Wanderpredigern sein Glück zu finden. Von überall her dringen Sätze mit ganz eigenem Zauber auf einen ein.
Ein langhaariger Mann mit einer großen Alditüte, gefüllt mit leeren Suppendosen, warnte mich dereinst:
„Die Zahlen, all diese Zahlen. Mit denen muss man vorsichtig sein. Die sind überall und die wissen alles!“
Dann verließ er rasselnderweise das Abteil und predigte anderswo seine kühne Mischung aus Numerologie und Paranoia.
Aber Achtung: Nicht lächeln. Nach einer offiziellen Direktive des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr ist es seit 1997 verboten im öffentlichen Nahverkehr offen zu zeigen, dass man gut gelaunt ist.
Die S1 verläuft weite Strecken parallel zur A40, der einzigen Autobahn in Deutschland, die derart nah an riesigen Wohnkomplexen vorbei führt, dass man theoretisch von der Überholspur aus an ein Wohnzimmerfenster klopfen kann. Man kann aber auch aussteigen und mal schauen, was die Leute so im Fernsehen gucken, denn auf der A40 ist immer Stau.
Wenn der Verkehr irgendwo auf der A40 mal droht, flüssig zu laufen, wird von der Landesregierung so eilig wie wahllos eine Baustelle an die entsprechende Stelle gesetzt. Ich vermute, man will die Menschen zur Gemütlichkeit erziehen. Undankbar, wie das Volk ist, missversteht es die asphaltierende Liebe der Obrigkeit als zeitraubende Schikane und stößt mehr Verwünschungen aus als die versammelten Autos CO2.
Ansonsten ist es auf der A40 meist eher ruhig, denn man hat dort tatsächlich Flüsterasphalt verlegt. Ich habe keine Ahnung, ob es wirklich verlegen heißt, aber bei „Flüsterasphalt“ bin ich mir ganz sicher. Das Wort habe ich mir gemerkt, denn es strahlt eine eigentümliche Schönheit aus, so wie der späte Elvis oder der frühe Wittgenstein.
Die Auf- und Abfahrten der A40 sind oft so kurz wie die Laufbahn einer regionalen Schönheitskönigin. Aber da, wie gesagt, immer und überall Stau ist, muss man ja auch nicht groß bremsen, wenn man runter will. Und das Wort „Beschleunigungsstreifen“ gewinnt dadurch eine gewisse ironische Note, wie man sie sonst nur in platonischen Dialogen zu finden vermag. Ich frage mich grade sokratisch, ob der Teil einer Abfahrt, auf dem man das Fahrzeug vor Verlassen der Autobahn anbremsen soll, tatsächlich „Entschleunigungsstreifen“ heißt.
Leider besitze ich kein Auto und muss daher darauf verzichten, vom Flüsterasphalt auf den Entschleunigungsstreifen zu wechseln. Aber wenn ich einst mein Duisburger Zen-Dojo eröffnen werde, wird es im Eingangsbereich danach benannte Passagen geben. Das steht mal fest.
Bochum
Für heute bleibe ich aber lieber mal in der S1 und erreiche meine aktuelle Heimatstadt Bochum. Der Bahnhof hier ist klein, aber ungemütlich, bietet jedoch (so wie der Bahnhof Essen) den Vorteil, dass man nachts wenigstens keine offene Würstchenbude mehr finden kann.
Hässliche Riesenskulpturen gibt es hingegen schon, allerdings sind die nicht so aufdringlich bunt, wie in Duisburg, sondern in stahlfreiem Edelrost gehalten und man kann sie daher leicht ausblenden. Ich will jetzt aber einen Bahnhof nicht auf seinen Würstchenmangel und Skulpturen reduzieren, der Bahnhof in Bochum hat bestimmt mehr zu bieten.
(…)
Seit dem letzten Absatz habe ich eine halbe Stunde nachgedacht und bin zu keinem Schluss gekommen. Erstaunlich, ich hatte gedacht, es müsse hier mehr geben, als diese zwei Dinge. Ich starre einer Taube ins Auge. Dabei fällt mir ein, dass eine Bekannte hier einst von einem übermotivierten Sicherheitsbeamten rausgeworfen wurde, weil ihre damals dreijährige Tochter ein Brötchen aß. Dabei fielen Krümel auf den Boden, was den beiden Schwerverbrechern von Seiten des Sicherheitsmannes als Taubenfüttern ausgelegt wurde. Es war wohl eher eine präventiv gemeinte Maßnahme – wer heute Brötchen isst, der trinkt vielleicht morgen schon einen Tee oder liest ein Buch. Und das Wort „zivilcourage“ sieht kleingeschrieben seltsam aus, also muss man da wohl Verständnis haben.
Ich wäre das Problem allerdings etwas konstruktiver angegangen und hätte neben die gelben Quadrate am Bahnsteig, innerhalb derer man rauchen darf, noch ein grünes Quadrat gemalt, innerhalb dessen man Brötchen essen darf. Und weit davon entfernt ein blaues Quadrat, in dem die Tauben sitzen dürfen. Problem gelöst und das mit Mitteln, die der Bahn heute schon zur Verfügung stehen. Und noch dazu käme, dass Bochum dann in seinem Bahnhof mehr zu bieten hätte als Würstchenmangel und Skulpturen.
Aber lassen wir das.
Ich muss Sie unbedingt mitnehmen in den Untergrund, genauer gesagt in die U306, die vom Bahnhof aus Richtung Rathaus fährt und dort etwas ganz Verrücktes macht: Sie fährt auf einer gläsernen unterirdischen Brücke quer durch eine U-Bahn-Station, über eine andere U-Bahn-Strecke hinweg. Unten stehen die Passagiere der U302 und denken: Wow.
Wenige Momente später fährt die 302 weiter und bringt sie an der Jahrhunderthalle vorbei nach Wattenscheid. Da kann man bei einem ehemaligen Sternekoch Currywurst und Pommes essen. Oder man bleibt noch länger sitzen und landet in Gelsenkirchen, irgendwo zwischen Zoo und Fußballstadion. Als Beweis dafür, wie erwachsen ich mittlerweile bin, lasse ich an dieser Stelle die billige Pointe, dass man an beiden Orten allerlei Affen finden wird, einfach mal weg.
Kehren wir lieber zurück zur 306. Am Bochumer Rathaus, steigen wir aus und gehen mal ein paar Schritte zu Fuß. Das ist doch auch mal schön, so zwischendurch. Wir haben uns heute ja auch schon viel herumgondeln lassen, es wird Zeit, dass wir unseren eigenen Weg auf unseren eigenen Füßen gehen.
Und schon nach ein paar Minuten stehen wir am Bergbaumuseum und wenn wir hübsch unseren Eintritt bezahlen, dann fahren wir mit dem Aufzug unter Tage und gucken uns mal ein paar tierisch große Bohrmaschinen an. Es gibt erfahrene Führer, die einem die Maschinerie erklären, allerdings oft etwas kumpelhaft daherkommen. Mist, den Wortwitz konnte ich mir jetzt nicht verkneifen – anscheinend adolesziere ich doch noch.
Wenn man aus jenen unterirdischen Stollen wieder rauffährt und wenige Meter vor dem Museum wieder runter in die U-Bahn rollt, dann kriegt man übrigens ein ganz gutes Gefühl dafür, in welchem Grad das Ruhrgebiet untertunnelt ist. Darum sinkt es auch ganz allmählich, ähnlich wie Venedig oder die Qualität des Fernsehprogramms, haha.
Mit der U35 fahren wir nur ein paar Stationen nördlich, aber eine Station vor der Rensingstraße, an der google-maps den Mittelpunkt des Ruhrgebiets vermutet, steigen wir aus.
Hier, in Bochum-Riemke wandern wir wenige Meter zur Trasse der Bahn, die neuerdings „GlückAuf-Bahn“ heißt, nach dem traditionellen Gruß der Bergleute. Bis vor einiger Zeit war diese Bahn noch nach einem skandinavischen Mobiltelefon-Fabrikanten benannt, der genau hier sein Werk hatte. Eine eher traurige Geschichte, von der uns die Bahn schnell wegfährt.
Ein letztes Mal steigen wir in Bochum Hauptbahnhof um und verlassen das urbane Gedränge in Richtung Hagen.
Hier, zwischen den grünen Hügeln auf der Südseite der Ruhr, endet unsere Tour, so wie sie anfing: In einer Gegend, der man auf den ersten Blick nicht zutraut, dass sie zum Ruhrgebiet gehört.
Aber wer jetzt immer noch glaubt, das Ruhrgebiet habe nicht mehr drauf, als ein paar zerfallene hässliche Industrieruinen, dem ging unsere Tour vielleicht zu schnell. Ich rate in diesem Fall dann doch dringend zu dem eingangs erwähnten dreitägigen Spaziergang…