Wie steht es um die Fußballkultur im Ruhrgebiet? Der zum „Massenprodukt“ hochgerüstete Kultverein FC Schalke 04 – der kleine unbespielte Bolzplatz: eine Strukturwandel-Identitätskrise?
Dieter Jandt
»Der Ruhrpott,
das runde Leder und ein Pils«
Fotos: Joschi von Scherenberg
Glückauf im Club
Die Nobel-Logen finden sich in der Nordostkurve. Hier wird Schröder logiert haben und Putin beim Deal über Gas- anstatt Bierleitungen. Alle waren sie schon auf Schalke, Merkel, Köhler und und und, in der Ernst-Kuzorra-Loge oder im Glückauf-Club, wo die Säulen an den Tresen mit schwarzer Kohle ausstaffiert sind und Bergmann-Utensilien in Schaukästen ausliegen; auf dass man nicht vergisst, woher man kommt: ein altes schwarzes Telefon aus Bakelit, eine Verbandstasche aus rissigem Leder und ein Schaltkasten, um einen Kran auf und ab zu lotsen. Sogar die Rohrleitungen an der Decke sind kohlrabenschwarz.
Libuda
Wer über Fußball im Ruhrgebiet reden will, kommt einfach nicht an ihm vorbei: „Stan“ Libuda, er, der an jedem, ja sogar an Gott vorbeikam, wie seinerzeit ein Transparent vor einer Kirche verkündete.
Was ist von ihm geblieben? Die alte Lottoannahmestelle im Herzen von Schalke: Ein bescheidenes Büdchen, das noch genau so aussieht wie vor 40 Jahren. Drinnen ein enger Verkaufsraum mit dem üblichen Warenbestand eines Kioskes. An den Wänden schlichte weiße Regale, davor der Verkaufstisch. Hier hat er gehockt, unglücklich bis ins Mark, „Stan“ Libuda, der außer Fußball eigentlich nichts konnte, der sich verloren vorkam, im Leben so auch hier im Laden, den er von Ernst Kuzorra, dem Recken der 1930er Jahre, übernommen hatte. Eine Goldgrube, mit der Libuda nichts anzufangen wusste. Und so blieb er gelegentlich einfach fern, setzte sich in die Kneipe nebenan und hoffte darauf, dass er wenigstens hier in Ruhe gelassen wurde, dass nicht wieder einer dieser Neugierigen kam, die einmal im Leben ihren Lottoschein von Libuda eingelöst haben wollten, um ihn zu fragen, wie er das damals gemacht habe, als – .
Da waren nicht mehr Zigtausende, die ihm zujubelten. Da ging ab und an die Türglocke, Kunden drückten sich linkisch an der Ladentheke herum und beäugten ihren Star verstohlen.
Später dann schleppten Väter ihre Söhne herbei, nahmen kurz vor Betreten des Ladens den Nachwuchs beiseite, um ihm zuzuflüstern: Schau ihn dir genau an. So wirst du, wenn du nichts wirst!
„Eine klägliche Erscheinung, die da Sandaletten tragend mit Fahrradspange an der Hose selbst einfachste Rechenaufgaben mit der Registrierkasse zu bewältigen versuchte“, schrieb der Spiegel-Redakteur Thilo Thielke in seiner Biographie über Libuda. Alt ist Libuda nicht geworden.
In Schalke
Der Ball trudelt ins Seitenaus. So wirst du, wenn du nichts wirst! Diese Mahnung kann heute für den ganzen Gelsenkirchener Stadtteil gelten. In Schalke, wo es doch eigentlich auf Schalke heißt, aber auf den gesamten Stadtteil bezogen darf man das sagen: In Schalke, wobei auf Schalke ja gar nicht in Schalke ist, sondern außerhalb, etwa einen Kilometer hinter dem Kanal. Schalke selbst stellt sich nun als ein Viertel mit Hartz IV-Ambiente dar, durchweg. Ein Stadtteil, der sich an die Vereinsfarben klammert, um nicht unterzugehen. Wo Balkone in blau-weißer Farbe leuchten, ebenso die Speiseanzeige über der Theke der Imbissbude und manchmal auch die Bürgersteige und Hauseingänge. Wo man am liebsten auch Pommes blau-weiß anstatt rot-weiss verkaufen würde, und wo die Currywurst ziemlich scharf ist.
Der Verkehr der Hauptstraße führt an der Vergangenheit vorbei. Man hat hier nichts verloren, wenn man nicht gerade in Schalke wohnt. Friseure, Call-Shops, Billigläden und Leerstand. In den Seitenstraßen Geschäfte, die schon wieder aufgegeben haben, kaum dass sie von ihrer Neueröffnung verkündet hatten. Leere Fenster. Der alte Ruß klebt noch am Mauerwerk, davon will man nicht lassen. Das riecht nach ehrlichem Schweiß, nach Arbeit, die man nicht mehr hat. Die Eingänge weisen zerkratzte Klingelleisten auf, Hausnummern sind abgefallen. Wozu sie wieder anbringen, wenn doch kaum noch jemand hier wohnt?
Kurz vor der „Glück-auf-Kampfbahn“, ein heute kaum noch benutztes Stadion in Gelsenkirchen, dort, wo in der 1930er und 1940er Jahren Ernst Kuzorra und Fritz Szepan mit dem berühmten Schalker Kreisel den Gegner schwindlig spielten, ein Laden mit der Leuchtreklame „Mein Gelsenkirchen“. Die Rollläden sind heruntergezogen. Die Kampfbahn selbst, die alte, graue füllt sich höchstens noch, wenn WM-Spiele per Public Viewing gezeigt werden. Aber auch das findet nun auf Schalke statt, nicht mehr in Schalke. Vor den Toren blaues Gestänge, an dem sich vor 50 Jahren noch ungeduldige Fans einreihten und an den Kassenhäuschen Schlange standen. Nun wächst überall Moos.
Die Fans kommen an Gott vorbei
Noch einmal zurück zur Arena auf Schalke, denn eines haben wir vergessen. Genau unter dem Bierkeller befindet sich die Kapelle für Sünder und Hochzeiter. Täuflinge, empfangen dort auch gern den Vornamen eines aktuellen Stars. Wenn Libuda noch spielen würde, dann hätte sich der berühmte Satz bewahrheitet: „Keiner kommt an Gott vorbei, außer Libuda.“ Nun kommen die Fans an der Kapelle vorbei, wenn sie in die Katakomben hinabsteigen, um in die unteren Zuschauerränge zu gelangen. Bleibt jemand stehen, verweilt, kehrt ein, kehrt in sich? Sogar Spieler kämen gelegentlich her, aus Dank für den Torerfolg, aus Reue wegen eines schmutzigen Fouls, wer weiß warum? Hinter dem Altar hängt ein Gemälde, das die Apostelgeschichte darstellen soll, nur elf Apostel an der Zahl, in Demut vor dem Fußball: Elf Freunde müsst ihr sein. So etwas ist nur mit der tiefen Verbundenheit der Menschen mit ihrem Verein zu erklären, wo selbst der Pastor mit einem blau-weißen Anorak zur Trauung erscheint, ihn dann aber ablegt und das branchenübliche, schwarze Ornat überstreift. „Bis dass der Tod euch scheidet“. Euch, den Ruhrpott und das runde Leder.
Bolzen
Wir dreschen den Ball einfach weg. Irgendwo wird er schon landen, zum Beispiel auf einem der vielen Bolzplätze des Ruhrgebietes. Die Stadt Herne weist stolz daraufhin, 25 solcher Plätze zu haben, Dortmund gar 64. Reviere für Straßenfußballer.
Früher spielte man tatsächlich quer über die Straße, und wenn ein Auto kam, nahm man einen Moment den Ball beiseite. Schultornister fungierten als Torpfosten, und ob der Ball über oder unter den gedachten Querbalken geflogen war, wurde jeweils ausdiskutiert.
Die Bolzplätze von heute haben alles, manchmal allerdings keine Straßenfußballer, so auch in Bochum unweit des Hauptbahnhofes. Frische rote Asche wurde gestreut, aber weil man nicht „ausreichend Moos“ hat, wie es heißt, werden nun Bolzplätze dicht gemacht. Die Kommunen sind klamm, und man sucht Gründe zur Schließung: Weil man das Geld für einen neuen Querbalken nicht aufbringen kann; wegen zu viel Kinderlärm; weil die Plätze nicht genügend bespielt werden.
Die Anwohner hinter dem Maschendrahtzaun streiten sich. Die einen sind froh, weil dort spät abends die Jugend ohnehin nur lärmt und trinkt, wo man doch eigentlich in Ruhe auf den Balkonen grillen will; die anderen sind wütend, dass ihre Kinder nicht mehr wissen, wohin mit dem Ball. Zurück auf die Straße?
Wie sagen die Menschen doch? „Den Ball, den nimmt uns keiner.“ Hoffentlich nicht.
Hier zwischen Herne-Baukau, Castrop-Rauxel und Wanne-Eickel, wo die Ortsnamen so sperrig sind wie eine quergelegte Dachlatte, hier ist schon immer der Ball gerollt, wurde hierhin, dorthin gebolzt, getreten, abgeschlagen, ins Seitenaus gekickt, am liebsten ins Tor und oft auch mit einem Rückpass in die Vergangenheit.
So rollt der Ball also quer durch den Ruhrpott, er geht auf Tour, denn der Pott und der Ball gehören zusammen. Man munkelt, die Kumpel hätten dann und wann sogar einen Ball mit unter Tage genommen, um sich die Langeweile während der Pause zu vertreiben. Aber das sind Gerüchte, von denen es viele im Revier gibt, rund um den Ball. „Den jedenfalls nimmt uns keiner“, sagen die Menschen beinahe trotzig denen, die behaupten, der Fußballsport im Revier sei längst im Niedergang befindlich. „Den nimmt uns keiner“, und doch hat man ihnen einiges genommen, auch von ihrer Identität. Um das zu verstehen, sei der Anstoß in Essen-Bergeborbeck.
Ein Stadion wie ein zu großes Maul
Was ist das? Eine Ruine? Oder entsteht hier etwas? Drüben die Abrisskante an der Nordtribüne, ein zerzaustes Stadion, das womöglich nicht fertig wird. Eine tiefe Wunde wie bei einem zu weit aufgerissenen Mundwerk. Hinter der Abrisskante braches Bauland. Rote Erde. Nur ein einsamer blauer Baucontainer steht da unter der Stadionuhr, die man provisorisch auf ein Stahlgerüst gehängt hat. Hier wird nicht mehr gearbeitet. Die Bezirksregierung hat bis auf weiteres die Gelder gekappt. Die Stadt Essen unterliegt dem Haushaltsicherungskonzept. Hier geht nichts mehr.*
Schon in den neunziger Jahren wurde die Westtribüne wegen Baufälligkeit abgerissen. Nun will man den Anschluss schaffen, ebenso wie das Ruhrgebiet, den Strukturwandel will man meistern. Eine Stätte mit Symbolkraft, und dafür hat man sogar den bronzenen Helmut Rahn, die Statue, nach Hattingen ins Exil geschickt. Er stand im Weg beim Schritt in die Moderne. Wenn er denn erfolgt.
In den 1950er Jahren erbaut – da war Rahn noch auf dem Platz – hat das Stadion seitdem einige Erfolge erlebt: 1953 Pokalsieger und 1955 Deutscher Meister. In den 1970er Jahren passten hier 35.000 Menschen hinein, und sie kamen, Rot-Weiss Essen spielte zeitweise erstklassig. Nun kommen allenfalls 6.000 Zuschauer, um sich auf die rot-weißen Sitzschalen zu verteilen. Das ist immerhin viel für die 5. Liga, die Fußballfans hier halten sich an ihrer Vereinstreue fest, und so sitzen sie da und warten darauf, dass die Spieler aus dem Gang herauskommen, der wie ein Raubtierlauftunnel im Zirkus von den Kabinen auf das Feld führt.
5. Liga, Sponsoren, die sich nicht zu investieren trauen und ein Stadion, das auf lange Sicht nicht fertig wird. Eine Fandemo hat es in der Innenstadt gegeben, dann und wann erinnern Graffiti an alte Versprechungen – aber wenn kein Geld da ist?
Drüben lärmt der Verkehr der Verbindungsstraße zwischen Bergeborbeck und Bottrop. Dahinter der blau-weiße Turm einer Aluminiumhütte, die es immerhin noch gibt.
Wie da herauskommen aus der 5. Liga, das Looser-Image loswerden, den schäbigen Ruf, den man erworben hat, wenn schon die Zeugwarte der anderen Vereine über das Stadion die Nase rümpfen, vor allem über die Umkleidekabinen. Da sei es so eng, da könnten sich nicht einmal elf Spieler gleichzeitig umziehen. Und tatsächlich hat der Raum für die Gastmannschaft das Ambiente einer Grundschulturnhallen-Umkleidekabine. Zwei Bankreihen, darüber Aluminiumschienen mit Haken zum Aufhängen von Kleidung.
In den Gängen zu den Kabinen die Heldengalerie von Rot-Weiss Essen. Teilweise mit Getränkekisten und Medizinkoffern verstellt. Elf mannsgroße Fotos mit den Stars der Vergangenheit. Rahn vorneweg, und Herkenrath, der Keeper.
Drüben in der Kabine der eigenen Mannschaft riecht es nach ehrlichem Schweiß, Arbeiterschweiß, hier werden Siege noch ehrlich erkämpft, so die klischeehafte Vorstellung. Latschen, Schuhe, Trikots liegen durcheinander. Ein großer Tisch steht in der Mitte. Dort legt der Zeugwart stets die gefalteten Trikots ab. Über den Bänken Regale für Utensilien, Duschgel, Handtücher – ein Buch, wozu?
Vor dem Eingang zu den Duschen steht ein Flipchart. Der Trainer hat die Positionen des kommenden Gegners markiert, zum Einnorden der Mannschaft vor dem morgigen Spiel gegen den FC Wegberg-Beeck. Wo liegt das Kaff? Irgendwo in der 5. Liga.
Beim Verlassen der Geschäftsstelle fährt soeben der Vereinsbus vor, leuchtend rot lackiert. Den immerhin kann man sich noch leisten.
* Nun hat der Rat der Stadt Essen sich doch für einen Stadionneubau entschieden. 31 Millionen Euro soll das Ding kosten, 24 Millionen Euro steuert die Stadt bei. Im Jahre 2013 soll das Stadion fertig sein.
Justen
Der Ball kollert über die Schotterwege eines Biergartens am Wasserschloss Wittringen, das ist bei Gladbeck. Hans-Josef Justen sitzt zurückgelehnt auf einem Klappstuhl, ein Glas Pils vor sich auf dem Tisch. Zufrieden mit seinem Rentnerdasein und dem Vergangenen, das er 40 Jahre lang als Sportredakteur der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) beschrieben hat, zufrieden mit all dem, was der Fußball im Ruhrpott losgetreten hat. Hinter ihm das Fachwerk und die gelben Mauern des Schlosses, das im 13. Jahrhundert erbaut wurde. Charly Neumann, dem Edelfan von Schalke 04, hat es in den letzten Jahren bis zu seinem Tode gehört. Er, der lange Zeit die Begeisterung und den Kult um Schalke verkörperte. Huub Stevens hat er hier wohnen lassen, während dieser „seinen Verein“ trainierte. Von hier sind es knapp zehn Kilometer bis zum Stadion in Gelsenkirchen. Der Verkehrslärm der A2 weht ständig herüber und will nicht zur Idylle rund um den Schlossteich passen.
Auch der kauzige Trainer Huub Stevens und der stets mit Vereinsfahnen behangene Charly Neumann wollten nicht so recht zum Wasserschloss passen, dessen Körper auf den ersten Blick wie ein Kirchenschiff wirkt, mit Bunsenglas im oberen Stockwerk, sehr alten, nicht mehr roten Backsteinen und grün-lackierten Türmen. Graugänse staksen am Ufer des Teiches entlang, und die langen, grünen Fäden der Trauerweiden wedeln im Wind über das Wasser. Neben dem Schloss ein Imbiss, wie überall im Ruhrgebiet, wo die Büchereien Pommesführer verkaufen, mit den 50 kultigsten Buden im Ruhrpott. Auch das gehört zum Fußball und den Fans: 'Ne Curry-Wurst, Pommes rot-weiß – und ein Pils.
Im Erdgeschoss des Restaurants geht es nobler zu. Köche mit weißen Mützen stehen über Töpfe gebeugt. Krimidinners gibt man hier gelegentlich. Nun aber gibt Justen im Biergarten Anekdoten preis, schaut auf sein Glas Bier und in die Vergangenheit, denkt an die größten Enttäuschungen: 2001, als man schon glaubte, Meister zu sein. Ob er Schalke-Fan ist? Neinnein, „seinen“ Verein gibt es schon lange nicht mehr, winkt er ab: die Sportfreunde Gladbeck. Das war zu einer Zeit, als es in der Oberliga West noch reichlich Vereine aus dem Ruhrpott gab. Als man alle paar Kilometer des Emscherschnellweges zu einem Traditionsverein abbiegen konnte, Fußballgeschichte an jeder Ausfahrt: SV Sodingen, VfB Bottrop, Westfalia Herne und eben Gladbeck. Da standen die Barone der rauchenden Schlote und tiefen Schächte als Sponsoren bereit. Bis die Schlote dann nicht mehr rauchten und die Zechen stillstanden. Dann folgte die Fusion der Vereine, die allein nicht mehr existieren konnten. „Wenn aber Elend und Elend zusammengelegt wird, dann wird das auch nix.“ Beim Fußball ergibt minus mal minus eben nicht plus, im Leben nicht. Justen zuckt mit den Schultern. Der Mann kann ziemlich direkt sein. Ein Ruhrpottler eben. Und als die Rede auf Rot-Weiss Essen kommt, da wird er richtig sauer: „Die können eben nicht wirtschaften. Das haben die nie gekonnt. Wenn ich das schon höre: 30 Millionen für den Stadionumbau, wo die Kommunen weiß Gott andere Sorgen haben.“ Der Mann redet sich in Rage. Wie man so mit Tradition umgehen kann!
Der Bundesligaskandal war auch so eine Geschichte, die Justen spontan einfällt, wenn er auf seine berufliche Karriere zurückblickt: Reinhard Libuda, Rolf Rüssmann, Klaus Fischer und viele andere mehr, die sich hatten bestechen lassen. Dass die das nötig hatten! Das hätte eine wirklich große Mannschaft werden können, bedauert Justen, ohne diesen Skandal, nach dem die Mannschaft auseinanderfiel. Justen winkt ab. Auch der Meidericher SV und Rot-Weiss Oberhausen waren in den Skandal verstrickt. Die Glaubwürdigkeit der Fußballer im Ruhrpott war enorm beschädigt. Die Stadien blieben leer, denn die ehrlichen Häute sahen sich betrogen. „Watt soll ich auf´n Platz gehen, wenn ich da beschissen werde“, maulten die Menschen und blieben fern.
Und heute? Schalke? „Natürlich ist das Klasse, was die da aufgebaut haben“, meint Justen. „Aber die richtigen Fans wollen nix Teures, die wollen im Stadion stehen.“ Früher hat er als Redakteur der WAZ auf Schalke noch mittrainiert, in Wattenscheid und in Dortmund. Man kannte und man duzte sich mit den Spielern. „Heute gehen die mit Bodyguards zum Training, und schotten sich ab!“ Früher, früher! „Da konnte man Fritz Szepan und Ernst Kuzorra in der Vereinskneipe treffen. Heute gehen die Spieler in Edeldiscos und sind abgehoben. Straßenfußballer sieht man nicht mehr. Wo wird denn noch auf der Straße Fußball gespielt? Die haben doch heute alle andere Interessen.“
Und dann schöpft er doch wieder Hoffung. „Fußball wird hier immer groß geschrieben werden. Die Strukturen im Pott sind und bleiben stark. Und die Fans werden immer da sein. Komme, was da wolle.“ Lehnt sich zurück, nimmt einen Schluck und schaut übers Wasser. Die Gladbecker Sportgespräche moderiert er noch. Die seien gut besucht, und da versucht er nicht ständig von der Vergangenheit zu reden, sondern wie es weitergehen kann, vor allem auch mit den kleinen Vereinen.
Die Zeugwartin von Schönebeck
Ein paar Kilometer südwärts landet der Ball in den Armen von Rosemarie Chojnacki, ihres Zeichens Zeugwartin: „Nur“ Frauenfußball, aber Erste Liga! Der SG Essen-Schönebeck hat hier sein Gelände mit großem Vereinsheim, das soeben erst ausgebaut wurde. Die Zeichen stehen auf Fortschritt, auch den sportlichen. Bisher langte es allenfalls mal für den fünften Platz. Aber man will weiter, näher an die großen Vereine heran.
Rosemarie Chojnackis Zeit als Zeugwartin ist eigentlich schon vorüber. Jahrelang hat sie die Wäsche gewäschen, die Fußballschuhe sauber gehalten, das Zeug gewartet und ist mitgefahren, wenn es für Wochen ins Trainingslager ging. Heute macht sie nur noch die Wäsche für die „Mädels“ und das Frühstück vor dem Spiel. Die Zeit reicht nicht mehr, sie hat nun einen Minijob. Man muss ja zurecht kommen. Und so sitzt sie nicht mehr allzu oft im kleinen Biergarten hinter dem Vereinsheim, trinkt Pils, isst Curry-Wurst mit Pommes, um dann mit Kippe im Mundwinkel zum grünen Bauwagen hinüberzuschlendern, der am Spielfeldrand aufgebockt ist und in dem der Verein all das beherbergt, was für den Spielbetrieb notwendig ist: Bälle, Schuhe, Trikots, Taschen, Koffer und und und.
Kids bolzen nebenan auf roter Asche. Der Unterstand für Trainer und Ersatzspieler sieht aus wie eine Bushaltestelle. Jemand hat in blauer Farbe „Sex“ auf das Plexiglas gesprüht. Rosemarie Chojnacki ist 'ne ehrliche Haut, ein Original, das sich keinen Kopf macht, das sich selbst genügt und immer für andere da ist. Eine, die einfach hilft. Wenn die eigene Tochter nun mal im Verein spielt, da krempelt man die Ärmel hoch und packt mit an, als Mädchen für alles.
Früher hatte sie manchmal zehn Waschmaschinen pro Tag, schleppte die Klamotten von Pontius nach Pilatus und hörte sich die Sorgen der „Mädels“ an. Zum Auswärtsspiel hat sie ein Mal den Arztkoffer vergessen, kein Wunder bei all dem Kram, der ran- und fortgeschafft werden muss.
Die jämmerlichste Umkleidekabine sei im Osten gewesen, irgendwo in Sachsen, mit Toiletten hinter Bretterverschlägen und „was nicht allem“. Ihr berühmtester Kollege aber war Adi Dassler, Zeugwart der Nationalmannschaft, der von 1954. Schon damals hat er nicht mehr die Schuhe der Spieler geputzt, sondern sie selbst angefertigt. Nun trägt sie weltweit jeder zweite. „Da kann ich mich ja noch hocharbeiten“, sagt Rosemarie und zieht grinsend an ihrer Zigarette.
Kiebitze auf dem Geländer
Auch der VfL Bochum muss sich immer wieder hocharbeiten. Der Verein gilt als „Fahrstuhlmannschaft“ zwischen 1. und 2. Liga. Im Vergleich mit den großen Konkurrenten Schalke 04 und Borussia Dortmund geht es beim VFL Bochum, der ehrlichen Haut der Reviervereine, beschaulicher zu. So auch, was die Kiebitze anbelangt. So nennt man jene, die stets zum Training auftauchen.
Hier in Bochum lehnen nur ein paar dieser Exemplare vereinzelt am Metallgestänge des Trainingsplatzes. Einer kommt per Fahrrad mit Satteltaschen in Vereinsfarben, darin eingepackte Stullen. Und während die Spieler auf dem Rasen ihre Runden drehen, meckern und lästern die Kiebitze. Sie sind die besseren Trainer, haben Dauerkarten und erscheinen jeden Morgen pünktlich, pünktlicher als so mancher Spieler, der da im Pick-up mit dunkel getönten Scheiben vorfährt.
Auf Schalke und in Dortmund geht es noch ganz anders zu. Dort stehen oft Hunderte von Kiebitzen in einer langen Reihe am Geländer, um auszubrüten, was sie sich an Ärger reingefressen haben. Einige beleibte Exemplare sitzen zum Frühbier an der Würstchenbude und trinken sich ein zusätzliches Polster an.
Man sieht sogleich: Kiebitze können komische Vögel sein, im Bestreben mitzureden. Und somit ist der Kiebitz ein recht lästiger Vogel, der da an Spielern, Trainern, ja sogar dem Zeugwart herumnörgelt. Weil er nicht anders kann. Weil er immer das Beste für den Verein will, was aber eher selten eintritt. Also ist der Kiebitz als solcher auch ein durchweg wilder und wütender Vogel, der sich oft erst nach Tagen abregt. Man weiß alles besser, hat es schon immer gewusst, hätte diesen Spieler gar nicht erst gekauft und jenen mal so richtig –. Schließlich stehen manche schon seit 40 Jahren neben dem Platz und gelten als leibhaftige Vereinschronik, die im Laufe der Zeit das Geländer krumm gebogen hat, vor lauter Ärger, weil dann doch meistens das Glück fehlt, hier in Bochum.
Hinter dem Platz erhebt sich ein grauer hässlicher Würfel aus verbeultem Metall, auf dem die Frühlingssonne glitzert. Die Halle, in der nun seit Jahrzehnten der Starlight Express gegeben wird. Gegenüber ein anderer, ein blauer, noch farbenfrischer Würfel, das Stadion des VfL, das nun zur Frauen-WM 2011 abermals umgebaut wird. Also kreisen Bagger mit gelben Blinklichtern um das Stadion, wühlen die Erde auf, lärmen, sodass die Kiebitze lauter kauzen müssen, um sich selber zu verstehen: „ Das sind keine Drecksäue“, schimpft einer, der immer kommt, wenn er nicht gerade Frühschicht hat. „Die müssten alle mehr wie Drecksäue agieren, aber so könnten datt alle meine Schwiegersöhne sein.“ Fuchtelt mit den Armen und fordert Härte.
Als die Übungseinheit beendet ist, hängt er sich sogleich an den Trainer, nimmt ihn beiseite und gibt letzte taktische Anweisungen. Man hat ja nicht nur eine Dauerkarte und erscheint pünktlich zum Training, man ist auch Vereinsmitglied. So viel Mitsprache muss sein. Dass sie die Stadionzeitung abonniert haben, ist das Mindeste. Sie fahren das volle Programm: Sie haben Fotos, auf denen sie mit allen möglichen Spielern abgelichtet wurden. Die Wohnung hängt voller Fahnen und Wimpel, und manchmal ist sogar die Bettwäsche in Vereinsfarben. Da wird man dem Trainer doch noch sagen können, was man vom derzeitigen Gekicke hält!
Was aber wäre, wenn der Kiebitz überhaupt nichts mehr auszusetzen hätte, an nichts und niemandem. Was wäre dann? Er würde vermutlich, seiner eigentlichen Bestimmung verlustig, tot von der Stange fallen: Begrabt mich an der Biegung der Aschenbahn.
Rahn in Bronze
„Rahn müsste schießen!“ Aber der ist schon lange tot. Also noch ein Rückpass in die Vergangenheit. Eigentlich sollte der Ball wieder in Essen landen, so aber fliegt er diagonal über den Ruhrpott nach Hattingen und dort zur Henrichshütte, die einstmals ein Zeugnis stolzer Industrie war – bis zum schwarzen Donnerstag 1987, als das riesige Stahlwerk an der Ruhr für immer geschlossen wurde. Ofen aus! Zurückgeblieben ist ein Industriedenkmal aus altem Metall, ein Rest aus rostigen Rohren, Türmen mit noch grünem Lack, Gestänge aus Grünspan, Wellblech. Man steht maulaffenfeil unter bauchigen Kesseln mit Außentreppen, Zylindern, Ventilen und Öfen, in denen einst flüssiger Stahl glühte. Davor auf stillgelegten Gleisen leere Loren, die niemals mehr beladen werden. Das alles ein metallener Haufen als letzter Hüttenheld.
In der Pommesbude gleich um die Ecke hat man sich den Teller häufen lassen. Das Übliche, aber diesmal mit Jägersauce anstatt Ketchup. Nicht übel.
Drüben das Museum und das, wonach wir gesucht haben: Die Halle der Helden, und mittendrin, zwischen Lenin und Atatürk, Schimanski und Obama im Superman-Kostüm, Helmut Rahn mit dem Ball am Fuß, genau in der Laufhaltung, mit der er damals zum Schuss ansetzte: Rahn müsste schießen … Rahn schoss im strömenden Regen von Bern, pudelnass, und steht dafür heute mit Bronze übergossen im Museum der Henrichshütte, den bronzenen Ball am Fuß, kurzerhand umgepflanzt, weil das Essener Stadion, vor dem er bislang posierte, ja umgekrempelt werden soll, eigentlich. Also steht Rahn da zwischen blauen Trennwänden, mit Macken und Riefen in der metallenen Haut. Und tatsächlich hat er nach diesem Tor, von dem er später sagte, dass er es besser nicht geschossen hätte, reichlich Lebenskraft verloren. Immer wieder sollte er schildern, wie er das damals angestellt hatte, und ist beinahe darüber zerbrochen. Er, von dem man sich erzählt, dass er Sonntag mittags vor den Spielen für Rot-Weiß Essen mit Kumpeln in der Kneipe saß, sich mehrere Gläser Pils zuführte und dann ins Stadion fahren ließ, die Gegner schwindlig spielte und zuverlässig einlochte. Wo gibt es das heute noch? Gebüßt hat er dafür, ein Leben lang, hat sich bis zu seinem Tod aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und ist nun nur noch in Bronze präsent, neben ihm ein Schaukasten mit dem Fußballschuh – ebenfalls in Bronze –, mit dem er damals die „Kirsche“ forderte, um sie im Tor der Ungarn unterzubringen.
Nun wartet Rahn, bis er wieder dorthin geschafft wird, wo er hingehört: nach Essen.
„Du spielst zu viele Rückpässe. So wird das nichts!“ Also schlagen wir den Ball lang nach vorn.
Arena auf Schalke
Soeben wird der Rasen ins Stadion gefahren. Tagelang hat man ihn draußen an der Frischluft geparkt. Nun wurden kurzerhand die Stützpfeiler der Südtribüne hochgeklappt, die Rolltore aufgezogen und der Rasen in einer Wanne liegend dorthin gefahren, wo er hingehört: in die Mitte. Sechs Stunden dauert diese Prozedur. Seicht summen die Motoren, während sich die Wanne allmählich über Führungsschienen auf die schmalen Gummimatten schiebt. Morgen wird’s wieder ernst, morgen wird gespielt.
Rundum leer die Reihen der blauen Sitzschalen, unterbrochen von Luken mit grauen Balustraden, aus denen vor Spielbeginn Fans mit blauen Schals hervorkommen. Über allem hängt der riesige Videowürfel. Auch dessen Bildschirme sind noch leer. Auf dem nackten Estrichboden, dort, wo die Wanne mit dem Rasen noch nicht angekommen ist, eine kleine Pfütze. Genau darüber hat sich vor Monaten ein Loch in der Decke aus eigentlich stabiler Zeltplane aufgetan, ein Riss wegen zu starker Schneebelastung. Nun ist der Dachschaden behoben.
Bier aus Pythonleitungen
Dass Bier im Ruhrgebiet zwingend zum Fußball gehört, wissen wir noch von Helmut Rahn. Auf Schalke tut sich dieser Zusammenhang ganz anders auf. Wir steigen ein paar Etagen hinab in die Tiefen der Arena und finden gleich neben dem Raum, in dem die Pressekonferenzen abgehalten und Plattitüden formuliert werden, einen der vier Kühlkeller, darin stählerne Biertanks: insgesamt 18 an der Zahl mit einem Fassungsvermögen von je 1.000 Litern. So stehen sie aneinandergereiht und versorgen die durstigen Kehlen der Zuschauer. Pressluft sorgt dafür, dass sich das Bier über insgesamt sechs Kilometer in „Pythonleitungen“ zu all den Kiosken und Eventlogen emporschlängeln kann. Sechs Kilometer, das sind fünfzehn Runden im Stadion, aber eine Laufbahn gibt es ja in den modernen Fußballstadien nicht mehr. Der Nachschub erfolgt wie beim Heizöl über Tanklastzüge, die außen am Stadion andocken. Der Bierkellerboden, die Leitungen, alles aus Edelstahl. Edelrevier hier. So modern gibt sich der alte Arbeiterverein, während abseits des Stadions am trüben Horizont letzte Lichter der Industrie flackern.