Endlich Frühling in Dortmund, ein Hochgefühl wieder auf dem Fahrradsattel zu sitzen! Doch auch kritische Zwischentöne sind erlaubt: Ein ambivalenter Blick auf den Strukturwandel im Hinblick auf den Umgang des Menschen mit der Natur. Nicht nur die Umweltzerstörung sondern auch die künstliche Anlegung von Naturräumen kann man als Entfremdung des Menschen von seinem natürlichen Lebensraum sehen.
Ralf Thenior
»Blütenknospenkino - Eine Spazierfahrt am östlichen Rand des Ruhrgebiets«
Fotos: Frank Schultze
Es ist Frühling. Die Kampftrinker der Trinkhalle Scharnhorststraße halten ihre wintermüden Gesichter in die Sonne und testen das erste Pilsken an. Ich habe mein Fahrrad aus dem Keller geholt. Der Urgroßvater meiner Enkelin hat es mir überlassen, weil er es nicht mehr braucht. Ich pumpe Luft in den Vorderreifen und spüre Sonnenwärme im Nacken wie die sanfte Hand einer Frau. Dann sitze ich im Sattel und rolle durch die vormittagsruhige Feldherrnstraße. Endlich! Auf diesen Augenblick habe ich den ganzen langen Winter gewartet.
Es ist ein Hochgefühl, die Welt wieder vom Fahrradsattel aus zu betrachten. Der Asphalt, die kahlen Haselnussbäumchen am Straßenrand, die blitzenden Autos, die quer an den breiten Gehsteigen stehen, die guten alten Häuserfassaden, alles leuchtet plötzlich im Sonnenlicht, der ganze Vormittag ist mit dem enorm funktionstüchtigen Frühlingsglanz-Booster poliert. Die alte Frau mit dem Rollator lächelt. Der Mann aus Kamerun lächelt. Das kleine türkische Mädchen, das zu spät zur Schule kommen wird, lächelt. Sogar der finstere Riese mit dem Irokesen und dem Goldring im Ohr lächelt. Und spätestens seit eben weiß ich es wieder ganz genau: Ich bin der Erbe des Universums.
Mein treuer Drahtesel wird mich zu Lieblingsorten tragen. Ich werde mein Industrie-Venedig wieder sehen, das Stadt-Panorama von oben betrachten, dem Drachen in den Rachen schauen, eine blühende Pestwurzkolonie besuchen, den Kormoranen am Kanal nachspüren und schließlich durch den alten Luna-Park zurück direkt ins Herz des Ruhrgebiets auf meine eigene Scholle fahren.
Ich wohne in der Nordstadt von Dortmund, dem östlichen Einfallstor zum Ruhrgebiet, wie Staatssekretäre gern sagen. Dortmund, die heimliche Hauptstadt Westfalens, ist die größte Stadt des Ruhrgebiets, und ich bin ein in Schlesien geborener, in Hamburg aufgewachsener westfälischer Dichter, der in der Dortmunder Nordstadt lebt, wo es hundertsiebenundachtzig verschiedene Sprachen, Kulturen und Ethnien gibt. Inzwischen wahrscheinlich mehr.
Einige von ihnen habe ich im großen Carla-Chamäleon-Projekt des Dietrich-Keuning-Hauses kennen gelernt. Ein Jahr lang arbeitete ich mit Kindern in Grundschulen, Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien und in einer Förderschule: Manchmal sehe ich bekannte Gesichter auf der Straße. Das marokkanische Mädchen aus der Hauptschule an der Landwehr, das wundervolle Geschichten schrieb und zum Auftakt den Spruch brachte: „Nur Döner macht schöner“. Oder Dennis, inzwischen lang aufgeschossen, der in der Grundschule Lessingstraße das Wort „beknattert“ in die Runde warf und alle mussten lachen.
Ich strecke meinen Arm heraus, um links in die Blücherstraße abzubiegen, obwohl gar keiner kommt. Hier an der Ecke ist das „subrosa“, die berühmte Hafenkneipe mit Live-Musik, in der ich vor gut zehn Jahren mit dem Nachbarn Kai Jordens aus Stade, auch als „Narrenkai“ bekannt, mit Grobilyn Marlow und dem DJ Martini (Wolfgang Antonius Kienast, Graf von Roit zu Hoya) die legendären Veranstaltungen von „Departure Dortmund“ aus der Taufe hob: Dortmunder reisen in die Welt und berichten davon. Wir waren überall, Südostasien, Holland und im Sauerland. Dazu endgeile, wie man damals noch sagte, Musik, aufgelegt von Martini oder von Grobi mit Elvismaske auf der Gitarre unplugged gespielt. Nach einer Veranstaltung schlief der betrunkene Fotograf L. auf der Bühne ein, während fünf Millimeter neben ihm getanzt wurde. – Nordstadtanekdoten.
Ich brauche nur die stark befahrene Mallinckrodtstrasse zu überqueren, die zur A 45 führt, und schon bin ich in ruhigem Fahrwasser auf grünem Weg zwischen Schule und alter Post. Ein Freund von mir hat vor langer Zeit eine junge Dame aus dem Hause von Mallinckrodt geheiratet, um an ihren Namen zu kommen, der ihm als Pharmavertreter nützlich war. Eines Tages retteten seine medizinischen Kenntnisse einem anderen Freund das Leben.
Doch diese Geschichte ein andermal. Bevor ich die Hauptverkehrsader überquere, komme ich noch an dem großen, rot und blau bemalten Stahlring auf dem kleinen Platz zwischen den Spielplätzen an der Martha-Gillesen-Straße vorbei, der einen Ausschnitt der Lessingstraße im runden Rahmen zeigt. Und jedes Mal muss ich an die „Sechsunddreißig Ansichten des Fuji“ von Hokusai denken: Der Küfer, der durch das bodenlose Fass den schneebedeckten Fuji erblickt.
Aufgefallen ist mir: Auf diesem löcherigen Asphaltpfad zwischen Landwehr-Hauptschule und der Großbaustelle auf dem alten Postgelände bewegen sich nur Jugendliche (meist Schüler der Hauptschule Lützowstraße) und „Ausländer“, die aber ja gar keine „Ausländer“ sind, weil sie hier leben, arbeiten und Kinder zeugen.
Hier gibt es verschwiegene Begegnungen auf einem von rosa Blüten überstreuten Weg und heimliche Zigaretten auf dem kleinen Spielplatz. Und gerade kommt mir eine Frau auf dem Fahrrad entgegen, in dem Einkaufskorb vor dem Lenker sitzt ein Dackel und schaut mich hochmütig an.
Der Frühling in der Kleingartenanlage „Hafenwiese“ ist voller Krokusse, Tulpen und Narzissen, deren Knospen in der Frühlingsluft platzen. Es ist als ob eine Fahne im Wind flatterte, auf der steht, der Winter sei vorüber. Und weil Ostern ist, werden bemalte Eier in die noch kahlen Zweige der Sträucher und Bäume gehängt. Es ist Anfang April, die Gartensaison hat endlich begonnen und die Kleingärtner sind mächtig am Pflanzen und Putzen.
Ich durchquere die Anlage auf dem Hauptweg, komme am Vereinslokal vorbei („Freitag Schnitzeltag. Wiener Schnitzel mit Pommes oder Kroketten und Salat, 6 Euro.“), halte an der Schäferstraße, auf der Lastwagen ins Hafen-Industriegebiet donnern und rolle dann auf den neu angelegten Weg zwischen Fredenbaumpark und den Gleisen des Güterbahnhofs. Das ist rasch zu einem Hundebesitzerspazierweg geworden. Kein Problem für einen Radfahrer, die Tiere waren alle in der Hundeschule und gehorchen aufs Wort.
Auf dieser Strecke gibt es eine Stelle, die mich anzieht. Ein winziges Feuchtbiotop mit Rohrkolben, das im Sommer völlig austrocknet und im Frühjahr von neuem aus einer Pfütze zu treiben beginnt. Doch ich halte nicht. Ich will so schnell wie möglich an den Kanal.
Hinter den Großbehältern des Petroleumhafens liegt mein Industrie-Venedig. Hier, wo der Dortmund-Ems-Kanal in den Dortmunder Hafen mündet, sitze ich im Sommer an eine Mauer gelehnt, eine Bierflasche aus der Kühltasche in der Hand und betrachte eine Kanallandschaft, die sich in immer tiefere Hafenbecken verliert und eine von Menschen gemachte Unendlichkeit vorspiegelt. Besonders diese süße kleine Brücke mit dem ovalen Bogen auf der anderen Seite hat es mir angetan. Wolken darüber, Wasser darunter. Kleine Autos tuckern irgendwohin.
Doch diesen Ort nur als Appetitanreger vorweg, denn es geht auf der Kanalpromenade weiter, an den Bootsschuppen der beiden Ruderclubs „Germania“ und „Hansa“ vorbei und den schrägen Pfad zur Brücke hoch. Bin ich noch in Form? Schaffe ich es im zweiten Gang den Berg hinauf?
Die Kanalbrücke an der Weidenstraße ist eine Stahlfachwerkbrücke, wie ich viele vor einigen Jahren in Vietnam sah, was mich an das Ruhrgebiet erinnerte. Doch die Stahlfachwerkbrücken verschwinden langsam und werden von leichteren, eleganten Bogenbrücken ersetzt, so wie auf der B 54 vor Lünen über den Datteln-Hamm-Kanal. Dort sind in gut einjähriger Arbeit zwei neue Bogenbrücken über den Kanal geschoben worden. Ein kurzer Blick übers Wasser, die Sonne steht über den Dächern der Stadt. Ich fahre nach Norden, genieße die Schussfahrt vom Kanal weg zum Emscher-Radweg am Feld vorbei, vor mir liegt die Deponie Huckarde und links daneben die zwei gigantischen, silbern glänzenden Ostereier (ein echter „Ruhrpott-Koons“), die eigentlich Faultürme des Emscherklärwerks sind.
Der Himmel ist frühlingsblau, niedrig ziehen große weiße westfälische Haufenwolken Schattenfelder übers Land. Unten am Ende der Gärten muss ich abbremsen und halten, denn die Deusener Straße, Hauptschlagader des Ortsteils Deusen, ist oft befahren. Auf der anderen Seite ein kleiner Hain mit einem Drachentöter über einer Gedenktafel. Der Recke, der dem grässlichen Gezücht das Schwert in den Leib stößt, hat ein kleines Identitätsproblem: Heide oder Christ, St. Georg oder Siegfried, das ist nicht klar auszumachen. – „UNSEREN HELDEN, 1914 – 1918, Krieger- und Landwehrverein Deusen“.
Es folgt eine weitere Schussfahrt den sandigen Feldweg hinunter, der in einer scharfen Rechtskurve endet, mit Schwung eine kleine Anhöhe hinauf, um auf den Scheitelpunkt zu gelangen und von dort in lang jubelndem Halbkreise zwischen Feuchtbiotop und Kornfeld auf den Himmel über den Dächern der Neubau-Siedlung zuzupreschen. Doch Achtung: Rutschender Sand und rollender Splitt! Am Ende der von Büschen gesäumten Zwischenstrecke habe ich im vergangenen Sommer einen Schimmel in einem Obstgarten gesehen, ein großes, schweres Pferd, das im Schatten der Bäume krachend Äpfel kaute – ein Bild wie aus einem Traum.
An den Hintergärten der Einfamilienhaussiedlung vorbei, eine scharfe Neunzig-Grad-Kurve und schon ist der zweite Gang gefragt, um über die Emscher-Brücke zu gelangen. Die Emscher riecht immer noch süßlich nach Kacke und gebrauchten Tampons, obwohl das Wasser hier klar ist, Wasserpflanzen vom Grund aufsteigen wie grüne Elvistollen, die in der schnellen Strömung wie im Wind nach vorne fliegen, und immer sind Enten auf dem Wasser und manchmal auch Möwen. Auf der anderen Seite erreiche ich den Emscher-Radweg und direkt gegenüber von der Brücke führt eine Treppe auf die Deponie Huckarde hinauf. Eine ehemalige Müllhalde, die man mit Erde bedeckt und bepflanzt hat. Ein riesiges Gebiet. Von oben hat man einen guten Überblick.
Treppe nach Teotihuacan
Etwa eine halbe Autostunde von Mexiko City entfernt liegt Teotihuacan, eine Ansammlung aztekischer Pyramiden, von denen ich eine vor Jahren bestieg. Zweihundertachtundsiebzig Stufen. Genau wie jetzt, da ich dieselbe Zahl von Stufen an der Deponie Huckarde hinaufsteige in den blauen Herbsthimmel. Da rüttelt ein kleiner Raubvogel (im Bestimmungsbuch nachsehen!). Das Jauchzen der Mountainbiker erklingt um mich herum, und das Knacken ihrer Knöchelchen. Unter mir liegt Deusen zwischen herbstlich sich färbenden Bäumen. Da hinten die Skyline von Dortmund mit ihren sieben Wolkenkrätzerchen und ihren lieben Kirchtürmlein. Der Ikea-Schuppen auf der Ellinghauser Halde ist so groß, dass man ganz Deusen darin unterbringen könnte. Ein langer Güterzug fährt über die Brücke über den Kanal durch die Herbstlandschaft, während die Wolken über Mexiko durch meinen Kopf ziehen.
(Eine Minutengeschichte, die unter dem Titel Musik für wilde Kamele. Kleingeschichten aus dem größten Ruhrgebiet der Welt als Buch erscheinen wird.)
Die Emscher ist die arme Stiefschwester der drei Flüsse, die das Ruhrgebiet von Osten nach Westen durchqueren, um in den Rhein zu münden. Die Ruhr, ebenso wie die kleinere Lippe, bieten in ihren schönen, mäandernden Flussläufen überraschend friedlich-ländliche Landschaftsbilder. An der Lippe sah ich an zwei verschiedenen Stellen zu verschiedenen Jahreszeiten eine ländliche Szenerie, die von John Constable hätte gemalt sein können.
Die Ruhr besticht mit Stauseen, im Harkortsee wurde einmal ein Rasenmäherschiff eingesetzt, um einer Wasserpflanzenpest Herr zu werden, und auf der Sandcarver Olympiade am Kemnader See trifft sich das halbe Ruhrgebiet mit Kind und Hund. Die zwischen diesen beiden schönen Flüssen fließende Emscher ist die „Köttelbeke“, wie man sie hierorts nennt. Der Emscher-Park-Radweg, der von Osten nach Westen durch das Ruhrgebiet führt, ist hier ein befestigter Sandweg. Er verläuft von Bergkamen nach Duisburg und Fuß- und Radwanderer bewegen sich quer durch das Ruhrgebiet fast ausschließlich durch Grünzüge.
Auf meiner Strecke nach Norden fließt das Wasser im Kanal rechts, links ist der Weg von hohem Buschwerk gesäumt. Die Emscher ist ein außerordentlich schnell fließendes Gewässer. Lange Strecken schießt das Abwasser zwischen steilen Betonwänden dahin; die rot umrandeten Warnschilder zeigen einen schreienden Menschen, der von der Strömung mitgerissen wird. Eins der bekanntesten Opfer dieses tückischen Schmutzflusses war der Journalist Michael Holzach („Deutschland umsonst“, Aussteigerbericht), der in die Emscher sprang, um seinen Hund Feldmann zu retten, und dabei selbst ums Leben kam.
Lange bevor die Emscher vor Castrop-Rauxel in einer großen Kurve nach Westen abbiegt, verlasse ich den Radweg, fahre rechts über die Brücke – eigenartig, hier stinkt sie nicht mehr, oder ich habe mich schon an den Geruch gewöhnt – und komme auf das Gut Königsmühle zu, ein ehemals verfallener alter, großer Bauernhof, der nun schon fast gänzlich zu einem sozialpädagogischen Zentrum für geistig und körperlich behinderte Jugendliche ausgebaut ist. Wenn es fertig ist, werden einige dort wohnen, erzählte mir ein Junge, der mit einer Gruppe auf einem Feld arbeitet. Er auch, und er ist stolz darauf. Er muss dringend aus seiner Familie raus, betont er. An Wochenenden ist das Café geöffnet, in dem man selbstgebackenen Kuchen, Hausmacher Frikadellen und Kaffee und Limo bekommt. Das Gut hat eine eigene Gärtnerei und bewirtschaftet ein Gemüsefeld, auf dem Kartoffeln, Porree und Kohlrabi angebaut werden. Jeden Herbst im September wird ein Hoffest gefeiert.
Ich war dort vor zwei Jahren. Es war ein ruhiger warmer Nachmittag, es gab Würstchen, Bier und Kuchen und eine Dixielandband spielte den Wabash Blues, zu dem zwei Downsyndromer, ein Junge und ein Mädchen, einen fröhlichen Tanz hinlegten.
Der Fahrradweg führt direkt am Gut vorbei auf die Rückseite der Ellinghauser Halde zu, auf der drei große Windräder stehen. Die Umgebung ist ländlich, Kornfelder, Gemüsefelder, zur rechten die Halde. Dann kommt ein kleines Wäldchen, das zum Naturschutzgebiet Siesack gehört. Vor dem Wald an einem Gebüschrand haben sich Habalien angesiedelt, eine Sonnenblumenart mit kleinerer Blüte und ohne Kerne, ein großes Feld. Im Herbst schneide ich immer ein paar Stiele und nehme sie mit nach Haus. Doch noch ist Frühling und die später übermannshohen Pflanzen sind kaum zu erkennen.
Die folgende gründunkle Strecke ist rumpelig. Das Auge will die verschattete Wildnis durchdringen und achtet nicht auf Schlaglöcher. Ein naturbelassener Mischwald ohne menschliche Eingriffe, wo sieht man das noch? Hier riecht es anders als auf freiem Feld. Die Luft ist gesättigt von Pilz- und Moderdüften und das Auge erfreut sich an bizarren, knorrigen Baumgestalten. Am Ende stößt der Weg auf eine Weide, von Birken bewachsen, auf der im Sommer Hochlandrinder grasen. Ich fahre links weiter und komme an dem kleinen Feuchtbiotop vorbei, ein Teich mit Seerosen und Wasserlilien am Rand, schon oft sah ich dort einen Graureiher unbewegt im Wasser stehen. Noch eine kleine Straße ist zu überqueren, dann habe ich die Perle des Naturschutzgebiets Siesack erreicht, ein weiteres kleines großartiges Feuchtgebiet mit Rohrkolben, Binsen und Wasserlinsen vor einer Weiden- und Erlenkulisse. Noch ist es still, doch in ein paar Wochen werden hier hunderte von Fröschen quaken.
Dies ist das Ziel und der Wendepunkt meiner Spazierfahrt. Ich setze mich auf einen Steinbrocken, esse das mitgebrachte Käsebrot, trinke das erstklassige Dortmunder Leitungswasser, das ich in einer Plastikflasche mitführe, und lausche den mich umgebenden Naturgeräuschen, indem ich das konstante Dröhnen von der A 2 ausblende.
Nun kann ich mich zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden: Entweder ich fahre die Asphaltstraße noch ein kurzes Stück weiter nach Norden an dem leeren, zum Verkauf stehenden Haus vorbei und biege unter der Autobahnbrücke, A 2 von Oberhausen nach Hannover, immer laut, auf den Radweg am Kanal, oder ich fahre quer durch über den kurzen Holperpfad zwischen Wiese und Feld, und trage das Fahrrad die kleine Treppe hoch, die auf den Kanalwall führt.
Es ist Frühling, ein sonniger Apriltag, und die Pestwurz blüht am Schwieringhauser Bach. Dort will ich hin und nehme das Fahrradtragen dafür in Kauf. Leider komme ich etwas zu spät, das Bachufer ist schon grün. Vor ein paar Jahren, als ich hier vorbeifuhr, erlebte ich einen psychedelischen Schock, ein Hochgefühl des Entzückens. Der Winter kaum vergangen, die Erde noch schwarz, sah ich auf einmal einen leuchtend pinkfarbenen Teppich am Ufer des Schwieringhauser Bachs. Eine blühende Pestwurzkolonie, eine helle, zarte Wolke wie aus einem belgischen Märchencomic. – Doch auch jetzt, vor dem sprießenden Grün ist der Effekt beträchtlich: Ein langer Grabenrand bewachsen von einer Pflanzenkolonie, die glühbirnengroße pinkfarbene und violett gewordene Kolben zum Himmel streckt.
Dann bin ich am Kanal. Der Dortmund-Ems-Kanal verbindet Dortmund über die Ems mit der Nordsee und mit dem Kanalnetz, das durchs Ruhrgebiet und in den Rhein führt. Am dreiundzwanzig Kilometer entfernten Schiffshebewerk Henrichenburg mussten die Wasserstände des Dortmund-Ems-Kanals mit dem Wasserstand des Dortmunder Hafens ausgeglichen werden, eine Kanalstufe von vierzehn Metern galt es zu überbrücken. Heute gibt es eine Schleuse und das alte Schiffshebewerk, so wie auch das neunzehnhundertundzweiundsechzig erbaute neue, werden nur noch zu Demonstrationszwecken in Gang gesetzt. Ein Förderverein schmiert die Schrauben.
Der „Kanal Grande“, wie er von Liebhabern genannt wird – sein Wasser ist grün und klar wie das Wasser der Adria vor Herceg-Novi – hat einen hohen Freizeitwert. Im Sommer steigen die Rauchsäulen der Griller gerade zum Himmel, Decken werden am Ufer ausgebreitet, Sonnenhungrige liegen so entblößt wie möglich am Wasser oder springen schreiend hinein, wenn es zu heiß wird, und bis vor einigen Jahren gab es noch tollkühne Brückenspringer, die furchtlos von der Fünf-Meter-Brücke in den Kanal jumpten oder aufs Dach der „Santa Monica“, um sich von dort abzustoßen und in die Fluten zu tauchen. Was den Kapitän derart verstimmte, dass er Stacheldraht aufs Dach nageln ließ. Weil, das verärgerte seine Kundschaft, und wenn da einer ausrutschte und auf einen Biertisch fiel, nicht auszudenken!
Wer mal eine Runde Spundwände kucken will, fährt mit dem Musikdampfer vom Dortmunder Stadthafen nach Henrichenburg und zurück. Es sind genug Biere und Bockwürste für alle an Bord.
Ich ziehe die ruhigen Wochentage am Kanal vor. Die Tarnzelte der Angler kann man fast das ganze Jahr über am Uferrand entdecken. Und jetzt im Frühling, nach dem Anpaddeln, sieht man auch wieder Ruderboote, Einer, Zweier und Achter, daneben tuckert der Trainer auf einem Minimotorkatamaran und brüllt durch die Flüstertüte. Hier werden künftige Medaillengewinner fit gemacht. 2007 trainierte die Olympiamannschaft für Peking auf dem Kanal Grande.
Vor einigen Jahren entdeckte ich ein Kormoranpärchen auf der Höhe der Ellinghauser Halde. Ich freute mich, die Vögel zu sehen, denn sie erinnerten mich an ihre zahlreichen Verwandten, deren Bekanntschaft ich in Varna machte, viele, viele Vögel, sie saßen auf Pfählen zwischen den Netzen über dem Wasser der Bucht. Leider blieben die beiden Kormorane nur ein Jahr am Dortmund-Ems-Kanal, dann zogen sie weiter.
Aurora bei Vollmond
Wir ließen den Mond hinter uns und gingen am Kanal entlang. Es war still um diese Stunde. Wir waren die einzigen Spaziergänger. Aus Erde und Wasser stieg eine erste herbstliche Kühle, die Luft war frisch und feucht und roch bitter nach faulendem Laub. Der Dieselmotor eines sich nähernden Binnenschiffs ließ den Abend vibrieren. Das ist die Aurora, sagte ich. Sie kommt aus dem Jahr neunzehnhundertundsiebzehn, Heimathafen Petersburg. Ja, ja, sagtest du und lachtest. Das Schiff kam näher. Wir lasen den Namen im Mondlicht. Es war die Aurora aus Rotterdam.
(Eine zweite Minutengeschichte.)
Der tote Brückenkopf, von dem aus man schräg hoch auf die Ellinghauser Halde gelangte, war immer ein Anziehungspunkt. An seinen Rändern hatte sich der zauberhaft blau blühende Natternkopf angesiedelt. Dort ließ es sich gut rasten, mit einem Blick über den Kanal auf den gegenüberliegenden Brückenkopf, auf dem gelegentlich Punker mit offenen Kannen saßen und ein „Kawumm“ herumgehen ließen. Und weiter über das Land schweifte der Blick bis zur großen Koppel in Schwieringhausen, auf der im Sommer zwanzig bis dreißig Reitpferde grasen. Auf der Mauer gegenüber, gerade von einer neuen Sprayergeneration entdeckt, prangt ein frisches Bild von ZAC.
Die Ellinghauser Halde war einmal eine von kniehoch wachsenden Wildpflanzen überwucherte Mesa unter hohem weitem Himmel. Auf dieser Halde habe ich vor zehn Jahren noch Schussfahrten gemacht, manchmal mit bedrohlich rutschendem Reifen im Rollsplitt. Als ich einem Freund stolz von meinen Fahrrad-Freuden erzählte, schalt er mich. – Ob ich noch alle auf der Latte hätte. Ohne Helm! Und überhaupt, in deinem Alter! – Schweren Herzens gab ich die Schussfahrten auf und verlegte mich auf die Erkundung der geheimen, magischen Orte der Halde. Es gab da zum Beispiel eine abgeschlossene Hütte auf immer platter werdenden Rädern, ein roher Brettertisch davor mit einer Bank. Das ganze Ensemble war hinter einem Holunderknick verborgen und auf dem freien Platz vor dem Holzkarren lagen armdicke Knüppel, von großen Zähnen kräftig zerbissen. Ich bin froh, diesem Hund nie begegnet zu sein. Über dem Platz lag eine ungute Aura, hier wurde ein Tier missbraucht, um die Aggressionen seines Halters abzuarbeiten. Es roch nach Bitterkeit und Verzweiflung.
Schon ein paar Schritte weiter war ich in einer anderen Welt. Ein Imker hatte zwei Bienenstöcke auf einer kleinen Lichtung geparkt, um seinen Völkern die Möglichkeit zu geben, sich an dem leckeren Wildkräuterblütennektar zu laben. Der Laden summte. Ich schob mein Fahrrad durch eine Wiese voller gelber Kleeblüten, stellte es ab und trat an den Rand der Schlucht. Ein tiefer breiter Graben zog sich durch die Halde, so tief und breit, dass auf den Böschungen große Bäume wuchsen und eine riesige Pappel von einem der zunehmenden Herbststürme, die nicht mehr nur im Herbst kommen sondern schon im Frühjahr, umgepustet worden war und nun, zerbrochen und zersplittert, quer im Grand Canyon lag. Zerschlagener Baumriese, ein mächtiges Bild, zu dem ich immer wieder zurückkehrte.
An der Haldenböschung neben dem Radweg hatte sich eine große Bärenklau-Kolonie angesiedelt, ein mindestens zweihundertfünfzig Quadratmeter großer Herkulesstaudenwald, der im Sommer laut raschelte, wenn der Wind durch die trockenen, harten Blätter fuhr und sie gegeneinander rieb. Mir gefielen diese riesigen Migrantenpflanzen. Ich wusste, sie hatten nicht im Hosenaufschlag eines Dortmunder Matrosen auf die Halde gefunden, sie waren vom Kaukasus beharrlich und von Generation zu Generation ein Stückchen weiter nach Westen gewandert und schließlich hatte sich ein ganzer Clan hier am Haldenrand niedergelassen, die Blütenstände groß wie die Räder einer Hochzeitskutsche. Und direkt daneben, etwas weiter nach Dortmund hin, eine etwa gleich große, dichte Kolonie von Sachalin-Staudenknöterich, an deren Rändern wieder Bärenklaustauden ihr Haupt erhoben.
Dies alles ist nicht mehr. Nachdem die Eisenbahntrasse zur Ikea-Halle gebaut war, begann die Haldenbereinigung. Zuerst wurden hohe Zäune gezogen. Betreten verboten! Dabei kamen Bärenklau und Knöterich unter die Räder. Inzwischen ist die Halde schon wieder mit harmloseren Sträuchern und Bäumen bepflanzt. Doch mir fehlt etwas. Ich trauere der alten Ellinghauser Halde nach, obwohl ich weiß, dass die Stadt Dortmund die Steuereinkünfte von Ikea bitter nötig hat. Leider muss ich kurz vor der Ellinghauser Straße mit dem Rad unterm Arm die Böschung hoch kraxeln, um nicht zurückfahren zu müssen. Seit einigen Monaten ist der Kanalweg hier gesperrt, weil die Stahlfachwerkbrücke durch eine Bogenbrücke ausgetauscht wird. – Einmal möchte ich dabei sein, wenn eine Brücke von Brückenkopf zu Brückenkopf über das Wasser geschoben wird.
Zwei Sehenswürdigkeiten gibt es noch auf dem Rückweg zum Fredenbaumpark. Sie liegen etwa auf gleicher Höhe rechts und links vom Radweg. Da ist zur rechten das große Freibad von Deusen mit seiner Riesenplastikrutsche und dem großen Schwimmerbecken. Es ist köstlich, an Sommermorgen hier einige Runden zu schwimmen und dann sein Tagewerk zu beginnen. Auf der anderen Seite liegen der Hardenberghafen und der Industriehafen, zwei große Hafenbecken mit einer Halbinsel dazwischen, als Landmarke im Hintergrund ein Malakoffturm. Kräne recken sich in den Himmel. – Sowie meine erste Rente eingegangen ist, werde ich mir einen aufblasbaren Kajak kaufen, um diese Gewässer zu erkunden und im Schatten einer Spundwand dümpelnd im „Blütenstaub“ von Novalis zu lesen.
Hätte ich meinen Weg markiert und wir könnten ihn nun aus der Luft sehen oder auf der Karte den Grünzug F des Emscher-Wanderwegs betrachten, würden wir erkennen, hier schließt sich der Kreis, ich komme auf den Weg zurück, auf dem ich die Strecke begann, muss nur über die Brücke. Auf der Promenade vor den Vereinshäusern sitzen zwei Frauen auf einer Bank und halten ihre Gesichter in die Sonne, während sie reden. Ich werfe einen letzten Blick auf die Lichtreflexe auf dem Wasser und tauche in das Dämmergrün des Fredenbaumparks ab, das selbst jetzt, da die Bäume noch kahl sind, ein Dämmergrün ist.
Der Fredenbaumpark war in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ein „Luna-Park“, ein Vergnügungspark mit bunten Lichtern und vielen Buden, einem Kasino, Gebirgsbahn, Wasserrutschen und einem Hippodrom. Neunzehnhundertundvierzig, als niemandem mehr zum Feiern zu Mute war, wurde der Lunapark abgerissen.
Heute ist es stiller im Fredenbaumpark, nur am Lichterfest im September erinnert er noch an die alte Zeit. Dann wird er mit Girlanden bunter Glühbirnen geschmückt, Bier- und Brutzelbuden ziehen Menschen an und von der Konzertmuschel ertönen die Klänge von Bergmannskapellen und die Gesänge von Alleinunterhaltern. Doch auch an normalen Tagen ist der große Waldpark mit den zwei künstlichen Teichen eine Attraktion für das Publikum. Der größere Teich lädt zum Boot fahren ein, auf dem anderen können Modellbauer ihre Schlachtschiffe kreisen lassen. Die reifere Jugend findet einen Ruheplatz im Rosengarten und für die Kinder gibt es den Abenteuerspielplatz mit dem Big Tipi, einem fünfunddreißig Meter hohen Indianerzelt, das die Stadt Dortmund auf der Expo 2000 erwarb.
Ein besonders schöner Ausflugsort ist das Gartenlokal „Schmiedingslust“, in dem man im Sommer im Schatten hoher Platanen ein kühles Pilsken trinken kann. Ein Prosecco für die Frau und ein Eis für die Kinder. Ich sehe die Wirtin hin und wieder im Supermarkt. Doch zur Zeit ist das Café-Restaurant wahrscheinlich nur am Wochenende geöffnet. – Eine der schönsten Ansichten des Jahres bietet der Fredenbaumpark für mich im April.
Oh, die Buschwindröschen!
Oh, die Buschwindröschen blühen! Oh, wie schnell sind sie verblüht. Er hatte eigentlich keine Lust, raus zu gehen, dachte aber dann, nächste Woche ist zu spät, und zog die Schuhe an. Im Blücherpark schaukelte ein türkischer Opa seine Enkeltochter. In der Kleingartenanlage Hafenwiese saßen vier achtzigjährige Frauen auf der Bank: Ihr seid mich fremd geworden, sachte ich zu meine Enkels, sagte die eine und die anderen nickten. Und dann im Fredenbaumpark: Diese weißen Polster, diese Pulks, diese runden Pflanzengemeinschaften, Gruppen, die sich annähern, bis sie hinten einen weißüberblühten Parkboden zeigen. Oh, diese süßen weißen Blütchen! Oh, Andy Warhol, warum hast du keine Siebdrucke mit Buschwindröschen gemacht!
(Eine dritte Minutengeschichte.)
Ich durchquere den Fredenbaumpark, fahre am Minigolfplatz und an „Schmiedingslust“ vorbei und komme auf dem neuen Rad- und Hundeweg heraus, der am alten Güterbahnhof vorbeiführt. Manchmal sieht man hier schwere Dieselloks mit der Aufschrift „Railion“ lange Wagenreihen rangieren. Hinter den Gleisanlagen flattern die Fahnen der Kleingärtner im Wind. „KGV Westerholz“ und „KGV Hafenwiese“. Seit einiger Zeit sind es nicht mehr nur deutsche, sondern auch türkische, griechische, portugiesische, ukrainische, polnische und mazedonische Fahnen, deren Plastikseile im Wind gegen die Stangen schlagen, es klingt wie im Yachthafen von St. Tropez.
Und damit erreiche ich die letzte und für mich wichtigste Station dieser Spazierfahrt, die „Kleingartenanlage Hafenwiese“. In einem stillen Winkel, weit ab vom Hauptweg, liegt der Garten, den ich letzten Oktober gepachtet habe. Der Vorbesitzer war im Frühjahr des vergangenen Jahres gestorben, und als ich im Herbst übernahm, stand das Unkraut, besonders die Goldrute, mannshoch. Der Spätherbst hatte mit Niesel und kalten Winden schon eingesetzt, so musste ich jeden trockenen Tag nutzen, um den Garten abzuräumen. Es gelang mir, noch vor Einbruch der langen Schneeperiode Grund rein zu bringen. Natürlich pflanzte ich schon ein paar Beerenobststräucher, eine Quitte und zwei Apfelbäumchen sowie zwei Bambusstauden, die ich geschenkt bekommen hatte. Aber insgesamt wollte ich mir erst einmal ein Bild von meinem Garten und seiner Eigenart verschaffen, bevor ich anfing, ihn umzugestalten.
Auch an dem Gartenhäuschen gab es allerhand Arbeit, streichen, Zinkverblende annageln, altdeutsche Sitzbankpolster neu beziehen, etc. ... Doch das musste warten. Erst wollte ich den Garten klar haben.
Gestern saß ich zum ersten Mal in der Sonne vor dem Haus und trank mein erstes zweites Bier. Ich bin froh, diesen Ort gefunden zu haben. In meiner Thuja tschilpt ein Schwarm Spatzen, mein Lieblingsvogel. Ich erlebe großes Wolkenkino über den drei Laufkatzen des Schmiedinghafens. Eine riesige Haufenwolke, von der Dimension eines Klingonen-Schlachtschiffs steht vor der Sonne. Sie hat ein Loch im hinteren Bereich, durch das ein Bündel Sonnenstrahlen fällt, und schräg über mir am breiten Rand sehe ich die berühmten Caspar-David-Friedrich-Streifen in echt. Am Wochenende feiere ich eine Garden-Warming-Party. Ich muss noch eine Liste machen: Gläser, Stühle, Fladenbrot ...
Ich kann meinen Fahrtenbericht vom Ostrand des Ruhrgebiets nicht beenden, ohne das dunkle Geheimnis zu lüften, das über der „Hafenwiese“ liegt. Ich darf keinen Grünkohl anbauen. Auch vor dem Verzehr von Blattsalaten wird gewarnt. Die Gefahr kam aus der Luft. Irgendein Irrer verklappte im Hafengebiet PCB-Staub in die Atmosphäre. Das ging gut zwei Jahre so. Und die zuständigen Behörden konnten und konnten den Verursacher nicht ausmachen. Im Juni dieses Jahres wurde das Entsorgungsunternehmen ENVIO nach dem anonymen Hinweis eines Mitarbeiters als Quelle der Umweltverschmutzung enttarnt und stillgelegt. Doch damit ist der Fall nicht erledigt. Es sind noch viele Fragen offen. – Wir bleiben dran.