Die Entstehung der Rubrik sowie die Berliner Literatouren wurden 2008 ermöglicht durch die Berliner Landesinitiative »Projekt Zukunft« kofinanziert durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE).

Kristof Magnusson

Berlin allein.

Tobias Bohm
ca. 9 Std. ca. 48 km Berlin ohne Begleitung

Frühstücken und mittagessen, spazieren, sich auf Friedhöfen und in Kirchen besinnen, von Brücken auf Bahngleise schauen, Kunst konsumieren und sich betrinken - all dies kann man, wie Kristof Magnusson wunderbar beschreibt, auch ganz allein.

Als Hör-Tour

Gelesen von Harry Kühn
Laufzeit: ca. 20:10 min

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Kristof Magnusson

»Berlin allein.«

Fotos: Tobias Bohm



Diese Tour ist für alle, die Berlin ohne Begleitung kennen lernen möchten. Sie führt an Orte, an denen man sich getrost allein aufhalten kann, ohne dass die anderen Leute denken, man sei einsam. Benötigt wird: Kleingeld für den Klingelbeutel, eine Hosentasche, in die ein Bierdeckel unzerknickt hineinpasst und zwei trockene Brötchen für die Möwen.


Burger King

Straße des 17. Juni 100
10557 Berlin

Öffnungszeiten:
Mo-Do & So: 09-01 Uhr
Fr & Sa: 09-03 Uhr

Webseite

Frühstück bei Burger King im Berlin-Pavillon

Oft ist das Böse gut, und das Gute ist böse. Gerade eine Tour durch Berlin kommt nicht ohne ein Beispiel dafür aus, wie die Grundfesten des Universums ins Wanken geraten können, insbesondere dann nicht, wenn sich dieses Beispiel mit einem kleinen Snack verbinden lässt. Der Burger King an der S-Bahn Tiergarten ist nämlich einerseits ein Fast-Food-Restaurant mit allen unangenehmen Begleiterscheinungen: Das Piepsen der automatischen Friteuse nervt, auf Flachbildschirmen flackern die nackten Ärsche der hauseigenen Musikvideozusammenstellung, und das Essen ist eher „fast“ als „food“. Andererseits ist das Gebäude, in dem sich der Burger King befindet, der wunderschöne Berlin-Pavillon von 1957. Irgendwie war er bald nach seiner glorreichen Eröffnung zur Bauausstellung im Hansaviertel in eine Art Dornröschenschlaf gesunken und ist nun erst dank Fast Food wieder in seiner Gänze öffentlich zugänglich – und dem Abrisswahn des Berliner Senats entkommen.

Durch raumhohe Glasscheiben sieht man direkt auf die Straße des 17. Juni und auf den Tiergarten dahinter. Ein merkwürdiger Ort, trashig und gleichzeitig edel, nostalgisch und dabei futuristisch. Gäbe es keinen Drive-In, die ganze Veranstaltung wäre sicher eine ökonomische Nullnummer, denn Laufkundschaft gibt es hier – angenehmerweise – nur wenig. Studenten von der Technischen Universität, ein paar Tiergartenspaziergänger, das normale Treiben eines Fast-Food-Restaurants mischt sich mit der verwunschenen Unwirklichkeit eines vergessenen Architekturklassikers: Immerhin befindet man sich an einem historischen Ort, war doch die Bauausstellung von 1957 Teil des legendären Gestaltungswettkampfes zwischen BRD und DDR,  Hansaviertel vs. Stalinallee.

„Sakrileg!“, höre ich dort hinten jemanden schreien, „Niemals nie darf solch ein Denkmal durch eine Burgerbratkette entweiht werden!“. Schon klar, das klingt politisch korrekter, doch von mir aus hätte auch McDonald´s den Palast der Republik kaufen dürfen, wenn sie damit den Abriss verhindert hätten.

Es gibt nichts Besseres, um der schleichenden Freiburgisierung Kreuzbergs und der Diktatur der Öko-Schwaben im Prenzlauer Berg  zu entfliehen, als sich mit einem fettig-heißen Brownie in den Berlin-Pavillon zu setzen und die betongewordene Zukunftsgläubigkeit unserer Vorfahren zu bewundern.

Urbanhafen

Planufer Berlin-Kreuzberg
Binnenhafen des Landwehrkanals ohne Hafenfunktion

Urbankrankenhaus (Vivantes Klinikum Am Urban)

Der Urbanhafen

Für einen morgendlichen Spaziergang empfiehlt es sich, einmal um den Urbanhafen herumzugehen. Diese Kuriosität der Berliner Stadtentwicklung ist nicht nur ein beliebtes Ausflugsziel eines jeden Kreuzbergers, es ist auch der Erholungsgarten des Urbankrankenhauses. Sehr berlinerisch ist an ihm, dass er am Tag seiner Eröffnung bereits nicht mehr zeitgemäß war und umgehend der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit mit baldiger Zuschüttung anheim fiel. Übrig blieben ein einziges Becken und drei Schiffe. Wenn man hier im sommerlichen Morgengrauen mit einem Pappbecher voll Filterkaffee am Ufer des Landwehrkanals entlang spaziert, begegnen einem schon die ersten bettflüchtigen Krankenhauspatienten, und bei den punkig gestylten Gestalten, die im Gras der Uferanlagen liegen, weiß man nicht genau, ob sie gleich nach Hause schlafen gehen oder Jonglierbälle, Diabolos und ähnlichen Gauklerschrott hervorholen. Man geht direkt vorbei an dem grandiosen Betongewitter des Urbankrankenhauses, und wer es wagt, hineinzugehen, wird mit dem Anblick der garstigen Cafeteria belohnt. Das dreieckige Etwas, das Architekten gerne euphorisch als Atrium bezeichnen, ist ein Hort wundervoll missratener Kantineneinrichtung. Man könnte meinen, dass das Urbankrankenhaus der Stilrichtung Brutalismus ihren Namen gegeben hätte, so unvermittelt keilt es sich zwischen das Grün am Landwehrkanal und dessen umliegende Straßenzüge. In voller spätmodernistischer Pracht erscheint das Gebäude erst von der Nordseite des Urbanhafens. Die Prinzenstraße führt hier herüber, das Ufer ist mit einer Mauer befestigt und das Flaniergefühl gleich ein ganz anderes. Hier sollte man ein wenig verweilen und ein paar Möwen füttern, was dank der Ufermauer auf dieser Seite des Urbanhafens ganz gut gelingen kann: Man ist vor den Angriffen der Schwäne sicher, die versuchen, zusätzlich zu den Brotkrümeln noch ein Stück vom Finger des Fütternden zu ergattern.

Hasenschänke

Im Volkspark Hasenheide (Neuköln)
Anfahrt: U7, U8, Bus 104

Hasenschänke

Eigentlich mag ich Parks nicht besonders. Entweder, man lebt auf dem Land, da gibt es Rasen oder man lebt in der Stadt, da gibt es dann eben keinen Rasen. Doch trotzdem liegt eins meiner Lieblingscafés in einem Park, die Hasenschänke in der Neuköllner Hasenheide. Streng genommen, ist die Hasenschänke gar kein Café, sondern ein kleines Ausflugslokal, man könnte auch sagen: Kiosk. Einer der schönsten Kioske, die ich kenne. Das expressiv geschwungene Betondach gibt mir immer das Gefühl, unter einem riesenhaften Nierentisch Platz genommen zu haben und überhaupt ist hier alles sparsame 50er Jahre Beton-Grandezza. Außer mich zieht die Hasenschänke an: Bärtige Hipster in Röhrenhosen, Informatikstudenten mit Verschwörungstheoretikerrucksäcken, Rentner und Arbeitslose, die biertrinkend die Jogger an sich vorbeiziehen lassen, und an den Wochenenden auch die eine oder andere Kreuzberger Akademikerkleinfamilie.

Am besten gekleidet ist allerdings meistens die freundliche Betreiberin der Hasenschänke, die ihren Gästen, gerne im Lodenkostüm, zu Würstchen und Kuchen, Kaffee und Bier auch ein Kissen für die Plastikstühle anbietet.

Hier sitze ich gerne und kucke in Richtung der aus Kriegstrümmern aufgeschütteten Rixdorfer Höhe oder über die Senke, auf dessen Rasen sich die Hunde, Trommler und Griller treffen; die Senke, die das Röhren der Flugzeugturbinen vom Flughafen Tempelhof bis in meine Kreuzberger Wohnung trägt.

Friedhöfe vor dem Halleschen Tor

Südstern 8-12
10961 Berlin

Besuchereingang:
Mehringdamm 21
10961 Berlin

Öffnungszeiten:
Januar+Dezember: täglich 8.00-16.00 Uhr
Februar+November: täglich 8.00-17.00 Uhr
März+Oktober: täglich 8.00-18.00 Uhr
April+September: täglich 8.00-19.00 Uhr
Mai-August: täglich 8.00-20.00 Uhr

Webseite

Das Grab von Felix Mendelssohn Bartholdy auf den Friedhöfen vor dem Halleschen Tor

Auf dem Sarkophag des königlich preußischen „Würklichen Leibarztes“ Moehser ruht eine Frau in halb sitzender, halb liegender Pose, wie auf einer Chaise Longue. Sie ist in eine römisch anmutende Stola gehüllt und wirkt noch sehr jung, soweit man das heute noch sagen kann, denn ihr Kopf fehlt. Die Friedhöfe vor dem Halleschen Tor zwischen Baruther, Zossener und Blücherstraße, sind voll von solchen morbiden Merkwürdigkeiten. Viele bekannte preußische Familien, Apotheker, Hofmaler, Geheimräte haben hier ihr „Erbbegräbnis“: Mausoleen und offene oberirdische Grabstätten, die selbst in ihrem recht fortgeschrittenen Verfallsstadium noch imposant wirken. Auch Chamisso, Iffland oder E.T.A. Hoffmann liegen hier, doch mich zieht es meist zu der schmiedeeisern umzäunten Grabstätte der Familie Mendelssohn, die in der Mitte des Friedhofs ganz normal in der Erde ruht. Es ist der massige Grabstein aus rotem Granit von Felix´ Schwester Fanny Hensel, der zuerst ins Auge fällt. Daneben ein schlichtes weißes Kreuz mit der Aufschrift „Jakob Ludwig Felix Mendelssohn Bartholdy“, darunter liegen Blumen, am Fuße des Grabes stehen Grablichter, manchmal ein weißes, manchmal ein rotes, meistens mehrere, und fast immer brennt eines davon. Ich stehe oft hier und denke an Mendelssohns Orgelsonaten, seine Vertonung des 100. Psalms, Jauchzet dem Herrn alle Welt, die Wiederaufführung der vergessenen Matthäuspassion 1829 hier in Berlin. Bringen Sie doch ein Grablicht mit!

Rogacki

Wilmersdorfer Str. 145/46
10585 Berlin

zwischen der Bismarck- und Zillestraße am U-Bahnhof Bismarckstraße
Tel.: 030  343 825-0
Öffnungszeiten:
Mo-Mi:  9 Uhr - 18 Uhr
Do:   9 Uhr - 19 Uhr  
Fr:  8 Uhr - 19 Uhr  
Sa:  8 Uhr - 16 Uhr

Webseite

Mittagessen bei Rogacki

München ist bekanntlich die „Weltstadt mit Herz“, die Berliner hingegen sind für ihre „Schnauze mit Herz“ berühmt. Wenn man nun das auf beiden Seiten der Gleichung vorhandene „Herz“ herauskürzt, erhält man München=Weltstadt; Berlin=Schnauze. Nun habe ich es mit Schnauze eigentlich gar nicht, ich habe schon immer alles gemieden, was nach Berliner (oder noch schlimmer Altberliner) Lokalkolorit klingt.

Der einzige Ort, an den ich immer wieder gern zurückkehre, obwohl er geradezu ein Sinnbild für das berlinernde Berlin ist, heißt Rogacki. Hier lasse ich mich sogar mit „Junger Mann“ ansprechen. Nur hier. Sobald sich die Glastüren zu diesem Feinkostgeschäft hinter mir schließen, fühle ich mich, als hätte ich eine Zeitmaschine betreten. Ein Besuch bei Rogacki ist wie eine Reise in die kalorienvergessenen Jahrzehnte, als es an Schlachtertheken in ganz Westdeutschland noch hieß: „Darf´s ein Bisschen mehr sein?“.

Bei Rogacki darf es das bis heute. An den Fleisch- und Fischtheken stehen Hobbyköche und Feinkostliebhaber Schlange in Erwartung eines Rehrückens oder einer (eben noch) lebendigen Forelle, in dem riesenhaften Raum erheben sich aus dem Treiben die Krautsalatstation, das Käseepizentrum und Imbiss-Inseln, an denen Krabbentoasts und Geflügelpasteten verabreicht werden. Der Stylo-Minimalismus wird hier nicht reingelassen, stattdessen gibt es das Hackepeterschwein, die Bouletten-Pyramide, die Salatmischung „Cabaret“. Hier ist Geiz nicht geil und bei den Äpfeln kommt es auch nicht in erster Linie darauf an, dass sie von einer Ökobäuerin vom Baum gestreichelt wurden. Es ist ein Ausflug in ein Kochbuch der Siebzigerjahre, das auf dem Umschlag damit wirbt, dass alle Abbildungen in Farbe seien, damit die Mandarinenschnitze und Maraschinokirschen, die in kräftigem gelb und pink gehaltenen Heringssalate, zur Geltung kommen. Bei meinem letzten Besuch kam mir der Gedanke, dass vielleicht hier der Aufstieg des Igels zum Wappentier westdeutscher Buffet-Kultur begann: Neben dem Käse-Igel, gibt es hier den Butter-Igel und den Hummer-Krabben-Igel.

Modersohnbrücke


Berlin- Friedrichshain

Die Brücke führt im Zuge der Modersohnstraße (bis 1951 Hohenlohestraße) zwischen den S-Bahnhöfen Warschauer Straße und Ostkreuz über die Gleisanlagen der S- und Fernbahn.
reicht von der Straulauer Allee im Süden bis zur Simplonstraße im Norden, wobei sie die Revaler Straße kreuzt

Die Modersohnbrücke

Für die hartnäckigsten Kritiker bekannter romantischer Motive gibt es nur eine Möglichkeit, einen sehnsüchtigen Abend im roten Schein einer im Horizont versinkenden Sonne zu verbringen: mit einem Dosenbier auf der Modersohnbrücke im Friedrichshain. Betritt man den blechernen Bogen, der den obskuren Rudolfkiez mit dem Gebiet zwischen Warschauer Straße und Ostkreuz verbindet, so findet man sich in einer unverhofft bezaubernden Szenerie wieder: Der Horizont öffnet sich so weit wie beinahe nirgendwo in Berlin. Die Modersohnbrücke spannt sich über die große Ost-West-Schneise der Eisenbahn und ermöglicht so einen Blick auf ein halbverwildertes Bahnareal, das von hier bis zum Ostbahnhof reicht. Während sich der Sonnenuntergang auf den gemütlich schwappenden Wellen des Meeres spiegelt, also im glänzenden Metall der vielen Gleise, zeichnen sich entfernte Gebäude wie Inseln ab, und Berlin bekommt endlich die Küste, die es schon immer haben wollte. Melancholiker und Pärchen, Hipster und Hausbesetzer, hierher kommt die feingeistige Fraktion des Friedrichshains, wenn sie ein wenig Südseeromantik erleben will – ohne dabei zu sehr in die Nähe von Süden, See oder gar Romantik zu geraten. Züge rattern unter der Brücke hindurch, Jogger schwitzen sich in Richtung Spree, und wenn man sich auf einem Metallrohr der Bürgersteigbegrenzung niedergelassen hat, dröhnt das eine oder andere Auto einen halben Meter hinter einem auf Augehöhe vorbei. So viel Ungemütlichkeit muss sein.

Neue Nationalgalerie

Potsdamer Straße 50
10785 Berlin

Tel.: 030/266-3666
Öffnungszeiten:
Mo geschlossen
Di: 10:00 Uhr - 18:00 Uhr
Mi: 10:00 Uhr - 18:00 Uhr
Do: 10:00 Uhr - 22:00 Uhr
Fr: 10:00 Uhr - 18:00 Uhr
Sa: 11:00 Uhr - 18:00 Uhr
So: 11:00 Uhr - 18:00 Uhr

Verkehrsverbindungen:U-Bahn U2 (Potsdamer Platz)
S-Bahn S1, S2, S25 (Potsdamer Platz)

Webseite

Die neue Nationalgalerie, der große Innenraum, unter der Installation von Jenny Holzer

Aus der Dunkelheit der Nacht oder der Kassettendecke kommen orange leuchtende Zeichen angeflogen, kehren um, wandern vor und zurück. Sie stoppen, werden schneller, langsamer, verschwinden und verwandeln auf einmal den ganzen Himmel Berlins in ein außerirdisch strahlendes Lichtermeer. Es gibt kein Ende, keinen Anfang, nur ein sanftes Verblassen.

Die große Staatsbibliothek und der gesamte Potsdamer Platz werden von diesem Schauspiel durchschnitten, es ist Science Fiction, es ist eine Meditation über Grenzen und Unendlichkeit, aber vor allem ist es sehr bequem, wohltemperiert und umsonst. Die großen Lederpolster sind in ihrer Breite an den Hintern ihres mächtigen Schöpfers angepasst, Mies van der Rohe. Hier, im Tempel der modernen Kunst, in der Neuen Nationalgalerie befinden sich nicht nur viele bequeme Barcelona-Sessel, sondern auch das magischste aller Berliner Kunstwerke: Jenny Holzers Buchstabenautobahn. Man kann sie zwar von außen erahnen, aber man sollte sie von innen erleben. Dazu muss man nur zum richtigen Zeitpunkt das Obergeschoss der Nationalgalerie betreten, was im Regelfall ohne Eintrittskarte möglich ist. Unter dem schwarzen Stahlrost der Dachkonstruktion sind 13 der berühmten Holzerschen LED-Bänder montiert, die die Texte der Künstlerin nicht nur in der quadratischen Halle erstrahlen lassen, sondern durch Reflexionen an den vollverglasten Wänden bis in die Unendlichkeit hinaus spiegeln.

Nicht immer ist die Buchstabenautobahn angeschaltet, und nur bei Dunkelheit stellt sich der Unendlichkeitseffekt ein. Doch wer beim Vorbeigehen am Kulturforum oder bei einer Busfahrt mit dem M29 am Landwehrkanal zufällig entdeckt, wie sich unter der Decke der Nationalgalerie ein orangefarbener Schein in Bewegung setzt, sollte sich umgehend dorthin begeben. Auf einen  Sessel gefläzt, den Kopf in den Nacken gelegt und den Blick starr nach oben gerichtet, erscheint ganz Berlin als ein Ort voll von Jenny Holzers bizarren Lebensweisheiten. Hier ist man allein und gleichzeitig mit der ganzen Welt verbunden, geerdet und schwerelos, für eine Viertelstunde noch mal ganz philosophisch, bevor man sich dem weniger besinnlichen Abendprogramm widmet.

St. Marienkirche

Karl-Liebknecht-Str. 8
10187 Berlin

Evangelischen Kirchengemeinde St. Petri - St. Marien
Tel.: 0 30 / 2 42 44 67

Webseite

St. Marien am Alexanderplatz

Am Alexanderplatz erinnert wenig daran, dass man sich hier eigentlich im historischen Stadtkern von Berlin befindet. Wenn da nicht die Marienkirche wäre. Es hat schon etwas Dramatisches, diese Kirche, direkt am Fuße des Fernsehturms, beide wie um die Wette angestrahlt, umgeben von den Edelplatten Ostberlins mit ihren Leuchtreklamen. Das könnte ganz schön kitschig sein: Die arme kleine Kirche und die große böse Betonmoderne, doch ich mag es, wie sich die Teile dieses Großstadtensembles gegenseitig bereichern. Wer die Marienkirche betreten will, muss einige Treppenstufen hinabsteigen, um zu dem Hauptportal zu gelangen, hinter dem 700 Jahre Berliner Stadtgeschichte liegen, Gebäudeteile aus dem Mittelalter, die sämtliche Bombenangriffe und stadtplanerischen Ambitionen überdauert haben. Gleich am Eingang hinter Glas die verblassten Wandbilder mit der Darstellung des Totentanzes aus dem Spätmittelalter – die Textverse stellen angeblich die älteste Berliner Dichtung dar, lesbar ist davon allerdings nichts.

In den Altarraum mit der Kanzel von Andreas Schlüter zu gelangen, kann im Sommer ein ziemlich geräuschvolles Unterfangen werden: Die Heizungsgitter, die sich den Mittelgang entlangziehen, sitzen locker und begleiten jeden Schritt mit einem Rumpeln. Im Winter hingegen, rumpelt es in der Marienkirche kaum.

Wer zufällig sonntags gegen 18 Uhr hier sein sollte, dem seien die Gottesdienste von St. George´s empfohlen, der Berliner Filiale der Anglikanischen Kirche. Die Predigten von Pastor Christopher Jage-Bowler sind die besten in Berlin: Ohne jeden Anflug von Kulturpessimismus, unterhaltsam und klug, spricht aus ihnen sowohl eine Begeisterung für den Glauben, als auch für die Welt drumherum.

Möbel Olfe

Reichenberger Str. 177
10999 Berlin

U-Bahn Kottbusser Tor
Durchgang zum Kottbusser Tor
Eingang an der Dresdner Straße
Dienstags bis Sonntags ab 18 Uhr
Tel.: 030 23 27 46 90

Webseite

Möbel Olfe am Kottbusser Tor

Vorausgesetzt es handelt sich nicht um dessen Ruhetag Montag, ist Möbel Olfe das absolute Highlight des Berliner Nachtlebens. Es ist nämlich ein echter Instant-Klassiker. Seit ihrem ersten Tag hat die Olfe die entspannte Ursprünglichkeit einer Ausgeh-Institution, von der so viele glauben, sie lasse sich nur durch das richtige Interieur, die richtige Musik oder den richtigen Ort im richtigen Viertel erreichen. Dabei sieht man am Beispiel von Möbel Olfe, dass es in Wahrheit nur auf die Einstellung ankommt: Nämlich ehrlich zu sein, ohne zu sehr auf Coolness zu achten oder eine übertriebene Anti-Haltung an den Tag zu legen. Das überträgt sich zwangsläufig auf Atmosphäre und Publikum, die im Möbel Olfe so toll sind wie in keinem anderen Laden in Berlin.

In dem verglasten Erdgeschoss des Brückenhaus-Ungetüms am Kottbusser Tor sind auf charmante Weise ein dezent-schrottiges Mobiliar, eine hastig geheimwerkerte Infrastruktur  und originelle Kunstinstallationen kombiniert. Das Bezahlsystem funktioniert so, dass man am Ende der Nacht zur Theke wankt und dort seinen Bierdeckel vorlegt, den das geduldige Barpersonal den Abend über analog zum Getränkekonsum mit Abkürzungen und Strichen bekritzelt hat.

Am Donnerstag ist die Olfe nicht nur signifikant schwuler als sonst, es ist auch brechend voll. Dann ist zwar kein Quadratzentimeter Fußboden mehr frei, dafür sieht man aber in einer weltweit einmaligen Dichte Exemplare einer wenig bekannten Spezies Schwuler: Die jenseits aller Klischees, ohne spezielle Szenezuordnung; die angenehmen Typen, die man immer in Film, Fernsehen und Literatur vermisst. An den anderen Tagen ist die Mischung von Homos und Heteros sehr wechselhaft bis ausgeglichen, wenn man das hier überhaupt jemals so genau sagen kann.