Erst vor vier Jahren ist die Autorin nach Münster gezogen. Aber erst diese Wanderung durch das nordöstliche Münsterland hat ihr einen völlig neuen Blick auf ihre neue Heimat eröffnet, gezeigt, was sie neben dem strahlenden Münster noch in der Hinterhand hält. Kulturlandschaft und Wald verschwimmen.
Sabrina Janesch
»Tour durch das nordöstliche Münsterland«
Fotos: Tobias Bohm
Eine Tour ins nordöstliche Münsterland, das bedeutet: den Teutoburger Wald immer im Blick, das Münsterland im Rücken. Die Höhe und die Ebene, der Lehm und der Kalkstein. Der warme Atem der Rapsfelder und der kühle Hauch der Fichten. Es sind keine Welten, die hier aufeinanderprallen, aber doch zwei Gegensätze.
Und an deren Trennnaht will ich heute entlangwandern. Eine Gratwanderung von etwa 22 Kilometern. Von Tecklenburg über Lengerich und Lienen nach Bad Iburg. Ich bin gespannt.
Freizeitbus F2 / Münster-Tecklenburg-Brochterbeck
Fährt in der Saison (2014 war es vom 1. Mai bis zum 28. September) immer sonn- und feiertags, vom Bussteig B3 am Hbf in Münster.
WebseiteEs ist ein heißer Tag. Nein. Es ist ein kalter Tag. Das Wetter in Tecklenburg verweigert sich jeder konkreten Stellungnahme. Bei der Abfahrt in Münster machte der Mai noch vollmundig auf Hochsommer. Sonnenschein, bereits am frühen Morgen tiefblauer Himmel. Die Rentner, die mit mir zusammen in den Bus stiegen, schwitzten und reichten Erfrischungstücher mit Zitronenaroma. Vierzig Kilometer lang zog das grüne Münsterland am Fenster vorbei. Höfe, Kastanienbäume, Spargel, Schnittblumen allerorts, auch Cabrios, Radfahrer, ja, jede Menge Radfahrer, wie könnte es anders sein. Schließlich tauchte am Horizont der grüne Rücken des Teutoburger Waldes auf. Ein Oooh und ein Aaah drangen durch den Bus. Erwartungsvoll wurden Rucksäcke angepasst, Kartenmaterial sortiert, Wanderstöcke inspiziert. „Teuto, Teuto“, sang eine Dame vor sich hin, während sie ihre Stiefel enger schnürte. Der Bus schraubte sich an leerstehenden Gründerzeitvillen und dunklen Tannen vorbei in die Höhe.
„Nix Teuto“, antwortete eine andere, vielleicht die Reiseleiterin. „Tecklenburg mag ja vielleicht im Teutoburger Wald liegen, gehören tut es aber zum Münsterland.“
„Ah ja“, sagte die Dame daraufhin, was aber kaum jemand hörte, denn da hielt der Bus auch schon, und wir waren angekommen. Es ist ein heißer Tag. Nein. Es ist ein kalter Tag.
Bussteig B2, Hauptschule Tecklenburg
Torhaus Legge
Markt 11
49545 Tecklenburg
Burg Tecklenburg
Burgruine und Veranstaltungsstätte der Freilichtspiele Tecklenburg
WebseiteCafé Rabbel
Markt 6
49545 Tecklenburg
Telefon: (05482) 219
ganzjährig Montag bis Sonntag
9:00 Uhr bis 18:30 Uhr.
An Freilichtbühnenvorstellungen im Sommer auch bis 20:00 Uhr!
Tecklenburg
Tecklenburg gibt sich an der Haltestelle ganz bescheiden, ein Parkplatz, eine Tankstelle, ein Supermarkt. Nichts Besonderes. Die Sonne scheint noch immer, aber die Luft ist kühl. Während die Wanderer in den Rucksäcken nach Fleecepullovern wühlen, überquere ich den Parkplatz und folge einem unscheinbaren Pfad in Richtung Marktplatz. Hummeln und Bienen summen zwischen den Natursteinmauern und im Lavendel. Weinlaub fängt das Sonnenlicht hellgrün auf. Unten dann, warum es alle Welt nach Tecklenburg zieht: Fachwerk wie aus dem Bilderbuch. Es ist kitschig. Es ist altbacken.
Und ja, es ist wunderschön. Sehr sogar. Westfälisches Rothenburg?
Erstmals erwähnt wurde Tecklenburg im 13. Jahrhundert, die Grafen von Tecklenburg besaßen die Kirchenvogteirechte über Münster und Osnabrück und außerdem Herrschaftsrechte bis hinein nach Niedersachsen.
Um einen kleinen Brunnen scharen sich windschiefe Fachwerkhäuschen, die Pflasterung ist rund und glattgetreten, über allem thront das Blattwerk einer alten Linde. Spätestens jetzt stehe ich wie jeder, der nach Tecklenburg kommt vor einer schweren Entscheidung ausgesetzt: Erst hoch zur Burg oder erst ins Café Rabbel? Das Café Rabbel liegt direkt am Markt, hat schon Stühle in die Sonne gestellt, ein paar frühe Radfahrer schlürfen den ersten Latte Macchiato des Tages.
Für mich geht es erst hoch zur Burg, und der Weg hinauf ist zugleich ein Weg hinab in die Tiefen der Tecklenburger Geschichte. Im Mittelalter war die Burg von großer Bedeutung, da sie auf dem Handelsweg von Lübeck nach Köln lag, außerdem auf dem Jakobsweg und auf dem Weg nach Rom. Einmal durch die dicken Mauern des Torhauses Legge hindurch, geht der Blick über die Dächer Tecklenburgs in die Weite. Wald, Felder, Schornsteine, entfernte Musik dringt herauf. Die Burg selber: schweigt. Mauerreste, Fundamente, ein alter Brunnen, Durchlässe zwischen den Backsteinen. Im Sommer finden hier Freilichtspiele statt, angeblich die größten Deutschlands. Mir ist die Burg im Geheimen lieber. Ich drücke mich an dem Gemäuer um alte Baumwurzeln herum und stelle mir Wurmlöcher vor, die mich mit vergangenen Jahrhunderten verbinden. Zeit ist ein sonderbares Phänomen. Vergänglichkeit auch. Mein Zwiegespräch mit den Tecklenburger Grafen wird jäh beendet durch ein paar holländische Besucher, die sich auf der Wiese hinter mir niederlassen. Diskret entschwinde ich durch einen niedrigen Durchlass in der Außenwand und mache mich auf den Weg zurück zum Café Rabbel, wo man mich wie eine alte Bekannte begrüßt. Der Espresso wird geleert, die Karte ausgebreitet, gleich geht es weiter. Zweiundzwanzig Kilometer sind es bis nach Bad Iburg; bis nach Lengerich, der nächsten Etappe, sind es ungefähr sechs.
Königsteiche
Ca. 10 min vom Stadtzentrum
Wasserschloss Haus Marck
Gutsverwaltung Haus Marck
Haus Marck 1
49545 Tecklenburg
Telefon: 05482/ 925 773
WebseiteLengerich
WebseiteHolländischer Markt
Immer einmal im Jahr.
Termin 2015: 31.05.2015/ mit verkaufsoffenem Sonntag von 13.00 bis 18.00 Uhr
Evangelische Stadtkirche
1497 vollendet.
WebseiteRömer
Um 1250 erbauter Torbogen
Kneipe im Römer
Rathausplatz 4
49525 Lengerich
Tel.:0171-9374254
Täglich ab 17:00 Uhr, Küche ab 18:00 Uhr
Ich liebe das Dazwischen, den Transit, die Grauzone. Den Herbst und das Frühjahr mehr als den Sommer und den Winter. Meine Route: Nicht mehr ganz Münsterland, nicht ganz Teutoburger Wald. So viele Ingredienzen, Bewegung, Flirren.
Ich verlasse Tecklenburg. Über Bahnhofsstraße und Himmelreich geht es hinab zu den Königsteichen. Wenige hundert Meter vom Ortskern entfernt bin ich hier beinahe allein. Ein paar Angler sitzen schweigend unter den Weiden, eine Ente landet klatschend auf dem Wasser. Der Weg nach Lengerich führt eigentlich westwärts, aber wer einen Umweg von einem Kilometer in Kauf nimmt und die Teiche in östlicher Richtung passiert, kommt am Haus Marck vorbei, einem pittoresken Wasserschlösschen. Ich bleibe an der Gartenanlage stehen, lasse die Eigensinnigkeit des Herrenhauses auf mich wirken und mache mich schließlich wieder auf den Weg.
Buchenwälder begleiten mich auf den ersten Kilometern, lichte Gebilde, zu Füßen gelbe und violette Orchideen, dazu überbordender Vogelgesang.
Der Weg schlängelt sich unbemerkt den Hang hinauf, näher an den Wald heran, bis man schließlich rechts neben sich das Münsterland bemerkt, wie es sich ausbreitet, wie es einlädt. Eine freundliche Gegend, denkt man unwillkürlich, von Menschen, für Menschen. Vorbei geht es an efeuumrankten und malvenumstandenen Bauernhäusern, Fachwerk, auf das niemand achtet, Fachwerk, das noch immer Stall ist oder Scheune oder Speicher: der Reiz des Vernachlässigten. Einige Fahrradfahrer, wenige Jogger, keine Wanderer. Weiter oben, auf den Höhen, verläuft der Hermannsweg. Ich bleibe vorerst hier unten, dort, wo noch Münsterland ist, Kulturlandschaft.
Lengerich
Der Weg führt mich schließlich zu einer Straße, auf der es parallel zum Hang des Teutoburger Waldes bis nach Lengerich geht. Autos brausen am Ortsschild vorbei. Lengerich ist ein langgezogenes Städtchen, bis zur Stadtmitte läuft es sich noch eine Viertelstunde. Zeit genug, darüber nachzudenken, wie Menschen dazu neigen, einer Siedlung treu zu bleiben. Lieber dort zu leben, wo schon immer Menschen gelebt haben, seit Menschengedenken. Als vermittelte das Tradierte eine Art von Sicherheit, Stabilität. An der Stelle, wo heute Lengerich steht, wohnen seit etwa tausend Jahren Menschen, in unmittelbarer Nähe zu meiner Route wurden viertausend Jahre alte Megalithgräber gefunden – Zwiegespräche über die Zeiten hinweg.
Pünktlich zur Mittagszeit laufe ich in Lengerichs Altstadt ein, wo Ausflügler flanieren, Kinder umherwuseln und die Luft nach Fisch, Stroopwafeltjes und Poffertjes riecht. Es ist Holländermarkt. Ich widerstehe allen Versuchungen und will mir erst ein Bild von der Stadt machen.
Der erste Gang führt in die Evangelische Stadtkirche – eine spätgotische Überraschung aus dem 14. Jahrhundert. Auch sie war nicht die erste an ihrem Platze, Spuren älterer Kirchen lassen sich bis ins 9. Jahrhundert zurückverfolgen. Momente der Ruhe, der Kühle. Das Leben draußen rauscht am Kirchenschiff vorbei. Nach kurzer Einkehr geht es wieder hinaus, einen Steinwurf weiter zum Römer, einem sehenswerten Torhaus aus dem 13. Jahrhundert. Wie es zu seinem Namen kam und welchem Zweck es vormals diente, ist im Dunkel der Geschichte verloren gegangen. Heute befindet sich darin eine Kneipe, in der der späte Wanderer ab 17 Uhr einkehren kann.
Friedhof und Friedhofskapelle
der früheren Provinzial-Heilanstalt
Vom Rathausplatz ca. 10 min zu Fuß
WebseiteTeutoburger Wald
WebseiteAlex-Schotte-Hütte
Aussichtspunkt nach Norden, Rastplatz. Kleine Holzhütte, die bei Regen ein trockenes Plätzchen garantiert. Bei Sonnenschein kann man auch mit größeren Wandergruppen wunderbar in schöner Runde vor der Hütte auf langen Holzba&
Waldwirtschaft Malepartus
Café-Jausenstation-Biergarten (am Hermannsweg)
Malepartusweg 6
49536 Lienen
Tel.: 05483/8337
Öffz.: von 11:00 bis 23:00 Uhr, durchgehend warme Küche; am Donnerstag ist Ruhetag
Einen Espresso und ein belegtes Brötchen später geht es weiter. Der Friedhofsstraße folgend, geht es wieder in Richtung Teutoburger Hauptkamm. Ich beschließe spontan, in den Wald abzubiegen und dort weiterzulaufen. Autofahrer und Radfahrer könnten die Straße direkt nach Lienen nehmen – Münsterland par excellence -, für Fußgänger ist die Option allerdings weniger reizvoll, da man sich ständig in unmittelbarer Nähe zur Fahrbahn bewegt.
Am Ende des Kleebergs finde ich schließlich linker Hand die Friedhofskapelle der ehemaligen Provinzial-Heilanstalt, die erst vor wenigen Jahren aus dem Dornröschenschlaf geholt und restauriert wurde. Die Kapelle – schon ganz in den Wald geschmiegt – bildet zugleich eine Art Eingangstor zum Friedhof, eine Markierung des Transits, des Übergangs. Die Tür zur Kapelle steht auf, darin frische Blumen, brennende Kerzen. Ich trete kurz ein, inhaliere den Geruch des Steins, den Rauch der Kerzen. Beim Verlassen laufe ich der Wandergruppe aus dem Bus nach Tecklenburg in die Arme, großes Hallo zu allen Seiten, dann geht es auch schon weiter.
Der Weg führt am Rande des Waldes vorbei, die Ausblicke ins Münsterland sind beeindruckend. Perspektivwechsel: Wenn man zu Füßen des Teutoburger Waldes spaziert, hat man ihn immer im Blick, er ist allgegenwärtige, gutes Feng-Shui-versprechende Kulisse (Berge und Wasser, es kann ja nichts schaden). Ist man einmal im Wald selber, sieht man ihn buchstäblich vor lauter Bäumen nicht mehr. Dafür aber die grüne Umarmung. Abwechslung tut gut. Nach wenigen Kilometern dann: der Dyckerhoff-Steinbruch, Kalkstein wird hier gesprengt. Respektgebietende Warnschilder, die dem geneigten Betrachter nahe legen, nach zweimaligem Tönen des Horns Deckung zu suchen und sich flach auf den Boden zu werfen. Nichts dergleichen geschieht, trotzdem sehe ich von einer längeren Pause ab und wandere klopfenden Herzens weiter. Dem Wanderweg bis nach Lienen folgt man, indem man sich dem „H“ anempfiehlt: auf Bäumen, Pfählen oder Zäunen weist es dem Wanderer den Weg - „H“ wie Hermannsweg oder wie Halleluja, wenn man sich mal verfranzt hat und nach ein paar Umwegen wieder auf den rechten Pfad zurückgefunden hat.
Einmal quer über den Bergrücken geht es; an der Nordseite findet sich die Alex-Schotte-Hütte, ein kleiner Unterstand, von dem man eine beeindruckende Aussicht auf das Osnabrücker Land hat. Ich geselle mich zu zwei anderen Wanderern aus Rheine, trinke klares Wasser und lasse mir erzählen, dass es immer wieder Wanderer gebe, die in der Hütte übernachten. Und dass man abends und früh morgens die Strecke so gut wie für sich alleine habe. So oder so sind aber wenig Wanderer unterwegs: Die meisten Ausflügler sind Mountainbiker, und auch die werden immer seltener, je weiter man Richtung Lienen wandert.
Oberhalb von Lienen – der Großteil der Wanderung liegt nun hinter mir – dann endlich: die Waldstation Malepartus, benannt nach dem Schloss des Fuchses aus der Fabelwelt. Es herrscht Hochbetrieb auf dem Parkplatz vor dem Restaurant, Motorradfahrer, Klein- und Großfamilien, erschöpfte Mountainbiker finden sich hier zusammen und laufen rechts hinab zum Fuchsbau. Lienen liegt noch etwa zwanzig Minuten entfernt von hier; ich kapituliere, setze mich zu zwei schweigsam ihre Brezeln und Weißbier konsumierenden Radfahrern und bestelle ein Radler. Als die Bedienung in Lederhosen und mit einem fröhlichen Grüß Gott auf den Lippen die Bestellung aufnimmt, gehe ich davon aus, durch einen Fehler in der Matrix oder eine falsche Abzweigung auf dem Bergkamm irgendwo in Bayern gelandet zu sein, aber ein rascher Blick auf die Karte der Radfahrer bestärkt mich in meiner Annahme, nach wie vor in Nordrhein-Westfalen zu sein.
Hinab nach Lienen gibt es wiederum zwei Wege: Den direkten, die Autostraße entlang (an sonnigen Wochenenden motorradfahrerbedingt wenig zu empfehlen) oder einen Fußweg, der die langsamer Reisenden hinab in die Ebene bringt. Zwei Kilometer lang geht es durch Felder und Wiesen, in denen der Klatschmohn, die Kornblume und die Kamille stehen.
Lienen
WebseiteEvangelische Stadtkirche Lienen
Kirchplatz
49525 Lengerich
Restaurant-Café Pellemeier
Thieplatz 1
49536 Lienen
Öffnungszeiten: Mi - Fr ab 12.00 Uhr durchgehend,
Sa & So ab 11:30 Uhr durchgehend
Hotel Restaurant & Café Waldschlößchen
Holperdorperstr. 31
49536 Lienen
Telefon 0049(0)5483/1081
Öffnungszeiten: Täglich ab 15.00 Uhr, Sonntag 9 bis 18 Uhr
Lienen
Der Lienener Kirchturm verrät die Mitte des Ortes, und ich für meinen Teil habe gerade überhaupt nichts dagegen, für einen kurzen Moment wieder die Zivilisation zu betreten. Die Wegstrecke Lengerich-Lienen wird die Längste dieser Wanderung gewesen sein, und obwohl ich ständig in nächster Nähe Bauerschaften und Straßen wusste, gab es Momente, in denen ich mich ganz allein fühlte. Und das passiert einem in Nordrhein-Westfalen ehr selten.
Wieder geborgen im Schoß des Menschengemachten laufe ich nach Lienen ein und bleibe als allererstes auf dem Thieplatz stehen. Ich reibe mir die Augen; auf so viel Liebreiz war ich nicht gefasst. Vor der Straßenkreuzung, an der die wichtigsten Straßen des Örtchens zusammenlaufen, erstreckt sich eine saftig grüne Wiese, ein Maibaum lässt seine Bänder im Wind flattern, ein Springbrunnen plätschert vor sich hin. Dazu im Hintergrund Fachwerk, mal saniert, gehegt und gepflegt, mal charismatisch verkommen und verblichen. Bei der Wiese des Thieplatzes liegt das Pellemeyer Café und Restaurant; ein Schildchen wirbt bescheiden mit frischen Waffeln aus selbst gemahlenem Bio-Korn. Obwohl mich das Konzept direkt überzeugt und meine Füße vom ungewohnten Wandern schmerzen, will ich erst mehr vom Ort sehen. Das „Hohe Haus der Gesundheit“, ein großzügiger und gut erhaltener Fachwerkbau direkt an der Kreuzung, steht zum Verkauf. Wieviel Zimmer hat es wohl? Zehn? Zwanzig? Dreißig? Für jeden Arbeitstag des Monats eines. Ich bin schwer versucht und notiere in mein grünes Notizheft: Eventuell Hausbesitz in Lienen.
Ich tätschele das Mäuerchen, das den Vorhof von der Straße trennt, und flaniere weiter Richtung Kirchturm. Ein-, zweimal abgebogen und ein Treppchen weiter stehe ich schließlich auf dem Kirchplatz. Kein Besuch eines westfälischen Städtchens wäre komplett ohne eine Würdigung seiner religiösen Stätte, jedenfalls für mich. Umso erstaunlicher, dass hier, ebenso wie in Lengerich, die zentrale Kirche eine evangelische ist. In gebührendem Abstand scharen sich die Häuschen um die mit Bäumen umstandene Kirche. Der älteste Teil, der Westturm, stammt aus dem 12. Jahrhundert, das Schiff wurde im Neubau von 1703 erweitert und verlängert. Die Sonne scheint, die Vögel singen, Kinder spielen allerorts auf den Rasenflächen. Der Schriftzug auf der Kirchenfassade aber kündet von anderen Zeiten. Euch ward aufgegeben zu sterben; an uns ist es den Frieden zu wahren. Den Kriegsopfern zur Ehrung, den Lebenden zur Mahnung. Ein Hauch von memento mori weht da herüber, kurze Bestürzung, Ausblendung des Vogelgesangs. Eine Stolperfalle im Idyll. Der Punkt geht an dich, Lienen.
Ansonsten: Man würde das Beste verpassen, würde man sich nicht die Mühe machen, das Umfeld der Kirche zu erkunden. Bunt verstreut stehen hier die Fachwerkhäuser, wilde Gärten schmiegen sich an alte Mauern, Kinderspielzeug leuchtet auf. Nachdenklich mache ich mich auf den Weg zurück zum Café Pellemeyer, wo ich eine Verabredung mit einer Bio-Waffel habe, bevor es auf die letzte Etappe nach Bad Iburg geht.
Etwa sechs Kilometer sind es noch bis zum Endpunkt der Wanderung, sechs Kilometer, in denen es aber zuerst wieder hinauf auf den Bergrücken geht. Wer die Tour lieber in zwei Teilen laufen möchte, der hätte hier im Lienener „Waldschlösschen“ die Gelegenheit, zur Nacht einzukehren, und am nächsten Tag frisch weiterzulaufen. Denn eines ist klar: Zweiundzwanzig Kilometer sind nicht ganz so zahm wie anfangs gedacht. Vor allem nach einer Pause des Sitzens und Abkühlens merkt man wohl, was man bis jetzt geleistet hat.
Einmal wieder auf dem Bergrücken, das Münsterland fest im Blick, biege ich hinter Malepartus rechts ab, wandere weiter gen Osten und habe schon nach wenigen hundert Metern den Rummel der Gaststätte hinter mir gelassen. Wenn die Knie schmerzen und der Kopf schon voller Eindrücke ist, dann sind sechs Kilometer, die durch Wald führen, eine Labsal. Und eine Chance, über alles Erlebte nachzudenken. Vor vier Jahren bin ich nach Münster gekommen, kannte weder die Stadt noch Nordrhein-Westfalen. Alles, was ich von der Gegend sah, kam mir ungeheuer erschlossen, besiedelt und aufs Genaueste verteilt vor. Wer in Niedersachsen, auf dem Land, aufwächst, ist Weite gewohnt, sich selbst überlassene Brachflächen. Als Kind hatte ich sie stets mit meiner Fantasie aufzufüllen und zu bevölkern gewusst. Der Leerstand war für mich Ödnis, Glück und Chance zugleich. Vielleicht kam sogar der erste Impuls zum Schreiben, aus dem Bedürfnis heraus, meine Umgebung „urbar“ zu machen. Schreibbar. Lebbar. Und dann also: Nordrhein-Westfalen, Münsterland, Parklandschaft. Was für ein Wechsel. Ich habe mir Mühe geben müssen, es zu lieben, aber nach Jahren ist es mir geglückt. Es ist allerdings eine Liebe, die auf keine Höhenflüge zählt, keine Überraschungen, keine Nischen.
Und dann also diese Wanderung, und ich hätte mir nie träumen lassen, was das Münsterland hier, in seinem Nordosten, buchstäblich in der Hinterhand hält. Ein Ort, der längst nicht mehr von der Strahlkraft Münsters erreicht wird, sondern selber ein sonderbar innerliches Glimmen in sich trägt. Wie es sich jeder genaueren Definition entzieht, Kulturlandschaft langsam zu Wald wird, Radfahrer zu Reisenden, Spaziergänger zu Wanderern werden.
Bad Iburg
Der letzte Kilometer nach Bad Iburg führt durch eine Allee, die sich so getragen und würdevoll gibt, dass ich wirklich das Gefühl habe, ich laufe gleich bei Hofe der Majestät ein.
Und wirklich: Lässt man den Höhenweg hinter sich, bemerkt man kaum, dass man wieder städtischen Boden unter sich hat. Bemerkt nicht die B 51, die vor einem liegt und noch überquert werden muss, bemerkt nicht den Parkplatz, nicht die obligaten Gaststätten, das einzige, was man bemerkt, ist das Schloss Iburg, das über allem thront. Gravitätisch. Zurückhaltend und doch selbstbewusst. Tatsächlich ist das Schloss Iburg älter und geschichtsträchtiger als viele der Burgen und Herrenhäuser im Umland. Das erste Mal wurde es im Jahr 753 erwähnt, in den Fränkischen Reichsannalen, wenige Jahre später wurde es von Karl dem Großen erobert und in den darauffolgenden Jahrhunderten von den Fürstbischöfen immer weiter ausgebaut, bis schließlich der Flecken Iburg selber, Anfang des 13. Jahrhunderts eine eigene Kirche – Sankt Nikolaus – und die Stadtrechte erhielt.
Ein alter Ort also, ein geschichtsträchtiger Ort. Ich bin neugierig und widerstehe jeder Versuchung, mich direkt im Café Schlossmühle, direkt zwischen Schloss und Charlottensee gelegen, niederzulassen und die Wanderung zu refektieren. Noch gibt es Dinge zu entdecken, noch haben die Muskeln Kraft und der Tag Licht.
Vorbei also geht es an dem Schloss, immer entlang an einem plätschernden Bach, blühenden Gärten und gemächlich den Weg passierenden Entenpaaren. Hinter dem Schloss dann, linker Hand: Bad Iburgs Altstadt. Auch hier findet gerade ein Volksfest statt; der Geruch von Zuckerwatte, frisch gezapftem Bier und gebratenen Würstchen zieht durch die Fußgängerzone. Blühende Rosensträucher ranken sich an den Hausfassaden hoch, im Hintergrund, wenn man sich umdreht, die bewaldeten Bergrücken, der Bach, die Brücken. Man muss es sagen, Bad Iburg ist eine weitere Idylle auf dieser an Idyllen nicht armen Wanderung.
Wer sich den Weg zweitgeteilt und etwa im Lienener Waldschlösschen genächtigt hat, wird sicher Zeit finden, Schloss Iburg zu besichtigen und im blühenden Schlossgarten zu sitzen.
Für mich wird es heute gerade noch reichen, die Fleckenskirche Sankt Nikolaus zu besichtigen, die bereits erwähnt wurde. Selbst wer sich sonst nicht für sakrale Bauten begeistern kann, kommt kaum um sie herum. Um es ganz deutlich zu sagen: Sie ist ein Schätzchen. Kaum größer als die Wohnhäuser um sie herum, mit trotzigem Türmchen und bunter Fassade aus Bruchstein. Betritt man das Kirchlein, fühlt man sich beinahe in eine Puppenstube versetzt: die Wände weiß getüncht, Altar und Skulpturen (bemerkenswert: Anna Selbdritt von 1515!) in hellen Blau-Tönen gehalten.
Beim Verlassen der Kirche fällt der Handwerkerbrunnen auf: ein Kunstwerk vom Osnabrücker Künstler Hans Gerd Ruwe, in dem verschachtelte Häuser und Mühlen die Handwerke abbilden, die in Bad Iburg ausgeübt wurden.
Die Musik vom Volksfest wird langsam etwas leiser, und auch mein Tag neigt sich langsam dem Ende zu. Ich drehe eine letzte Runde durch die Altstadt, flaniere nochmals am Bach und am Schloss vorbei und lasse mich schließlich in der Schlossmühle in einen Stuhl fallen. Auf dem Tisch vor mir breite ich meine Wanderkarte aus und blättere in meinem Notizbuch. Dafür ernte ich bewundernde Blicke von den Nachbartischen.
Denn so ist es: Heute wurde ein Weg zurückgelegt, selbstbestimmt und höchstallein, und was kann man schon größeres von einem Tag verlangen. Die Ausbeute ist reich. Kühl rinnt das Bier meine Kehle hinab, und ich schließe meine Augen. Ich sehe die Weite und den Wald. Das Blau und das Grün. Das Hell und das Dunkel.