Der Autor geht der Frage nach dem zeitlichen Wandel der Region als einer „Interzone“ des Nichtmehr und Nochnicht am historischen Hellweg nach. Als Archäologe der Gegenwart sucht er Friedhöfe, Denkmäler und Industrieruinen auf und verhilft ihnen mit Hilfe historischer Fakten, Erinnerungen und Beschreibungen zu literarischer Präsenz.
Jürgen Brôcan
»Am Hellweg. Zeiten und Orte«
Fotos: Frank Wierke
Kultur blüht und entwickelt sich mit dem Austausch zwischen ökonomischen Zentren. Im Mittelalter geschah ein reger Handel nicht nur über die Schifffahrtswege der Hanse, sondern auch auf dem Landweg. Der so genannte Hellweg verband die Hansestädte und Handelszentren im Osten, Thorn, Posen, Krakau und Breslau, und die Kaufmannsstädte Hildesheim, Braunschweig und Magdeburg in der Mitte mit den Niederrheingebieten im Westen – über Paderborn, Soest, Dortmund und Duisburg. Zwischen Dortmund und Paderborn lässt sich der Hellweg sogar bis in die vorrömisch-germanische Zeit zurückverfolgen. Für die Bezeichnung „Hellweg“ liefert das Grimm´sche Wörterbuch zwei etymologische Erklärungen: die eine leitet das Wort vom Mittelhochdeutschen „helwec“ bzw. „hellewec“ ab, was soviel wie Landstraße oder Heeresstraße bedeutet, ursprünglich aber auch der Weg, auf dem Leichen gefahren wurden; die andere nennt eine Herkunft von „heldweg“, „ein auf der seite abhängig gemachter weg, damit das wassser ablaufen könne“. Handel und Wandel, Leben und Sterben, Kultur und Natur, Geschichte und Gegenwart – sie ballen sich entlang den Koordinaten des Alten Hellwegs.
I. Das Gräberfeld von Ense-Bremen
Zeitfenster: Erste Besiedlungsspuren wie Pfeilspitzen, Beile und andere Überreste von Alltagsgegenständen stammen aus dem Neolithikum. Niemand weiß, wer irgendwann in späterer Zeit entschied, dass dieser Ort für Bestattungen angemessen ist. Bestatten, jemandem eine Stätte zuweisen: Brandgräber, eingehegt in Kreisgräben, Schlüssellochgräben und Langgräben, Beigaben in Gestalt von Ketten, Waffen, Gefäßen, im Süden des Feldes auch Pferdegräber, in Nord-Süd-Richtung angelegt, die im Unterschied zu denen ihrer menschlichen Besitzer, ein Beleg dafür sind, dass dieser Platz von der späten Bronzezeit (ca. 1200 - 800 v.d.Z.) bis ins frühe Mittelalter der Merowinger als Begräbnisort genutzt wurde.
Die ersten Ausgrabungsfunde machte man erst in den 1960er Jahren zufällig beim Lehmabbau für eine Ziegelei; und schon damals musste sich die archäologische Sicherung ins skandalöse Wettrennen gegen andere Bedürfnisse und Erwägungen begeben. Zu den erstaunlichen Entdeckungen unter den insgesamt 155 Anlagen gehört ein Grab in Form zweier miteinander verbundener Kreise, für das bislang keine Parallele nachgewiesen ist.
Ortstermin: Fährt man mit dem Auto von der im Mittelalter bedeutenden Hansestadt Soest in westliche Richtung, vorbei am Dorf Ostönnen, in dessen St.-Andreas-Kirche die wohl älteste noch spielbare Orgel der Welt steht, erstrecken sich zu beiden Seiten die Hellwegbörden, fruchtbare Landstriche entlang der Städte Soest, Werl, Unna, Dortmund und weiter bis nach Geseke und Salzkotten in östliche Richtung. Die Landschaft ist brettflach, überall Felder, die durch kleine Baum- und Gesträuchreihen geordnet sind, in der Ferne Hochspannungsmasten, Growiane und die Kirchtürme des nächsten Dorfes, und dieses ebene Gelände setzt sich zunächst fort, wenn man von der Bundesstraße 1, die ungefähr dem Verlauf des alten Hellwegs folgt, in südliche Richtung nach dem Städtchen Ense-Bremen abbiegt, im Winter und bei nebliger Wetterlage eingesponnen in die wohlige Melancholie einer überwiegend zum Ackerbau genutzten Landschaft abseits der Industrie.
Nach wenigen Kilometern senkt sich das Gelände unvorhergesehen, und hier auf dem Haarstrang, einem Höhenzug am Rand der Westfälischen Bucht, liegt Ense-Bremen. Ein Kreisel fängt den Durchgangsverkehr vor dem Ortseingang ab, leitet ihn auf eine Umgehungsstraße, die in einen weiteren Kreisverkehr mündet. Alles wirkt neu, aufgeräumt, beruhigt, aufwändig mit Fußgänger- und Fahrradüberwegen gestaltet. Das Mäuerchen in der Mitte des Kreisels in Gestalt zweier Kreise, die durch ein kurzes Verbindungsstück aneinandergefügt sind zu einer Acht oder mit etwas Phantasie, zu einem Unendlichkeitszeichen, könnte bloß eine rein ornamentale Funktion haben, der schnurrige Einfall eines Gärtners oder Straßenplaners. Tatsächlich aber ist diese kleine, höchstens kniehohe Mauer der einzige verbliebene Hinweis auf ein frühgeschichtliches Gräberfeld.
Auf dieser Anhöhe müssen die Toten, die an diesem Ort bestattet wurden, auf ihrem Weg ins Jenseits einer grandiosen Szenerie gegenüber gestanden haben: Nach Süden Blick in das Ruhrtal (welchen Namen die Menschen ihm damals auch immer gegeben haben) und nach Westen, zur untergehenden Sonne, eine sich öffnende Ferne in die einsame oder nur dünn besiedelte Landschaft (die noch nicht wissen konnte, dass sie Jahrhunderte später eines der größten Ballungsgebiete Europas werden sollte). An der Schwelle zum Ruhrgebiet auf der Schwelle zum Jenseits: Selbst wenn ein solcher Gedanke wohl vollkommen ahistorisch ist, es lässt sich noch heute nachvollziehen, dass die Menschen diesen Ort einmal als besonders, als im wörtlichen Sinn „heilig“ empfanden.
II. Die Emscherquelle
Zeitfenster: Nach 83 Kilometern mündet die Emscher in den Rhein. Auf alten Karten kann man noch ihren früheren, stark mäandernden Lauf verfolgen, der insgesamt 109 Kilometer betrug. Als Mitte des 19. Jahrhunderts durch die wachsende Industrialisierung und Bevölkerung des Ruhrgebiets der Bedarf an Trinkwasser zunahm, gewann man dieses aus Ruhr und Lippe, während die Abwässer und das Grubenwasser des Bergbaus in die Emscher geleitet wurden. Das geringe Gefälle, die Mäander, die Absenkungen durch Bergschäden führten dazu, dass der Fluss, der mehr einer Kloake glich und (abgeleitet vom niederdeutschen Wort für Bach) den Spitznamen „Köttelbecke“ erhielt, oft flächendeckend über die Ufer trat, was eine erhebliche Seuchengefahr nach sich zog. In Gelsenkirchen starben noch Anfang des 20. Jahrhunderts rund 500 Menschen an Typhus, weil dem Trinkwasser ungeklärtes Emscherwasser beigemischt wurde. Bei einem Fluss, der zeitweise bis zu 80 Prozent aus Abwässern bestand, „so dickflüssig, dass ein hineingesteckter Stock darin unbeweglich stehen blieb“, nicht verwunderlich. Aus diesen Gründen wurde die Emscher tiefer gelegt, begradigt und befestigt. Nachdem inzwischen die technischen Möglichkeiten entwickelt und vorhanden sind, Abwässer vom Reinwasser zu trennen und trotz der Bergschäden in Kanälen unterirdisch verlaufen zu lassen, wird die Emscher unter großem Aufwand nach und nach renaturiert.
Ortstermin: Mehrere kleine Zuflüsse, die sich aus dem Wald oder durch Wiesen schlängeln, vereinen sich im Emscherquellhof in Holzwickede. Ein Holzsteg führt zu diesem ummauerten Teich, Zitate aus der Weltliteratur, die sich aufs Wasser beziehen, sind in Abständen in die Bohlen eingelassen. „Panta rhei“, alles fließt, die alte Wahrheit des Herakleitos, sie trifft hier und allerorten zu. An dieser Stelle beginnt der Fluß, der mit seiner dauernd gewandelten Gestalt die Veränderungen und den Strukturwandel der Region bezeugt. Er entspringt in ländlicher Abgeschiedenheit, trifft bereits nach kurzem Lauf auf die ersten Fabriken, wird in Rinnen gepfercht oder unterirdische Gänge, begleitet Felder und Fabriken, sieht Fördertürme und Kraftwerke, zieht vorbei an Landschaftsparks, die aus ehemaligen Halden entstanden sind, wie etwa der Emscherbruch zwischen Gelsenkirchen und Recklinghausen, bis er schließlich, gewaltig an Breite zugenommen, sein Wasser in den Rhein entlässt. Die matte Kehrseite der glänzenden Medaille von Standortaufwertung und Freizeitattraktivität ist, dass der charakteristische Charme der streckenweise in schnurgeraden, übermoosten, gemauerten Rinnen strömenden Emscher verschwinden wird, und dass die Erzwingung eines natürlichen Bachbetts mit Erdumwälzungen und Baumentwurzelungen erkauft wird, die zuletzt ebenfalls eine (wenn auch gut gemeinte) violente Künstlichkeit hat.
III. Ernst Meisters letzte Ruhe
Zeitfenster: Der Dichter Ernst Meister hat den größten Teil seines Lebens in Hagen verbracht. Er wurde am 3. September 1911 im Stadtteil Haspe geboren, studierte zwar in Berlin und Frankfurt und war im Zweiten Weltkrieg in Russland, Frankreich und Italien stationiert, kehrte aber im Herbst 1945 nach Hagen zurück, um bis 1960 notgedrungen als Angestellter in der väterlichen Fabrik zu arbeiten. Unter seinem Brotberuf hat er sehr gelitten, es aber dennoch geschafft, ein fünfzehn Gedichtbände und mehrere Prosastücke und Dramen umfassendes Werk zu schreiben, für das ihm, dem oft schweigsam Zurückgezogenen, verdientermaßen der Georg-Büchner-Preis verliehen wurde – allerdings posthum, Ernst Meister starb am 15. Juni 1979 in seiner Heimatstadt.
Ortstermin: Die Stadt Hagen liegt in den Tälern und an den Hängen von Ruhr, Volme, Lenne und Ennepe, weshalb es nicht verwundert, dass auch Ernst Meisters Ruhestätte an einem Berghang zu finden ist. („... von Abhang und Abhang gezeugt ...“, echot mir eines seiner Gedichte im Gedächtnis.)
Der Friedhof Delstern besitzt denselben merkwürdig morbiden Charme, den die Stadt allenthalben ausstrahlt. Architektonisch stehen sich in krasser Abwechslung Sechziger Jahre-Bürgerlichkeit und Hochmodernität gegenüber. Die Friedhofsverwaltung, bei der ich mich nach der Lage von Ernst Meisters Grabstätte erkundige, ist über meine Frage keinesfalls überrascht, der Dichter wird tatsächlich als Berühmtheit wahrgenommen. Vorbei also an Verwaltungsgebäude und Krematorium – das Ensemble ein wildes Gemenge verschiedener Stilrichtungen – im Hinterhof eine Mauer, die für Exekutionen geeignet wäre. Rechter Hand Gräberreihen, zu denen eine Art Freitreppe hinunterführt, ein Stück weiter geradeaus zwölf moderne Stelen, sehr nüchtern in ihren glatten Oberflächen und gerundeten Ecken, Namen darauf und Urnen vermutlich darin, an überdimensionale Briefkästen erinnernd. Noch einige Dutzend Meter weiter aufwärts und dann, geduckt in den Winkel eines Gesträuchs: Ernst Meisters Grab.
Ein Stein, der sich beckenförmig senkt, darüber eine elliptische Platte, auf der sich jetzt im März noch Eis befindet. Dahinter, seltsam versetzt, die schwarzen Blöcke mit den handschriftlichen Namenszügen von Ernst Meister und seiner Ehefrau Else, die unter dem Pseudonym Alice Koch schrieb. Ein für einen Büchnerpreisträger und bedeutenden Lyriker schlichtes und – es lässt sich nicht übersehen – ungepflegtes Grab. Die Signatur, eingemeißelt, trotzdem weniger dauerhaft als Horazens Erz und ganz zweifellos als seine Gedichte, ein letzter individueller Zug, darunter die nüchternen Daten, als gehörten sie schon nicht mehr zu ihm. Zwei scheinbar aus demselben Stamm gewachsene Birken überdachen die Grabstelle, gegenüber ein Nadelbaum mit abgeschuppter, wie räudiger Rinde. „Geist zu sein / oder Staub, es ist / dasselbe im All“, murmeln seine Gedichte in meiner Erinnerung, aber auch, in still entschlossener Abkehr von Nietzsche: „Hier, /gekrümmt / zwischen zwei Nichtsen, / sage ich Liebe.“
Weiter im Hintergrund ein anderer Nadelbaum, tote und lebende Nadeln am selben Ast. Vogelhäuschen überall. Die Vögel indes hört man kaum unter der gewaltigen Geräuschkuppel, die von der A 45 ausgeht, der Sauerlandlinie, die sich weniger als zweihundert Meter von dem Grab entfernt hinter dem Friedhof erhebt, sich zur Brücke spannt, ein Monument unaufhaltsamer Mobilität.
IV. Der Rombergpark
Zeitfenster: Das ehemalige Rittergut Brünninghausen gehörte dem alten Adelsgeschlecht derer von Romberg, ihr Stammsitz auf der Burg Volmarstein wurde 1134 urkundlich erwähnt. Um das Jahr 1585 ließen sie sich in Brünninghausen nieder. Das alte Herrenhaus wurde während des Dreißigjährigen Krieges zerstört (die befestigte Reichsstadt Dortmund lag am strategisch wichtigen Hellweg), es konnte erst 1681 wieder aufgebaut werden, diesmal mit einer Gräfte und einer Vorburg mit Torhaus versehen. Ein anderer Krieg in der Mitte des Zwanzigsten Jahrhundert hat dieses Torhaus dann allerdings endgültig so schwer beschädigt, dass es nur als Rekonstruktion wiedererstehen konnte. Heute öffnet sich vorm Auge des Rombergpark-Besuchers eine langgestreckte Wiese mit einem gemächlichen Bachlauf, zu beiden Seiten alte Baumbestände, von denen einige die Umgestaltung des zu Beginn des 19. Jahrhunderts angelegten Englischen Gartens zu einem botanischen Garten noch miterlebt haben. Das Arboretum ist bedeutend, und im angeschlossenen Gewächshaus lassen mehrere Exemplare der monözischen Wollemie, einer Araukarienart, die als seit 65 Millionen Jahren ausgestorben galt, von der man aber in den neunziger Jahren in einer geheim gehaltenen Schlucht in Australien einige Exemplare entdeckte, den Atem bescheidener, langsamer, ehrfürchtiger gehen.
Ortstermin: Wer sich auf die Natur einlässt, lässt sich auch auf die Gefahr ein. Zwischen den Bäumen warnen Schilder, die markierten Wege nicht zu verlassen. Der gesamte Bereich ist von ehemaligen Bergwerksstollen unterwandert, die im südlichen Bereich des Parks zu einem Tagesbruch geführt haben, im nördlichen zu angestautem Grubenwasser aus den verfüllten Stollen. Optisch am auffälligsten ist der Rote Bach, der seine Farbe dem ausgeflockten Eisenocker verdankt, ein merkwürdig anorganisch wirkendes Gewässer, in dem tatsächlich kein Leben existiert, weil der Eisenocker die Kiemen von Fischen und Insektenlarven blockiert. Hinter der Vielzahl der heimischen und exotischen Pflanzen- und Baumnamen auf den Schildern werden andere Namen nicht mehr wahrgenommen, sie sind eingegangen in die Idylle des Parks, aufgesogen vom Boden. An die dreihundert sind es gewesen, informiert ein Gedenkstein, summarisch, grausam in seiner Nüchternheit und dem unerträglichen Pathos, zu dem sich die Beschämten oft verführen lassen. Dreihundert Namen, keiner wörtlich erwähnt, eine gesichtslose Masse.
In den letzten Apriltagen des Jahres 1945 glich der botanische Garten, wenn man ihn auf Luftaufnahmen betrachtet, einem pockennarbigen Gesicht, übersät mit Bombenkratern. Er befand sich in unmittelbarer Nähe zum Stahlwerk Phönix, und seine Zerstörung würde man heute als Kollateralschaden abtun. Die Nationalsozialisten allerdings wussten auch aus diesem Umstand das Beste herauszuholen: Als die alliierten Truppen vor Dortmund standen und die Sonderbefehle zur Auslöschung ergingen, „Geheime Reichssache“ („sofort und brutal zuschlagen“, „vernichten“), um den Siegern den Wiederaufbau einer demokratischen Ordnung möglichst zu erschweren, transportierte die Gestapo die gefolterten und mit Stacheldraht gefesselten Widerstandskämpfer und ausländischen Zwangsarbeiter in den Rombergpark und die benachbarte Bittermark. Die mit einem Genickschuss Hingerichteten konnten dann vor Ort schnell und ohne größeren Aufwand in den Bombentrichtern verscharrt werden: Mordlust vermischt mit perfidem Organisationstalent.
V. Phönix aus der Brache
Zeitfenster: Ein Nachtbild in der Vorstellung, eine Rückblende um dreißig, vierzig Jahre: Ein glutroter Schein flackert am Himmel, erhellt die Bäume, lautes Geratter, Eisen auf Eisen, quietschende Bremsen, und dann erscheint dieser Drache hoch oben am Himmel, dieser glosende Lindwurm, dieser feurige Wagen, der sich zwischen den Bäumen über den Damm schlängelt... Poetisierung von Wirklichkeit, die einmal harte Arbeitswirklichkeit war. Die Werksbahn, im Volksmund auch Feuriger Elias genannt, transportierte das in den Torpedopfannen zähflüssig schwappende Roheisen vom Hüttenwerk Phönix-West zum Stahlwerk Phönix-Ost, und auf ihrem Weg dorthin, auf der Eliasbahntrasse, überquerte sie ein Viadukt, das jetzt entfernt an eine römische Ruine erinnert.
Ortstermin: Ich habe mir alte Stadtpläne angesehen und neuere Satellitenbilder, um den Verlauf der Bahnstrecken zu rekonstruieren. Die Karten sind nicht eindeutig mit dem Augenschein vor Ort in Übereinstimmung zu bringen, und die Satellitenbilder zeigen nur einen Moment, der vom raschen Wandel eingeholt und überholt wurde.
Als ich mich an einem frühen Sonntagmorgen zu dem Gelände begebe, komme ich mir vor, wie ein Archäologe, dessen Untersuchungsgegenstand die Gegenwart ist. Es dauert länger, bis ich einen Zugang entdecke, bei dem ich nicht steile Bahndämme hinauf oder hinab kraxeln muss. Die Gleise sind bereits demontiert, an ihrer Stelle liegt Kies oder Asphalt, die Mauern von Moos befreit, die fehlenden Partien frisch dazugemauert, am Farbunterschied sofort erkennbar. Bald werden auch die letzten Spuren von shibui nicht mehr vorhanden sein – doch jetzt sehe ich sie noch in verfallenen (Geräte-?)Schuppen unterhalb gewaltiger Rohrleitungen, die mich zu einem Knotenpunkt ehemaliger Bewegung bringen, einem geordneten Chaos von in alle Richtungen verlaufenden Rohren größeren und kleineren Durchmessers und mehreren sich kreuzenden ehemaligen Bahnstrecken.
Dann weiter zum Viadukt. Die schiere Höhe ist beeindruckend. Zwei Pfeiler schmiegen sich an den Bahndamm, Gras hat in der Flugerde, die sich auf den schmalsten Absätzen niedergelassen hat, eine neue Bleibe gefunden, junge Bäumchen wurzeln in den Spalten des aufgebrochenen Mauerwerks. Es ist immer wieder verblüffend, wenn das Auge nackten Beton gewohnt ist, die vielen Bögen, Rundungen und Verzierungen aus Backstein zu betrachten, diese reine Funktionalität im Verbund mit der Versicherung von Dauerhaftigkeit. Die Höhe des Bahndamms selbst bleibt ebenfalls nicht ohne Eindruck, vor allem von unten betrachtet, von der ihn begleitenden Emscher aus. Aber auch von der ehemaligen Deponie Hympendahl aus, auf der anderen Seite, macht der sanfte Viertelkreis des Dammes mit seinen jahrzehntealten hohen Bäumen einen erhabenen Eindruck.
Das Viadukt steht wie ein Relikt in einem Gelände, das ständigem Wandel unterworfen ist, ein Gelände, das für den Strukturwandel des Ruhrgebiets geradezu stellvertretend steht. Darüber zu schreiben, Eindrücke und Beobachtungen festzuhalten, gleicht dem Anfertigen eines filmstills, der einen winzigen Moment im rasanten Abspulen der Zeit festhält, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich stelle mir die Besiedlung wie Jahresringe vor: Um die Hörder Kirche und Burg wurden Häuser gebaut, um diese Häuser entstand später das Stahlwerk, um das sich wiederum die Häuser der Arbeiter angesiedelt haben. Von der Industrie ist jetzt nichts geblieben als ein Denkmal hier, ein Denkmal dort, aus dem Zusammenhang des Produktionsprozesses gerissen, aber in ihrer vor sich hinrostenden Massigkeit noch immer beeindruckend. Phönix – das Gelände ist „wüst und leer“, das Straßennetz jedoch bereits angelegt, es wartet auf seine Auferstehung als Nanotechnologiepark.
Das Gelände befindet sich in einem Zwischenzustand, einem Schwebezustand von Nicht-Mehr und Noch-Nicht, eine Interzone zwischen den Zeiten, durchlässig für einen kurzen Augenblick in beide Richtungen. Ein künstlicher See soll einmal im östlichen Teil einen Gürtel bilden mit dem nordwestlichen Westfalenpark, dem südwestlichen Rombergpark und dem sich anschließenden Tierpark. Eine ungeheure zusammenhängende Grünfläche entstünde mitten in der Stadt, die beinahe die Ausmaße des New Yorker Central Parks erreichte, flankiert von zahllosen übers Stadtgebiet verteilten Parks, Wäldern, Rasenflächen, Friedhöfen und bepflanzten Halden. Im Zentrum steht das Viadukt, umkreist von staubigen, hügeligen Wegen, und nur die Gleise der Regionalbahn erinnern an die vielen Strecken und Rohrleitungen, die sich genau an diesem Punkt gekreuzt haben und von denen jede Spur und wahrscheinlich bald auch jede Erinnerung fehlt.
Die Gestaltung eines Areals mit Gespür für die Besonderheiten des Ortes und für den Erhalt einer gewachsenen Vergangenheit gelingt nicht immer. Noch sind Wege zu entdecken, manchmal nur staubige Fahrspuren oder alte Bahntrassen, die behutsam zu Fußwegen ausgebaut wurden. Noch fließt die Emscher, sobald sie aus ihrem unterirdischen Verlies befreit ist, in einer tiefen Rinne, die mit Ziegeln sorgsam gemauert worden ist und auf der Moosbärte und Grassträhnen ein Ornament bilden. Auch das kann Idylle sein, abgesegnet durch Jahrzehnte des Fließens, so dass jede Renaturierung – seltsamerweise – wie ein gewaltsamer Eingriff wirkt. Doch auf großen Plakaten werden bereits neue Brücken angekündigt, schwungvoll, dynamisch, leichtfüßige Stahlkonstruktionen, die Fremdkörper sein und die Atmosphäre des stillen ruhigen Strömens nachhaltig stören und unterbrechen werden. Noch sind die Wege einsam, versteckt, noch ist die Brache da, noch warten Rohre, Rohrstücke wie Passagiere, die nicht abgeholt wurden. Bald schon sind Aussichtspunkte nur geplant, nicht entstanden, nur vorgegeben, nicht zu entdecken.
VI. Die Rampe
Zeitfenster: Im Ruhrgebiet erfährt man seltener Verläufe, sanfte Übergänge, als heftiges Aufeinanderprallen von Gegensätzen. Eine dieser unsichtbaren, jedoch spürbaren Grenzen verläuft direkt unterhalb der Bochumer Ruhruniversität. Eine kleine Treppe, die so ausgetreten ist, dass ihre Eisenverstrebungen zutage treten, fünf nostalgisch stimmende Laternen, runde Kugeln, die obere Hälfte braun und die untere milchweiß, dann geht es hinunter in den Botanischen Garten, der in den Sechziger Jahren zusammen mit der Universität entstand und sich über den gesamten Hang erstreckt, ein Wege-Geflecht botanischer Weltläufigkeit, zur Bildung wie zur Entspannung gleichermaßen geeignet. Als erste Universitäts-Neugründung in der Bundesrepublik war die Ruhr-Universität ein Vorzeigeprojekt, das den modernsten Standards entsprach. Heute aber geht von der Formstrenge der Gebäude etwas Gewalttätiges aus, eine rauhe, unbarmherzige, hackenknallende Abweisung, und wenn man recherchiert, bestätigt sich diese aufdrängende Assoziation...
Ortstermin: Blick hinüber ins Tal. Ich stehe auf einer kleinen Aussichtsplattform. Nein, keine Plattform, vielmehr eine Auswölbung des Betonmäuerchens, eine Balustrade, durchbrochen mit rechtwinkeligen Öffnungen, die mich an Schießscharten erinnern. Im linken Augenwinkel lauert ein Objekt, dessen Funktion unkenntlich ist, eine Konstruktion mit einer scheibenförmigen Haube, deren Basis darunter sich der Schräge des Hangs anzupassen scheint, über und über mit Moos bedeckt, anscheinend direkt aus einem Science-Fiction-Film herversetzt.
Hinter mir wie ein Ozeandampfer einer der Flügel der Universität. Als würde er in das grüne Meer vor ihm stechen wollen, hätte aber die Kraft nicht dazu und wäre für alle Zeiten ange-wrackt. Unter und durch diese Kathedrale des Wissens zieht sich eine ungeheure Rampe, eine Reminiszenz an Bergwerksstollen. Von ihr zweigen mehrere Tiefgaragen-Geschosse ab. Die Autos wirken wie abgestellte Särge in Gruftgewölben. Infernalisch roter Lampenschein erleuchtet die Parkdecks. Aus der Tiefe steigt ein dauerndes Wummern. Ein Dröhnen, das von entferntem unsichtbaren Verkehr zu kommen scheint. Achteckige Säulen, zum Teil schräg in die Wände gelehnt, gleichen Riesenkristallen, die in der unterirdischen Wärme gedeihen. Erhitzte Luft steigt aus den Entlüftungsschächten. Bauarbeiter lärmen, es riecht nach frisch weggeworfenen Zigaretten. Der Beton feiert Triumphe, die ganze Konstruktion ist ein Lobgesang auf die Orthogonale. Ein Halbdüster, eine unmenschliche Anonymität, lauernde Vergewaltigungsnischen. Steht man in diesen Betonwuchten, die hier und da schon zu bröckeln beginnen und begibt sich die ungeheure Dynamik der Rampe hinauf, die einen immer wieder gravitierend hinabzieht, ist es beinahe tröstlich, aus dem Augenwinkel in eine Ecke gezwängt ein hohes, durchbrochenes Fenster zu sehen, aus dem schmutziges gelbes Wartehallenlicht sickert.
VII. Bochum, Hauptfriedhof
Zeitfenster: Die Trauerhalle und die Bauten des Bochumer Hauptfriedhofs sind zwischen 1935 und 1939 errichtet, aber bereits zwischen 1925 und 1930 von den Architekten Wilhelm Seidensticker und Heinrich Timmermann entworfen worden. Beim Flächenbombardement des Ruhrgebiets ist diese Friedhofsanlage weitgehend verschont geblieben. Wer genau hinschaut, erkennt kleine Retuschierungen, nach dem Krieg vorgenommene historische Korrekturen. Am Eingang der großen Trauerhalle steht beispielsweise eine Figur, auf deren Schild eine ganz unpassende Rautenfigur eingraviert ist, aus der man ohne allzu große Phantasie ein Hakenkreuz rekonstruieren kann.
Ortstermin: Nähern wir uns unvoreingenommen. Befreien wir das Auge, zumindest für einen erleichterten Augenblick, vom historischen Ballast. Man betritt den Bochumer Hauptfriedhof durch ein nüchternes dreiteiliges Tor inmitten einer von Türen oder vergitterten Durchlässen durchbrochenen Mauer. Der Eingangsplatz: weiträumig, ohne die Enge und Muffigkeit vieler älterer Friedhöfe (die ihnen natürlich oft erst ihr sympathisches Eingebettetsein in die Zeit verleiht), klare Flächen und gerade Wege, genau begrenzte Parzellen: Kriegsgräber, Anatomiefeld der Universität, Aschestreufeld, „Lichtgarten“ für Totgeburten... Dann rechter Hand: ein Kolumbarium, einer römischen Villa auf dem Lande nachempfunden, ein Säulengang und in der Mitte ein kleiner, ruhiger, lichtdurchfluteter Innenhof. Daneben die große Trauerhalle: Sie macht aufgrund der Farbe der vergleichsweise schmalen, flachen Steine einen holzartigen, holzgemaserten Eindruck, unauffällig fügt sich die Farbe in das Ensemble der wenigen sie umgebenden Bäume, unerbittlich, monumental wie der Tod, und überall architektonische Elemente, die auf die Dreizahl verweisen, die man auf einem christlichen Friedhof als verborgener Hinweis auf die Trinität zu deuten versucht ist: 3 Stufen vor der Halle, ein 3teiliges Portal...
Zu beiden Seiten des Eingangs leere Nischen, nur links eine Grabplatte und eine übermannshoch angebrachte Lampe, ein einsamer Wächter in dieser Kargheit, dieser Verlorenheit, eine Verkörperung des Wortes „heimleuchten“. Im einen Moment noch offener Himmel überm Kopf, im nächsten bereits gefangen auf styxschwarzen Platten, die die Eingangstore umkleiden – es geht stracks und unausweichlich in die Finsternis. Die Monumentalität teilt die Trauerhalle mit vielen anderen Bauwerken der Zeit, schlichter Klassizismus zeichnete zum Beispiel auch die Maschinenhalle und das Kesselhaus der Zeche Sachsen in Hamm-Heesen aus, ihren Architekten Alfred Fischer haben die Nationalsozialisten allerdings zwangsentlassen. Tatsächlich ist es spätestens auf den Stufen dieses Todes-Portals unmöglich, unvoreingenommen zu bleiben: Über den Trauernden (die ich in Gedanken durch das Tor schreiten sehe) erhebt sich strammes germanisches Geleit, rechts und links jeweils drei Figuren, die Männer umklammern in typischer Heldenpose ihr Schwert, die Frau zwischen ihnen ist ausgerüstet mit Helm, Schild und Speer.
Erschütternder als dieses anachronistische Dräuen, erschütternder und die ganze präzise Perfidität einer Ideologie entlarvend, ist das vielleicht unscheinbarste Element. Neben dem einen Torflügel befindet sich auf Brusthöhe in der obsidianschwarzen Platte eine kleine, runde Ausbesserung, die derart dilettantisch ausgeführt ist, dass man sie besser Ausspachtelung nennen sollte. Dahinter – leider nicht öffentlich zugänglich – liegt ein nüchtern weißgetünchter Raum, in dem sich nichts als ein Holzstuhl befindet. Hier saß ein Spitzel und belauschte durch besagte Öffnung, Gehörgang des omnipräsenten Staatsapparats, die Trauernden bei ihrem Einzug oder Ausgang. Wehe jenem, dem in seiner Trauer eine regimekritische Äußerung entfuhr! Wenn man sich die gegenüber der Halle in Halbkreisen angeordneten Gräberreihen der Toten der Bombennächte von 1944 vergegenwärtigt, dann kann man sich leicht ausmalen, wie oft der Spitzel die kleine Leiter hinaufgestiegen ist, um unverzüglich seine Meldung zu machen.
VIII. Düker
Zeitfenster: Als ich vor einigen Jahren das erste Mal den Emscher-Düker besuchte, überraschte mich die unmittelbare Nähe von Industrie und ländlicher Idylle, obwohl diese Kollision im Ruhrgebiet nicht ungewöhnlich, sondern im Gegenteil bezeichnend ist. Hohe Baumreihen säumten einen unbefahrenen Seitenarm des 1899 in Anwesenheit des Kaisers eröffneten Rhein-Herne-Kanals, dessen ruhige, sonnenflimmernde Wasserbewegung direkt vorm Düker endete. Über den Kanal selbst tuckerten die langgestreckten Schiffe, und weil der Kanal höher gelegen ist als der parallele Fußweg, sah man von unten oft nur die Aufbauten der Schiffe, die scheinbar geisterhaft dahintrieben. Unter dem Kanal floss die Emscher in ihrem tiefergelegten Bachbett und machte nach wenigen hundert Metern einen eleganten Schlenker, begleitet von Feldern, über denen Van-Gogh-Krähen anmutig kreisten. Allerdings wurde die Idylle olfaktorisch eingetrübt durch einen Zufluss, der sein viel dunkleres Wasser mit ziemlichem Getöse in die Emscher spie.
Ortstermin: Ist es ein objektiver Befund oder nostalgische Schwärmerei, wenn man meint, moderne Technik früherer Zeit wäre ästhetischer gewesen? An der Eintritts- und an der Austrittsseite des Emscher-Dükers stoßen schiffsbugähnliche Strukturen vor, sie mögen keinen symbolischen Gehalt haben, fügen sich dennoch bestens in dieses Wasserstraßenensemble ein. Diese „Buge“ trennen den Durchlass des Wassers von den Überlaufrinnen. Steile, überaus schmale Treppen mit einseitigem Geländer gehen auf ihnen hinab, und man muss die Balance und Schwindelfreiheit der damaligen Schleusenwärter haltlos bewundern. An der Eintrittsseite der Emscher führen wannenförmige Vertiefungen unter den Kanal, in derer mittlerer fließt die Emscher, die, ansonsten eher langsam, hier ordentlich an Fahrt aufnimmt, in der anderen steht das Wasser dunkel und brackig, mit leichtem Ölfilm und irgendwie lauerndem Ausdruck. Über die Betonwände könnte man meditieren, in philosophische Betrachtungen versinken – hier eine einsame Wasserstandsmarke, dort ein paar verrostete Leitern oder die Aussparung für inzwischen nicht mehr vorhandene Schleusentore. Diese Wände sind faszinierende Leinwände für Zufallsgemälde, für Pollock-Spritzer, weiße, braune, grüne und schwarze Spuren in allen möglichen Schattierungen und Tönungen, aus allerhand alten und neuen Stoffen; und nur ein Beobachter, der Jahre oder Jahrzehnte hier stünde, könnte die allmählichen Veränderungen bemerken.
Als ich diesen Ort kürzlich wieder besuchte, war ich zutiefst verstört. Die Baumreihen waren genauso verschwunden wie der tote Kanalarm. Stattdessen der Faustschlag einer ausgedehnten Baustelle, riesige Ausschachtungen, aus denen Stahlträger ragten, Eisengitter, weiße Plastikplanen, Aufschüttungen von Aushub und am Rande der Baustelle eine Reihe Wohncontainer und ausrangierter Wohnwagen. Kräne kreisten diesseits und jenseits des Kanals, wie hungrige Geier, Lastwagen dröhnten auf staubigen Wegen. Der Düker war an der Austrittsseite nicht mehr zugänglich, und meine anfängliche Befürchtung, dass er bereits zu einem der Schutthaufen zusammengefahren sei, bestätigte sich zum Glück nicht. Aber der Arm, in dem sich das Wasser hob und senkte, so dass ein vorbeifahrendes Schiff auf dem Kanal angekündigt wurde, lange bevor es in Sicht kam, der Arm, über dessen Wasserfläche ich Eisvögel dahinzischen sah, war bereits zugeschüttet.
Zivilisation und Natur sind an diesem Ort für lange Zeit einen Waffenstillstand eingegangen, sie lebten in friedlicher Koexistenz, deshalb wird sich auch diese Wunde schließen, in Jahren oder Generationen, doch ragt dann noch der Düker in die Landschaft? Eine vor der Baugrube aufgestellte, stolz das Vorhaben illustrierende Tafel macht jede Hoffnung darauf zunichte...
IX. Ein Brückenkopf
Zeitfenster: Die 1928 in Betrieb genommene Kokerei Hansa bezog von den benachbarten Zechen die Steinkohle und lieferte den daraus produzierten Koks und das Kokereigas an Dortmunder Hüttenwerke. Eine dieser Eisenbahnverbindungen führte in einem weiten nördlichen Bogen zur Zeche Fürst Hardenberg (und wohl noch weiter zum Kanalhafen). Inzwischen ist die Strecke, auf Stadtkarten aus den 90er Jahren noch verzeichnet, stillgelegt und sind die Schienenstränge zum größeren Teil entfernt. Wo sich nun das klotzige Zentrallager eines schwedischen Möbelkonzerns befindet, verlief diese Strecke, sich in Nebengleise teilend wie ein Schienendelta.
Ortstermin: Nur ein Damm erinnert an frühere Geschäftigkeit, steil, schwer zugänglich, eine Ödfläche davor, die mit aus Fliesen recyceltem Schotter bedeckt und mit vergleichsweise jungen Birken bevölkert ist, in seiner Flanke eine Aussparung aus Beton, deren frühere Funktion mir nicht mehr ersichtlich ist (stand hier vielleicht ein Strommast?), einer dieser Nicht-Orte, dieser transitorischen Orte, die überall dort sind, wo sich das Frühere zurückgezogen und noch keine eigenständige Gegenwart herausgebildet hat. Von der anderen Seite indes gelangt man auf ein Plateau, auf dessen Schotter Nachtkerzen, Kamille und Johanniskraut siedeln. Dazwischen steckt immer wieder ein rostiger Bolzen seinen Kopf heraus oder irgendein anderes rostüberzogenes Teil, das in meiner Vorstellung vage mit dem Schienenstrang oder den Eisenbahnwaggons verbunden ist.
Am Ende dieses Plateaus ein Brückenkopf, neben dem Vogelbeerbäume in Augenhöhe wachsen, die Brücke selbst abgerissen, so dass über der Emscher eine riesige bunkerfarbene Zahnlücke klafft. Schnurgerade zieht unten die Emscher dahin, Möwen stoßen herab, schnappen sich etwas Braunes aus dem braunen Wasser, die Brückenköpfe starren straff und winkelig auf dieses Manöver, belebt jedoch von ein paar Vögeln, die in einen Spalt im Beton einfliegen und sich dort ihr Nest eingerichtet haben. Der Damm auf der gegenüberliegenden, in diesem Augenblick nur im Vogelflug erreichbaren Seite hat eine Länge von wenigen hundert Metern; wo ihn eine Straße durchtrennt, fehlt die Brücke ebenfalls, ein aufgewölbtes Rückgrat mitten im Gelände, Bruch- und Totholz ist den Hang abgestürzt, blieb liegen, verrottet übermoost: Natur, wie sie das Terrain zurückerobert, ohne die Vergangenheit zu begraben. Die intensivste Schnittstelle zwischen den Zeiten, die füreinander durchlässig werden.
Genaues Hinsehen belohnt den Beobachtenden. Nur wenige Meter vom Straßenrand entfernt entdecke ich eine Betonplatte, die mit Laub und kleinen Zweigen überdeckt ist und sich kaum über das Bodenniveau erhebt. Was zunächst eine Platte scheint, stellt sich als Dach eines Pumpenhäuschens heraus, das in die Erde eingelassen ist. Eine schmale, kaum mannsbreite Treppe führt hinunter, Wasser steht unten im Treppenabsatz, in dem sich das Gewirr der Äste spiegelt. Durch die einen Spalt weit offenstehende Metalltür schimmert aus dem Düster ein Rohr mit einem Drehrad. Wozu diente es? Regulierte es einen der vielen Zuflüsse der Emscher? Wann war zuletzt jemand hier? Wenn Traurigkeit ein Gesicht hat, dann dieses, das tümpelige Wasser am Treppenabsatz, die verwitterte Tür.
X. Der Friedhof Dorstfeld
Zeitfenster: Der Ortsteil wurde bereits um 882 in einem Werdener Urbar als dorstidfelde erwähnt. Dorstfeld lag am Übergang der Handelsstraße über die Emscher, 1345 urkundlich als Dorstfelder Helewege benannt. In der Nähe des kleinen Friedhofs befand sich später der Eingang zur Zeche Dorstfeld, hier soll Alfred Nobel zwischen 1860 und 1864 mit Sprengstoffen für den Bergbau experimentiert haben. Nicht weit vom Friedhof entfernt stand bis 1938 die Dorstfelder Synagoge, an die nur eine uninteressante Skulptur aus gelbem Gestänge erinnert. Gegenüber befindet sich das Schulte-Witten-Haus, Herrensitz einer alten Familie, die sich bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Auf dem Dorstfelder Friedhof ruhen deshalb in einem großzügig angelegten Grab, das sich hinter den repräsentativen Grabstellen der Fabrikbesitzer auf dem Dortmunder Ostfriedhof nicht verstecken muss, zwei Generationen Heinrich Schulte-Witten, beide, wie auf einer Tafel nicht ohne Stolz vermerkt ist, ihres Zeichens Fideikommissbesitzer.
Ortstermin: Würde ich nach einem Ort gefragt, an dem sich die Subtilität des Unscheinbaren am augenfälligsten verkörpert, fiele mir als erstes der Friedhof in Dorstfeld ein. Er steckt wie ein Keil zwischen den Straßen, ein manchmal ziemlich unbequemer Keil. Parallel zur Straße verläuft neben dem Friedhof die tiefergelegte S-Bahn-Strecke, wie ein Flussbett, aus dem in periodischen Abständen die Geräusche der vorbeifahrenden Züge hochschwappen, und auf der anderen Seite fließt in wenigen hundert Metern Entfernung die Emscher in ihrem ebenfalls künstlich tiefergelegten Bett und unterquert eine wahre Wildnis von alten und neuen Tunneln und Brücken. Der Friedhof ist vielleicht keine Insel der Ruhe, der Stille, aber er ist eine Insel der Zeitlosigkeit, während die Geschwindigkeit ringsum an ihr nagt, als wäre sie die gefräßige Zeit selbst.
In Nachbarschaft zu dem mit steingrauen ornamentierten Grabplatten und Stelen dicht belegten und von Grün dicht überwucherten Geviert, in dem sich das ausladende Schulte-Witten-Grab befindet, liegt der jüdische Teil des Friedhofs. Die zwei steinernen Pfosten, in denen noch die Angeln stecken, die aber so verrostet sind, dass sie jegliche Hoffnung auf Torflügel aufgegeben haben, könnten selbst Stelen sein, wären sie nicht schmuck- und namenlos. Weiträumig verteilt sind hier die – ich vermute einmal: wenigen verbliebenen – Grabsteine: die Rosenbergs, Rosenbaums und Baums, deren Namen wunderbar zu diesem kleinen, idyllischen Ort inmitten der Verkehrshektik passen.
Doch die Ruhe, die Totenruhe, ist nicht jeder Gesinnung heilig, und so treffen sich an diesem Ort, wie den Medien immer wieder zu entnehmen ist, hakenschmierende Rotten. Heute morgen jedoch scheint es, die hohen Bäume ringsum könnten solche Bilder ausradieren. Denn der Friedhofscharakter geht allmählich in einen Parkcharakter über, ein kleines Mausoleum steht unbeachtet, wer darin war, hat seinen Namen nicht an die Mauern schreiben lassen, ein gefällter, annähernd mannshoher Baumstumpf darf vor sich hinfaulen, und zwischen den Gebüschen oder einfach direkt am Wegrand, von der Grasnarbe fast zugewachsen, hier und dort Grabsteine, oft so verwittert, dass die Schriftzüge nicht mehr erkenntlich sind, die Namen, die Sprüche, mit denen die Hinterbliebenen ihre Wünsche den Verstorbenen mit auf den Weg gaben.