Die Beobachtende, Reflektierende und Phantasierende poetisiert eine Welt der Arbeit, des Spiels , der Freizeit – die Autorin zeigt dabei das Besondere ihres persönlichen Lebensbereiches an: denjenigen der Schriftstellerin im Ruhrgebiet.
Bettina Gundermann
»Treiben lassen«
Fotos: Sonja Maria Zahnberg
Es ist Samstag. Nicht irgendein Samstag, sondern ein: Heimspielsamstag. Und zwar in Dortmund.
Wir sind zu fünft: Zwei Frauen, zwei Männer, ein Hund. Die ersten zwei Stationen unseres Spaziergangs stehen fest: Der Hund muss rennen (Wald) und wir wollen das Spiel sehen (Kneipe). Danach wollen wir uns treiben lassen, denn ein allzu fester Plan entpuppt sich oft als Fessel; im Leben wie beim Schreiben.
Im Laufe des Tages wird sich mehr und mehr die Sonne zeigen, verspricht ein Radiosprecher.
Circa zweieinhalb Stunden vor Anpfiff stehen wir vom Frühstückstisch auf und ziehen los, der Himmel ist grau.
Der Prolog
Früher ging ich nicht spazieren, schon gar nicht in der Natur. Ich hing in ihr herum und zwar ausschließlich bei Sonnenschein und Wärme. Ich lag auf einer Decke am Kanal, von wo aus ich die Jugendlichen beobachtete, die von den Brücken ins Wasser sprangen. Arschbombe. Köpper. Salto. Sehr mutig, vor allem deshalb, weil das Wasser des Kanals nicht gerade verlockend ist, beispielsweise treiben manchmal tote Fische darin.
Ich saß auf einer Bank in einem Park, gern auch in einem von Bäumen gerahmten Biergarten oder in den Gärten anderer Menschen. Oft verließ ich selbst bei schönem Wetter nicht das Haus.
Vor eineinhalb Jahren zog Mathilda bei uns ein. Sie trug nichts außer ihrem Pelz am Leib und zu ihren großen Leidenschaften zählt, neben Fressen und unter den Achseln gekrault zu werden, wildes Toben im Freien.
Seit eineinhalb Jahren bin ich eine Spaziergängerin. Ich betrachte schlechtes Wetter nicht mehr durch eines meiner kleinen Fenster, sondern gehe durch es hindurch. Zum ersten Mal seit vierunddreißig Jahren besitze ich Gummistiefel. Ich weiß jetzt wieder, wie sich die Jahreszeiten anfühlen, wie sie riechen und klingen. Vermutlich hat jede Jahreszeit auch einen spezifischen Geschmack, aber ich bin nicht der Typ Mensch, der an Baumrinden leckt, wenn es nicht unbedingt sein muss.
Und ich weiß jetzt, dass Spazierengehen die Gedanken neu ordnen kann, Verwirrungen entknoten, dass das Voranschreiten Wut beschwichtigen und das Betrachten eines durch den Wald tollenden, pure Lebensfreude ausstrahlenden Hundes Traurigkeit mildern kann.
Der Wald
Aus Westernfilmen wissen wir, dass der Cowboy, bevor er sich im Saloon ein paar Bier genehmigt, sein Pferd versorgt. Es gilt also als erstes, den Hund zu versorgen, sprich: Ihn rennen zu lassen.
Wer Angst vor Hunden hat und keine Lust, diese in Form einer Konfrontationstherapie zu überwinden, der sollte die erste Station auslassen.
Denn in dem Wald nahe der Stadt, der den wenig klangvollen Namen „Bolmke“ trägt, wird das Freilaufen von Hunden geduldet: Der Wald ist frei von Ordnungshütern. Sie lauern weder hinter Bäumen, sie robben nicht plötzlich aus einem Gebüsch hervor, noch springen sie mit Fallschirmen aus Ordnungshüterflugzeugen. Folglich lässt hier jeder seinen Hund von der Leine.
Der Wald ist, geht man am äußersten Rand entlang, was nur möglich ist, wenn man die Hauptwege verlässt, in circa fünfundvierzig Minuten einmal umrundet. Es handelt sich also eher um ein Wäldchen als um einen anständigen Wald, in dem man sich verirren kann. Ich schätze, es gibt Millionen solcher mickriger Wäldchen. Dennoch ist dieses einzigartig, denn: Es wird bewacht von einer riesigen Spinne mit leuchtend gelben Beinen.
Die Spinne
Sie besteht aus 60.000 Kubikmetern Beton und 20.000 Tonnen Stahl. Sie ist in der Lage, 80.552 Menschen zu fressen, die sie allerdings immer wieder unverdaut, jedoch nicht selten ein wenig verändert (deprimierter als zuvor, fröhlicher als zuvor, gelangweilter als zuvor) ausspuckt.
Wer nicht in Metaphern spricht, nennt die Spinne „Signal Iduna Park“. Wer nicht in Metaphern spricht und obendrein die Bezeichnung „Signal Iduna Park“ grausig findet, nennt die Spinne Westfalenstadion.
Der langweilige Weg
Vom Feld aus, das den Wald im Süden einschneidet, sehen wir die spitzen Ellenbogen der riesigen Spinne in den Himmel stechen, als sei sie auf dem Sprung. Die Spinne ist hungrig.
Gesänge vermengen sich mit dem Gezwitscher der Vögel. Die immer gleichen Lieder in der fünften Stimmlage „Gröl“, geschmettert von den besten Fans der Welt. Der Wald färbt sich schwarzgelb. Drumherum erstes, noch zaghaftes Frühlingsgrün, endlich.
Mathilda trinkt aus dem Bach, die Sänger Bier aus Flaschen.
Die Spinne ist hungrig. Wir sind durstig.
Alle Wege, die vom Wäldchen zur Kneipe, unserer zweiten Station, führen, sind leider langweilig, unattraktiv, öd. Man hätte nicht weniger Spaß, durch ein Gewerbegebiet zu spazieren. Ich schaue mich um und sehe: Parkplätze, graue, klotzige Bauten, Schienen. Hier bliebe Konfuzius sein „Der Weg ist das Ziel“ im Halse stecken. Aber hier müssen wir nun mal lang.
Ich presse meine Schulterblätter gegeneinander, ich fliege schon mal vor, sage ich, bis zur Brücke. Ich hebe ab, Mathilda flattert mit den Schlappohren, sie will mir hinterher, aber sie ist jetzt angeleint, bis später, sage ich und schwebe davon, dank meiner gnädigen Flügel, die mir manchmal wachsen, wenn mir von außen Langeweile droht. Leider gelingt das nicht immer, aber glücklicherweise jetzt.
Ich drehe eine Runde über dem Stadion, ich nenne das Ding jetzt bewusst beim Namen, weil es von nahem nicht mehr wie eine Spinne ausschaut und aus der Vogelperspektive schon gar nicht. Die Südtribüne, ihres Zeichens größte Stehplatztribüne Europas, ist bereits gut gefüllt. Die Gesänge werden lauter, dazu der Sound von Trommeln, der mich bis zum Volksbad neben dem Stadion begleitet. Das Freibad meiner Kindheit, damals für mich ein Synonym für Sommer. Es ist noch keine Saison. Und dennoch rieche ich das Chlor, ich rieche den Geruch, der einem in die Nase steigt, wenn man eine Tupperdose mit Minifrikadellen öffnet. Ich rieche Pommes rot-weiß, Sonnencreme und warme Haut. Ich schließe die Augen und bin acht und gleich werde ich gedöppt.
Wie ich sehe, bist du immer noch hier!, rettet mich eine Stimme.
Ich öffne die Augen, schaue hinab und sehe einen runden Bademeister auf einem der Hochstühle hocken. Er winkt mir zu. Ich winke zurück.
Der Bademeister ruft in sein Megaphon: Ich dachte, du seiest jetzt Schriftstellerin und nicht mehr Kind!
Ist das nicht ein bisschen ähnlich?, rufe ich zurück.
Alle Schriftsteller wohnen heutzutage in Berlin, behauptet der Bademeister.
Das täuscht, rufe ich zurück.
Und? Was machst du gerade so?, will der neugierige Bademeister wissen.
Mich erinnern, rufe ich zurück.
Die Erinnerungen
Ein paar Flügelschläge weiter befindet sich die Eislaufhalle, daneben ein ebenfalls scheußlicher Hotelbau. Im Hintergrund das stetige Rauschen der Autos auf der B1, Abgase steigen zu mir empor.
Ich war nie eine Tänzerin auf dem Eis. Die ersten Runden drehte ich stets in der Nähe der Bande. Aber sobald ich mich einigermaßen sicher fühlte, gab ich Gas. Ich flitzte waghalsig an den anderen vorbei, natürlich schubste ich auch mal einen aus dem Weg, ich stürzte selten und nie fuhr mir jemand einen Finger ab, die größte meiner Sorgen während dieses Freizeitvergnügens.
In dem denkmalgeschützten Brocken namens Westfalenhalle 1 gleich neben der Eislaufhalle, lernte ich Gigagroßveranstaltungen unterschiedlichster Art kennen und im Laufe der Jahre hassen. Meine ersten Erfahrungen in der Halle 1 sammelte ich im Grundschulalter auf der in den Sommerferien stattfindenden, damals noch riesigen Kinderferienparty. Diese diente dazu, Kinder, die nicht in den Urlaub fuhren, zu bespaßen. Damals kamen noch tausende, es gab noch keine Computer. Ich war ein schüchternes Kind unter tausenden tobenden, kreischenden, rempelnden und sich Gummibälle an den Kopf werfenden anderen Kindern. Ich sehe mich reglos stehen, im bunten Trubel, ängstlich nach meiner Mutter Ausschau haltend.
Jahre später, ich war ungefähr dreizehn, erlebte ich in der gleichen Halle mein erstes Konzert. Ich war hingerissen, elektrisiert von dem Geschehen auf und vor der Bühne, fasziniert von der ungeheuren Lautstärke der Musik.
Vor gefühlten hundert Jahren war ich zum letzten Mal in dieser Halle. Die Konzerte, die ich inzwischen besuche, finden an anderen, kleineren Orten statt.
Ich fliege über Parkplätze, vorbei an den sieben kleinen Geschwistern der großen Halle. Unter mir taucht die Brücke auf. Hier endet der langweilige Weg, meine Flügel verlieren ihre Federn, ich sinke hinab.
Da hinten kommen die anderen.
Und? Hast du zauberhafte Fotos gemacht?, frage ich Sonja.
Auf die Kontraste kommt es an, antwortet sie. Nur schön ist langweilig und obendrein eine Lüge, zumindest in dieser Stadt, fügt sie hinzu und fotografiert wie aus Trotz noch irgendetwas Graues vor dem noch immer grauen Himmel.
Die Kneipe. Das Spiel. Ein innerer Monolog.
Wir überqueren die Brücke, gehen ein Stück die Lindemannstraße geradeaus, biegen rechts ab in die Kreuzstraße und befinden uns im Kreuzviertel. Hier stehen für Dortmunder Verhältnisse noch viele schöne alte Häuser. In diesen wohnen vorwiegend Lehrer. Trotzdem herrscht in den meisten Kneipen, die es hier zahlreich gibt, eine gute Atmosphäre. Eine besonders gute Atmosphäre herrscht natürlich in jenen Kneipen, in denen geraucht werden darf. Davon existieren bekanntlich nicht mehr allzu viele.
Seit es unsere Lieblingsfußballkneipe nicht mehr gibt, gehen wir gern ins „Spanish Blue“ (Essener Straße/ Ecke Arnecke Straße). Man darf sich von dem dämlichen Namen nicht abschrecken lassen, es ist hier durchaus sehr gemütlich. Im „Spanish Blue“ ergattert man um diese Zeit – eine Stunde vor dem Spiel – im Vergleich zu anderen Kneipen meist noch einen freien Platz. Vielleicht liegt das daran, dass man hier bis zum Schluss nicht weiß, ob es dem jeweiligen Kellner gelingt, den richtigen Kanal zu aktivieren.
Wir haben Glück, pünktlich zum Anpfiff hat der Kellner mithilfe eines Gastes die richtigen Knöpfe in der richtigen Reihenfolge gedrückt. Die Gäste, die noch nicht gegangen sind, applaudieren und bekommen als Dank für ihr Vertrauen ein Bier ausgegeben.
Mathilda rollt sich unter dem Tisch zusammen. Das Spiel beginnt. Ich zünde eine Zigarette an und schaue mich um.
Warum, so frage ich mich nicht zum ersten Mal, gehe ich an manchem Spieltag freiwillig in eine Kneipe, in der fast alle Gäste Fußball gucken? Zwar kann ein spannendes Spiel auch mich begeistern, aber die meisten finde ich nicht besonders aufregend. Das liegt vermutlich daran, dass ich kein bester Fan der Welt bin. Was genau mache ich also, während die anderen genau das tun, was sinnvoll erscheint, wenn man an einem Spieltag in eine Dortmunder Kneipe geht?
Ich zücke den Stift und notiere: Ich bin unter Menschen und trotzdem beinahe unsichtbar. Keiner beachtet mich. Alle heben den Blick in eine Richtung. Ausgenommen drei Frauen am Nachbartisch, die intensiv lästern: Marina ist ein garstiger Mensch und ihr Typ namens Bert baggert, sobald er besoffen ist, jede Frau an, nur Marina nicht. Vermutlich ist sie deshalb so unausstehlich, sagt eine der Frauen.
Ich notiere: Ich kann nicht nur ungestört beobachten, sondern auch sehr heimlich Gesprächen am Nachbartisch zuhören. Zu diesem Zweck imitiere ich Konzentration auf das Spiel. Und? Ist es das, was mich interessiert? Eine Marina? Ein Bert? Wohl kaum. Macht es mir vielleicht einfach Spaß, in Geselligkeit meinen Gedanken nachzuhängen?
Die ohrenbetäubende Werbung verhindert leider, mich weiter mit der Frage meines Hierseins auseinanderzusetzen.
Was notierst du dir?, fragt Andreas.
Dass ich vom Thema abkomme, sage ich.
Gen Norden
Dortmund! Was für eine Stadt! Wir haben gerade das Spiel gewonnen! Alle küssen und umarmen sich. Der Kellner wird von ein paar besonders ausgelassenen Fans spontan ein paar Mal in die Luft geworfen. Das stimmt natürlich nicht, Entschuldigung, zuweilen packt mich eine unerklärliche Euphorie, die mich in grelle Fantasiewelten katapultiert.
Durch das geöffnete Fenster dringt erstes Gehupe. Dortmunder hupen nicht nur bei Meisterschaften.
Wohin geht’s?, fragt Lars, glühend vor Begeisterung über unseren Sieg.
Gen Norden!, rufen Sonja und ich gleichzeitig. (Ich, weil ich die Überschrift soeben aufgeschrieben habe und Sonja, weil sie meine Notiz verbotenerweise gelesen hat).
Wir gehen die Arnecke Straße schnurstracks geradeaus. Und schaut nur! Der Radiosprecher hat nicht gelogen, da ist sie ja. Die Sonne!
Flink stellen die Wirte Tische und Stühle raus, auch die muffigsten Akademiker verlassen, ihr Näschen in die milde Luft reckend, ihre Häuser. Die ersten Fans, die im Stadion waren, gesellen sich dazu. Ein bunt gemischtes Völkchen, möchte man meinen, aber es geht bunter; gen Norden. Dort, wo die Arneckestraße endet, biegen wir links ab, dann sofort wieder rechts, wir stehen auf der Möllerbrücke, schauen hinab auf die Schienen. Eine S-Bahn hält, ein junges Pärchen steigt aus. Sie Barbie, er Ratte. Sonja macht ein Foto, die Ratte winkt.
Wir überqueren die Lindemannstraße und gegenüber dem Rewe, der nicht zu übersehen ist, da er sich in einem extrem grässlichen Gebäude befindet, ist der Westpark.
Es ist Samstag. Dortmund hat gewonnen, die Stadt swingt. Die Sonne scheint. Es ist warm. Was ist zu tun, wohnt man in dieser Gegend, hat aber trotzdem keinen Balkon, keinen Garten, keinen Hinterhof, den man mit frohlockenden Designstudenten teilt und gemeinsam begrünt, wohin, ist man nicht allzu misanthropisch gestimmt und hat Lust mit ein paar Leuten unter ein paar Leuten zu sein? Zum Beispiel geht man in den Westpark.
Jeder Park in dieser Stadt hat sein eigenes Gesicht, ein anderes Flair, ach, ich könnte hier jetzt locker eine kleine Abhandlung sämtlicher Dortmunder Parks einfließen lassen, aber dann müssten wir die ganze Nacht spazieren gehen. Warum eigentlich nicht?
Habt Ihr Lust, von Park zu Park zu gehen?, frage ich in die heitere Runde.
Wie?, fragt Sonja.
Dass das unser Thema ist: „Dortmunder Parks“, erkläre ich.
Nein, sagen die Männer.
Hast du sie noch alle?, fragt Sonja.
Mir würde es nichts ausmachen, ich bin eine wahre Spaziergängerin und der Grund dafür zerrt an der Leine, will einem Karnickel hinterher.
Der Westpark also: Bei schönem Wetter liegen all überall auf den Wiesen Menschen herum. Manche bringen ihre Hunde mit. Manche Hunde scheißen auf die Wiesen und manche Menschen räumen die Scheiße nicht weg und manchmal breiten wieder andere Leute nichts ahnend ihre Picknickdecke über einem dieser Haufen aus. Seit es eine Hundewiese im Westpark gibt, passiert das aber angeblich deutlich seltener.
Im Westpark grillen die Menschen gern und oft. An wirklichen Sommertagen qualmt der Park. Einige bringen Instrumente mit. Gern Trommeln und Gitarren. Manch einer singt auch, stets versuchen sie Bob Dylan oder Bob Marley nachzuahmen. Warum? An Sommertagen segeln hier Frisbeescheiben durch die Luft, junge Leute, vermutlich Philosophiestudenten, balancieren auf Gummibändern oder werfen weiche Bällchen empor, die sie mit dem Fußrücken sanft auffangen.
Der Park eignet sich neben diesen Freizeitaktivitäten aber auch hervorragend als Trainingsgelände für Drogenspürhunde. Nicht selten reiten oder fahren Polizisten durch diese grüne Oase, die Nord und Süd berührt, um zu prüfen, ob jemand zwecks Hundetrainings Dope-Köder in den Gebüschen versteckt. Das ist verboten. Hierfür gibt es Polizeihundeschulen und dazugehörige eingezäunte Trainingsgelände. Es ist erst recht verboten, wenn der zu trainierende Hund nirgends zu sehen und der Trainer kein Polizist ist.
Gib mir deinen Hund, sagt auch prompt ein pickeliger Typ mit Baseballkappe und reißt an der Leine.
Nein, sage ich, hör auf.
Ich will ihn nur ausleihen, die Bullen fragen nach meinem Hund, den ich gerade trainiere, und ich hab gar keinen.
Führst du Selbstgespräche?, fragt Andreas mich und der Kleine mit der Kappe flitzt davon. Die Reiterstaffel hinterher.
Legale Drogen erwirbt man entweder an dem Kiosk ein paar Meter außerhalb des Parks oder im Biergarten im Park. Bei anhaltend gutem Sommerwetter tragen sowohl der Kioskbetreiber als auch der Biergartenbesitzer Kronen aus Gold. Es heißt, dass den Besitzer des Biergartens gegen Ende der Fußball-WM zusätzlich ein Collier aus Diamanten zierte.
Da die Sonne uns nun schon mal hierher gelockt hat, beschließen wir spontan, ein Bier zu trinken.
Neben uns spielen alte Männer und junge Säufer friedlich Boule. Mütter zanken sich im Sandkasten um ein Förmchen, das ein ca. zweijähriger Mensch einem anderen Menschen gleichen Alters gestohlen hat.
Mal ehrlich, was kann es manchmal Schöneres geben, als unter freiem Himmel herumzusitzen und zwar ohne zu frieren, sich einwabern zu lassen vom Nichtstun, vom Geschwätz fremder Menschen; nichts anderes wollen, nichts anderes verlangen, nichts grämt, die Gedanken umschlittern elegant die trüben Themen.
Wir trinken jeder ein paar Bier und sind von nun an betrunken.
Der Weg ist der Weg. Das Ziel ist das Ziel.
Ich habe schon wieder übertrieben. Natürlich sind wir nicht betrunken. Aber wir sind angesichts der Tatsache, dass wir seit dem Frühstück nichts gegessen haben auf dem besten Weg dorthin. Ich bin also nicht nur Übertreiberin, sondern auch Hellseherin.
Wollt ihr noch eins?, fragt die stets traurige Kellnerin.
Eins noch, sagen wir.
Vielleicht sollten wir beizeiten auch mal feste Nahrung zu uns nehmen, gebe ich zu bedenken.
Wohin also? Ist heute vielleicht ein Feiertag?
Lars: Aber ja. Dortmund hat gewonnen.
Sonja: Natürlich, die Sonne scheint.
Andreas und ich gleichzeitig: Ins Sissi King Kong?
Wir trinken auf das Leben und die Liebe und die Feiertage.
Der direkte Weg zum „Sissi King Kong“ ist auf andere Art hässlich als der langweilige Weg von vorhin. Man darf also gespannt sein, wie ich diesmal die kniffelige Aufgabe löse, die Tristesse zu poetisieren.
Man geht einfach geradeaus weiter geradeaus, durchquert den ganzen Park, an der Hundewiese vorbei, raus aus dem Park.
Wir überqueren die Rheinische Straße. Rechts liegt ein paar hundert Meter entfernt die Fußgängerzone, man meide sie.
Auf der anderen Seite ist die Unionstraße, die müssen wir lang, Richtung Hafen. Ich presse meine Schulterblätter aneinander. Aber das Schweben funktioniert nicht. Ich raufe mein Haar. Sonja hingegen hat ihren nächsten kreativen Schub. Ach nein, was ist das alles hässlich hier, ruft sie voller Begeisterung.
Was würdest du darüber schreiben?, frage ich.
Schreib, dass sich in der roten Garage rechterhand das FZW befindet und keine Traktorausstellung. Schreib, dass das ein Club ist, in dem du hin wieder auf Konzerte gehst. Schreib, dass man von hier aus eines der Wahrzeichen der Stadt sieht: Das „Dortmunder U“. Schreib, dass das U deswegen U genannt wird, weil das Gebäude, auf dem der goldene Buchstabe hockt, früher Gär- und Lagerhochhaus der Union-Brauerei war und dass dort jetzt ein Zentrum für Kultur ist. An dieser Stelle könntest du genauer auf den Strukturwandel im Ruhrgebiet eingehen.
Und dann?
Dann schreibst du, mischt sich jetzt Andreas ein, dass man an eine Brücke gelangt, über die führen Schienen, schreib, dass eine zweite Brücke mit nur wenig Abstand folgt, über die fahren ebenfalls Züge. Füg hinzu, dass die Unionstraße eine große, viel befahrene Straße ist. Schreib, dass genau zwischen diesen Brücken die Übernachtungsstelle für Wohnungslose ist. Und, sagt er, schreibe, dass ich das unsäglich finde.
Ich habe es geschrieben. Ich finde ja auch, immer nur alles schön zu reden, bringt auf Dauer nichts.
Ab hier sagt man in Dortmund: Jetzt sind wir im Norden.
Das klingt ein wenig nach geteilter Stadt und so ist es auch. Es gibt sie auch hier, die schönen alten Häuser, aber sie sind nicht so gut erhalten wie jene im Kreuzviertel. Hier ist es wirklich bunt, hier leben die meisten Menschen mit ausländischen Wurzeln, die meisten Arbeitslosen, man findet hier ebenfalls Studenten, aufgrund der niedrigen Mieten, Junkies, Prostituierte, Säufer, viele Kinder. Auch hier gibt es empfehlenswerte Kneipen, hier sind die zwei besten Kinos der Stadt (Camera & Roxy), im Sommer findet das Leben auf der Straße statt und zwar mit Kind und Kegel, die Kioske im Norden haben die besten Preise.
Die so genannte freie Szene findet hier statt. Ich sage das, weil wir gerade am Künstlerhaus vorbeigehen, die Unionstraße heißt jetzt Sunderweg.
Wir biegen rechts in die Blumenstraße und dann sofort links in die Landwehrstraße ab.
Da vorne ist unser Ziel, das „Sissi King Kong“. Mathilda wedelt mit dem Schwanz.
Das Versacken
Wir sitzen am offenen Fenster. Mathilda vor der Küche. Sie hat Glück, Nino arbeitet heute. Er hat ihr beigebracht, dass sie nicht in die Küche darf und wenn sie fein so sitzen bleibt, bekommt sie ab und an ein Leckerchen zugeworfen, das sie mit einem lässigen Schnapp auffängt und unzerkaut hinunterschluckt.
Auch wir haben Glück, denn heute arbeitet auch der besonders freundliche Kellner.
Der Chef ist der Koch. Er versteht es, fantastische Speisen zu zaubern. Ich habe hier noch nie etwas gegessen, was nicht geschmeckt hat. Hier gibt es meinen Lieblingsdip (Mandelknoblauch), hier gibt es leckeren Wein und sogar die Musik, die gespielt wird, ist meistens genau nach meinem Geschmack. (Nein, ich bin nicht mit dem Chef verwandt oder sonst was.)
Am Tresen und am offenen Fenster darf man rauchen, die Gäste sind entspannt, das Essen macht glücklich.
Man kann hier astrein abhängen. Musik hören. Den Tag Revue passieren lassen, über die Stadt, in der man lebt, nachdenken, den Hund betrachten.
Versacken.