Leselampe

2023 | KW 34

© Jewgeni Roppel

Buchempfehlung der Woche

von Claudia Schumacher

Claudia Schumacher wurde 1986 in Tübingen geboren und lebt heute als Schriftstellerin in Hamburg. Sie studierte in Berlin, lebte einige Jahre in Zürich, und arbeitete als Journalistin. Ihr Debütroman Liebe ist gewaltig erschien 2022 bei dtv und wurde mehrfach ausgezeichnet.

Claudia Durastanti
Die Fremde
(Roman), Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2021.

"Ich fürchtete, jemand könnte mich als das erkennen, was ich war: eine, die sich eingeschlichen hatte.“ — Claudia Durastanti, „Die Fremde"


Oh, another Claudia! — Ich lernte meine Namensvetterin Claudia Durastanti im Frühjahr in der Küche des Literarischen Colloquiums Berlin kennen. Schnell stellten wir fest, dass wir mehr teilen als den Vornamen und das Stipendium am LCB. Beide hatten wir jedes Buch von Zadie Smith gelesen, und überhaupt: Auf der Grundlage geteilter Lektürevorlieben hätten wir die Zeit vergessen können (wären da nicht unsere eigenen neuen Bücher gewesen, die geschrieben werden wollen). Gegen Ende unserer Berlin-Zeit kaufte ich mir Durastantis letzten Roman La straniera in der deutschen Übersetzung von Annette Kopetzki: Die Fremde.

Bücher von Kolleg:innen kaufen, die ich zufällig irgendwo kennenlerne; das mache ich oft. Es hat mit allgemeiner Neugier auf Menschen zu tun, aber auch mit Kollegialität und Höflichkeit. In der Regel bereue ich diese Zufallskäufe nicht. Selbst, wenn sie nicht meinen Geschmack treffen, kann ich ihnen meist etwas abgewinnen, weil ich ja die Autorin oder den Autor ein wenig kennengelernt habe. Was mich weniger packt, kann ich an jemanden verleihen oder verschenken, der vielleicht mehr damit anfangen kann. Die Fremde aber ist in mein Bücherregal eingezogen.

Eine Geschichte, die zweimal beginnt: Mit einer Frau, die einen Mann rettet, der sich in Trastevere vom Ponte Sisto stürzen will. Und mit einem Mann, der ebendiese Frau am Bahnhof Trastevere vor einem Überfall rettet. „Als sie am nächsten Tag mit ihren Freundinnen aus dem Schultor kam“, schreibt Durastanti: "sah sie ihn am Straßenrand stehen, mit verschränkten Armen an ein Auto gelehnt, das ihm nicht gehörte, und in dem Moment begriff sie, dass sie geliefert war. Ich habe sie immer um den mystischen, finsteren Ausdruck beneidet, mit dem sie das erzählt, diese Apokalypse habe ich ihr nie gegönnt.“

Durastantis Roman ist autofiktional. Der Mann und die Frau sind ihre Mutter und ihr Vater. Die Autorin ist Tochter gehörloser Eltern. Was Gebärdensprache zu Durastantis eigentlicher Muttersprache macht. Eine ungewöhnliche Sprachherkunft für eine Autorin.

Ungewöhnlich — und für uns Leser:innen dennoch einfühlbar erzählt — ist alles an dieser Geschichte, diesen Eltern: „Sie sprachen die gleiche Sprache aus Röcheln und zu laut ausgestoßenen Worten, doch es war ihr Verhalten, das die Blicke auf der Straße anzog. Sie schubsten die Passanten, ohne sich umzudrehen oder um Entschuldigung zu bitten und boten ein Bild der Verschiedenheit: Er hatte hellbraune Haare, einen vollen Mund und ebenmäßige Gesichtszüge, sie reichte ihm kaum bis zu den Schultern und sah aus wie direkt dem Stützpunkt einer Guerillatruppe im Dschungel entsprungen.“

Ein tief berührender Roman, durchzogen vom Gefühl des Andersseins und der Fremdheit (auch von der faktischen, migrantischen). Geschrieben von einer Autorin, die im Verlauf ihrer Geschichte selbst zunehmend zur Protagonistin wird. Auf dem roten Cover: eine Frau, den Kopf gegen die Wand.

Ich werde diesen innerlich und äußerlich schönen Roman nicht verleihen, tut mir leid. Falls Sie ernste und poetische Texte lieben, oder falls Sie sich für schwierige Familien, für Süditalien oder Brooklyn, für Armut oder Gewalt, für Sprachlosigkeit oder Sprachfindung interessieren, sollten Sie Die Fremde selbst dauerhaft im Regal stehen haben. 

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