Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Roman Ehrlich

Roman Ehrlich, geb. 1983 in Aichach, aufgewachsen in Neuburg an der Donau, studierte am Literaturinstitut in Leipzig und debütierte 2013 mit dem Roman Das kalte Jahr (DuMont). 2014 erschien sein Erzählungsband Urwaldgäste. 2017 folgten mit Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens (S. Fischer Verlag, 2017) und Malé zwei weitere Roman (2020).
Gemeinsam mit dem Fotografen Michael Disqué wurden die Bücher Das Theater des Krieges und Überfahrt ( beide bei Spector Books, Leipzig 2017 u. 2020) veröffentlicht.

Pier Paolo Pasolini
Petrolio
Roman, Aus dem Italienischen von Moshe Kahn, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015.

Ich schreibe diese Empfehlung aus der Mitte des Lesens heraus. Es geht hier also um eine noch nicht abgeschlossene Lektüre. Aber es geht eben auch um ein nicht abgeschlossenes Buch, weshalb es mir doch passend erscheint. Pier Paolo Pasolini konnte Petrolio nicht seinen Vorstellungen entsprechend beenden, bevor er 1975 ermordet wurde. Das Buch selbst, sein Aufbau, seine Form und die Phänomene und Gegenstände, die es umkreist, legen aber die Vermutung nahe, dass es ohnehin, auch ohne die Ermordung des Autors, kein Ende hätte finden können, dass es für diese Art Text vielleicht kein Ende zu finden gibt, was mir wiederum sehr verwandt und sympathisch ist, weil mir die Enden immer schon suspekt waren und das erste, was ich von einem Buch vergesse. Das Schreiben des Buches Petrolio ist im Buch Petrolio ständig Thema – kommende Passagen, der Fortgang der Handlung, Beschreibungen von Gesellschaften werden stichpunktartig angerissen und aufgelistet, aber auch die Fragen und Probleme beim Schreiben werden direkt thematisiert, obwohl kein schreibender Mensch wirklich Protagonist der Handlung ist. Das ganze Buch besteht aus „Anmerkungen“, die fortlaufend nummeriert die übliche Kapitelstruktur ersetzen und eine Art Herausgeberfiktion darstellen: ein Roman, der in Vorbereitung, im Entwurfstadium aufgefunden und als kommentierte Fragmentsammlung veröffentlicht wird. Und wegen dieser Prozesshaftigkeit des gesamten Aufbaus des Buchs scheint es mir auch nicht problematisch, aus dem Prozess des Lesens heraus, bei sozusagen noch angeknipster Leselampe, hier eine Empfehlung zu schreiben, in Unkenntnis einiger hundert Seiten, die noch kommen. Die Poetologie, die irgendwo am Anfang des Buches in einen Satz gefasst ist, ist mir an diesem Punkt vertraut und verwandt genug: »Kein Roman wie ein Bratspieß, eher wie Gewimmel oder auch wie ‚Kebab‘«. Wie für Pasolinis Filme müssten wohl auch für dieses Buch verschiedene Triggerwarnungen ausgegeben werden, was sexuelle Perversion, Gewalt, N-Wort-Nutzung und vieles mehr angeht. Wahrscheinlich zählt es auch zu den Büchern, die so heute nicht mehr geschrieben und auch nicht mehr verlegt würden. Am besten gefällt mir und am meisten berührt mich der Text aber eh da, wo der Versuch unternommen wird, das sinnlich Wahrnehmbare der gegenwärtigen Welt zu beschreiben, die für Pasolini eine von Verschwinden und Entzauberung geprägte Welt gewesen sein muss. Ein konformistischer, ich-besessener Konsumismus verschlingt hier eine Art phantastisches Ideal, als wäre das Buch aus dem Zentrum des Nichts in Michael Endes Unendlicher Geschichte heraus geschrieben, wo alle Geschichten und Fabeln, Wesen und Figuren hineingeraten, um als Lügen in der wirklichen Welt wieder herauszukommen. Und doch sind die Beschreibungen auch der hässlichen, verwandelten Welt genau, präzise, schön auf ihre Weise und bewahren damit im Schreiben, im unabgeschlossenen Prozess, etwas von der verlorenen Welt, ohne nostalgisch, konservativ oder reaktionär zu sein.

»Also gut, diese gedruckten, aber unlesbaren Seiten wollen auf äußerste Weise – die jedoch auch symbolisch für das ganze Buch gilt – meinen Entschluss verkünden: der darin besteht, keine Geschichte zu schreiben, sondern eine Form zu konstruieren […]: eine Form, die schlicht in ‚etwas Geschriebenem‘ besteht.«

»Auch wenn ich es nicht entschieden und gewollt hätte, so musste das Geschriebene – wenn vielleicht auch nicht lexikalisch oder formal – zwangsläufig ein ‚neues Spiel‘ sein: denn alles in ihm ist gewichtige Allegorie, geradezu mittelalterlich (eben unlesbar). Dieser Aufgabe muss ich nachkommen. Und der Leser möge es mir nachsehen, wenn ich ihn mit derlei Dingen langweile: aber ich lebe nun einmal die Genesis meines Buchs.«

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