von Bradley Schmidt
Bradley Schmidt, Jahrgang 1979, ist in einem kleinen Dorf im ländlichen Kansas aufgewachsen und wurde stark von der mennonitischen Gemeinde seiner Familie geprägt. Nach einem abgebrochenen Medizinstudium verbrachte er 2000 ein Austauschjahr in Marburg, wo er dann Germanistik, Philosophie und Theologie studierte. Seit 2009 ist er freiberuflicher Übersetzer mit dem Schwerpunkt auf deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Lyrik. Zu den von ihm übersetzten Autor·innen gehören Ulrike Almut Sandig, Anna Kim, Lutz Seiler, Kerstin Preiwuß, Philipp Winkler, Isabelle Lehn und Lea Schneider. Aktuell arbeitet er an der Übersetzung von »Nachtbeeren« von Elina Penner. Bradley Schmidt lebt in Leipzig.
Rachel Yoder
Nightbitch
(Roman); Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023.
Cave canem! „Die Mutter war eine Mutter, aber dann eines Nachts wurde sie zu etwas anderem.“ Am Anfang mutet dem Erstlingsroman der Autorin Rachel Yoder etwas Märchenhaftes an. Die Hauptfiguren bleiben namenlos, sind nur „die Mutter“, „ihr Mann“ und „das Kind“ und wohnen in einer Kleinstadt im mittleren Westen der USA. Trotzdem könnte das Buch auch in Deutschland spielen. Der Ehemann ist Ingenieur, hat wenig Verständnis für Gefühle, lässt seine Frau und seinen Sohn oft allein, wenn er für eine Woche auf Dienstreise geht. Die Mutter war früher eine erfolgreiche Galeristin, geht jetzt aber ganz in der Mutterrolle auf. Das zweijähriges Kind spielt gerne mit Zügen und bleibt lange wach. Und irgendwann merkt die Mutter, dass ihr eine Art Pelz zu wachsen beginnt.
Doch ganz allein ist die Mutter nicht. Die Unruhe über ihre Verwandlung führt sie zur Kleinstadtbücherei. Dort trifft sie auf eine Gruppe anderer Mütter, die sogenannten Bücherbabys, aber ihre performative Zufriedenheit und Positivität findet sie abstoßend. Durch Zufall stößt sie auf eine Art Bestimmungsbuch namens Verzeichnis der magischen Frauen aus den 70er Jahren. Darin liest sie von Müttern, die sich nachts verwandeln. Sie und ihr Kind geben sich dem „Hundspielen“ hin, bellen sich an, verschlingen das Essen im Restaurant. Des Nachts wird die Mutter zur Hündin, läuft nackt auf allen vieren durch die Nachbarschaft, findet Gemeinschaft in einem Rudel.
Vor zehn Jahren nahm ich sechs Monate Elternzeit, ging mit meinem Sohn zu Krabbelgruppen, habe mich zu Kinderwagenspaziergängen verabredet. Oft war ich der einzige Mann in der Runde. Ohne meine Erfahrungen damals allzu sehr zu vereinfachen, schienen viele Mütter meiner Kohorte in der Falle zu sitzen: Sie leisteten Unglaubliches und konnten gleichzeitig nie allen Erwartungen gerecht werden. Und die Frauen sind oft damit alleine gelassen. Die Mutter in Rachel Yoders irrsinnig witzigem Roman überführt die weit verbreitete Wut und Verzweiflung über diese Situation in ein Gedankenexperiment, das die Schranken des Realismus überschreitet und mich an Angela Carter erinnert. Was wäre, wenn man aufhörte, sich den Kopf zu zerbrechen und einfach zum Tier würde? Nightbitch zeigt uns, wie kathartisch und wahnsinnig witzig das wäre.
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