Leselampe

2023 | KW 39

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Buchempfehlung der Woche

von Doris Akrap

Doris Akrap, 1974 als jugoslawische Staatsbürgerin geboren, wuchs in Flörsheim am Main auf. Sie studierte südosteuropäische Geschichte, Religions- und Kulturwissenschaften. Seit 2008 wirkt sie bei der Tageszeitung taz sowie als Moderatorin von Literatur-, Gesellschafts- und Politikpodien, Rezensentin und Autorin. Doris Akrap war 2012 zusammen mit 7 Journalisten Mitbegründerin der Leseshow "Hate Poetry", bei der im Stile eines Poetry Slams rassistische Leserbriefe vorlesen wurden. 2014 wurden alle zusammen vom Medium Magazin in der Kategorie „Sonderpreis“ als Journalisten des Jahres 2014 ausgezeichnet. Für Deniz Yücel, mit dem sie zusammen das Abitur abgelegt hatte, organisierte sie während dessen einjähriger Inhaftierung in der Türkei zusammen mit dem Freundeskreis #FreeDeniz Solidaritätsaktionen. Zudem gab Akrap den Sammelband Wir sind ja nicht zum Spaß hier mit Yücels Texten heraus, der am Jahrestag seiner Inhaftierung und zwei Tage vor seiner Freilassung im Februar 2018 erschien. Im Juni 2022 gehörte Doris Akrap zu den Gründungsmitgliedern der Schriftstellervereinigung PEN Berlin.

Tijan Sila
Radio Sarajevo
Hanser Berlin, 2023.

Vor einigen Jahren wies mich ein Kollege auf Tijan Silas Debüt hin: „Das könnte dich interessieren, der kommt aus Bosnien.“ Ich stöhnte: „Schon wieder Bosnien, schon wieder Krieg, weiß nicht.“ Als ich dann auf dem Klappentext las, dass Sila in Kaiserslautern Berufsschullehrer ist (und nicht Schreibschulabsolvent in Berlin oder Leipzig, war ich allerdings sofort Feuer und Flamme. Ich las sein Tierchen Unlimited (es spielte in der Pfalz und nicht in Bosnien), war begeistert, besuchte ihn in Kaiserslautern und schrieb ein Porträt über ihn.
Im August hat Sila seinen mittlerweile vierten Roman veröffentlicht. Radio Sarajevo spielt nun tatsächlich in Bosnien und handelt vom Krieg, genauer von der Zeit zwischen dem Kriegsausbruch in Sarajevo 1992 und der Flucht der Familie Sila nach Deutschland 1994. Der 1981 geborene Sila erzählt von seinem 9-Jährigen Ich und das mit einer erzählerischen Dichte und sprachlichen Kunstfertigkeit, die außergewöhnlich ist.
Bald nach Kriegsbeginn geht das Essen aus. Doch dem 9-Jährigen erscheint viel bedrohlicher, dass die Batterien aus sind und er kein Radio mehr hören kann. Und so erfahren wir wesentlich mehr darüber, wie er es geschafft hat, in der belagerten Stadt an Batterien zu kommen als darüber, wie seine Eltern es schafften, etwas zum Essen zu organisieren. Verrohung und Verrat ziehen sich als Motive durch die ganze Erzählung. Groß ist Silas Erzählung nicht wegen der Präsenz der Gewalt und der Dinge, die er erzählt, sondern weil der Ausschnitt, den er zum Erzählen wählt, klein ist. Sila findet die richtige Lautstärke, um das zu Gehör zu bringen, was sonst im Kriegserinnern und unter Kriegserklärern untergeht. Radio Sarajevo macht aber auch noch eines drastisch deutlich: Für Menschen, die einmal Krieg erlebt haben, endet er niemals.

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