Leselampe

2023 | KW 45

© Mareike Harder

Buchempfehlung der Woche

von Anne Sauer

Anne Sauer studierte Buchwissenschaft und Philosophie in Mainz und arbeitete danach in verschiedenen Verlagen im Bereich Presse, Marketing & Vertrieb. Für die Ausbildung zur Texterin an der Hamburg School of Ideas zog sie 2014 in den Norden, wo sie anschließend kreative Kampagnen für Kunden konzipierte. Heute lebt sie als freie Autorin, Moderatorin und Podcasterin in Hamburg. Über Literatur spricht sie am liebsten auf ihrem Instagram-Account @fuxbooks, im Podcast „MONATSLESE“ mit Tina Lurz oder in der Buchhandlung Lüders. 2022 erhielt sie den Young Excellence Award der Börsenverein Group.

Tess Gunty
Der Kaninchenstall
(Roman), Aus dem Amerikanischen von Sophie Zeitz, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.

Es gibt viele Gründe, warum ich mich keine Sekunde lang ernsthaft dagegen sperren konnte, Tess Guntys Debütroman Der Kaninchenstall lesen zu wollen. Ich zähle sie kurz auf:


  1. Sie gewann damit als bisher jüngste Autorin (geboren 1993) den National Book Award.
  2. Das Cover der deutschen Übersetzung von Sophie Zeitz knallt richtig rein, was deshalb ...
  3. ... auch optisch inmitten aller Sommer- und Herbstnovitäten im Buchhandel sofort eine magnetische Anziehungskraft auf mich ausübte.
  4. Das Setting ist ein heruntergekommenes Mietshaus, der Kaninchenstall: Ein mehrstöckiges, schäbiges Gebäude, dessen dünne Wände sich nur bedingt zwischen die Leben seiner Bewohner·innen schieben. Das sind z.B. Joan Kowalski, eine grundeinsame Frau, die hauptberuflich Online-Nachrufen editiert. Da ist auch eine Mutter, die sich vor den Augen ihres Neugeborenen fürchtet, sowie ein altes Ehepaar, das tote Mäuse auf seinem Balkon findet und Rachepläne schmiedet. Außerdem: Die Mitbewohner der Hauptfigur Blandine, drei Jungs namens Todd, Malik und Jack, allesamt Pflegekinder und ausnahmslos verknallt in die geisterhafte und mysteriöse junge Frau mit den aschblonden Haaren und der glühenden Obsession für Hildegard von Bingen.
  5. Ein spannender Ort des Geschehens: Vacca Vale, Indiana - eine fiktive Stadt, die Tess Gunty stark an ihre Heimat South Bend anlehnt, wo 1963 die Schließung der Automobilfabrik „Studebaker“ tausende Menschen in den existenziellen Abgrund riss.
  6. Es ist ein amerikanischer Roman übers Scheitern, über sich niemals erfüllende Träume und das Festhalten an der Hoffnung auf Freiheit. Und während mich klassische Heldenreisen mit Happy End überhaupt nicht interessieren, habe ich ein Herz für die an den Rand gedrängten, für die Geschichten, die nicht unbedingt gut ausgehen.

Es war also klar, dass ich dieses Buch lesen muss. Was ich vorher nur grob ahnte: Dass hier eine Geschichte lauert, die krass, abgefahren und unberechenbar ist. Womit ich belohnt wurde: Mit 416 Seiten großartiger Literatur, mit verschiedenen Perspektiven, Stilen, Stimmen - und mit so viel Gleichzeitigkeit, wie sie nur das Leben parat hält. Es ist humorvoll und kurios, heftig und melancholisch. Und ich glaube, ganz viel davon ist wahr. Tess Gunty schreibt von Figuren, die alle auf ihre Weise von einer ökonomischen Krise zehren, die sich wie ausgelaufenes Öl durch die Leben mehrere Generationen zieht. Und diesem Öl, diesen klebrigen, stinkenden, aber in der Sonne glitzernden Schlieren zu folgen, ist simpel gesagt ein großer Genuss.

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