Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Jeff Schinker
Luxemburgischer Schriftsteller (2015 veröffentlichte er die Novelle „Retrouvailles”, Hydre Éditions), Literaturveranstalter und Journalist. Seit 2010 arbeitet er an einer Doktorarbeit mit dem Titel "Les mondes (im)possibles du roman contemporain".

Kazuo Ishiguro
Als wir Waisen waren
(Roman); Aus dem Englischen von Sabine Herting, Albrecht Knaus Verlag, München 2000

Bei "When We Were Orphans" handelt es sich um Ishiguros ersten Ausflug in die Genreliteratur. Das Werk ist dabei genauso wenig und genau so viel Kriminalroman wie später "Never Let Me Go" Sciencefiction und "The Buried Giant Fantasy" sein werden. Detektiv Christopher Banks begibt sich, nach einer Reihe von erfolgreich abgeschlossenen Ermittlungen, ins Shanghai der 30er um dort nach seinen verschollenen Eltern zu suchen – und glaubt somit den bevorstehenden Weltkonflikt verhindern zu können. Wieso der Leser trotz eines offensichtlich größenwahnsinnigen Erzählers dessen Unzuverlässigkeit lange Zeit ignoriert, ist eines der spannenderen Rätsel des Werkes und erklärt sich zum Großteil dadurch, dass der Leser in die entstellte Weltvision des Erzählers eintaucht und diese schlicht eine von Heimweh und Kindheitsnostalgie geprägte Welt schildert, der man sich gerne hingebt. Dass der traditionelle Kriminalroman mit seinen simplen ethischen Dichotomien, die uns vom Guten und vom Bösen erzählen, hier mit einer naiven, kindlichen Weltsicht gleichgestellt wird, zeigt eine dekonstruktivistische Perspektive auf, die Ishiguro in den folgenden Romanen weiterführen und perfektionieren wird. Wichtig ist dieser Kriminalroman, der fast keine einzige wirkliche Ermittlungsszene beinhaltet, weil er sowohl als historischer Roman, der die wenig glorreiche Rolle der Kolonialmacht Großbritannien im Umgang mit seiner chinesischen Kolonie porträtiert, als auch als poetische Hymne auf die Kindheit, das Gefühl der Geborgenheit und das schwierige Entdecken einer brutalen Außenwelt funktioniert. Die Fiktion wird hier, wie in Donald Winnicotts "Vom Spiel zur Kreativität" theorisiert, als notwendige Kluft zwischen unseren endogenen (inneren) Phantasmen und der unerbittlichen Realität veranschaulicht. Und, wie immer bei Ishiguro, liest sich das Ganze trügerisch leicht, (fast) wie ein Mainstreamkrimi.

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2016

25