Leselampe

2022 | KW 2

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Buchempfehlung der Woche

von Simone Schröder

Simone Schröder wurde 1986 in Frankfurt am Main geboren. Seit 2017 arbeitet sie beim internationalen literaturfestival berlin (ilb). Als Programmleiterin hat sie unter anderem Veranstaltungsreihen zu Nature Writing & Ecopoetics, feministischer und indigener Literatur gestaltet. Neben ihrer Arbeit für das Festival übersetzt sie aus dem Englischen und schreibt Essays. Sie war Stipendiatin der Autor:innenwerkstätten des LCB und der Jürgen Ponto-Stiftung. Bevor sie 2016 nach Berlin kam, hat sie an der University of Bath promoviert und in London gelebt. 2019 ist ihr Buch The Nature Essay: Ecocritical Explorations erschienen.  

Elif Batuman
Die Besessenen. Abenteuer mit russischen Büchern und ihren Lesern
Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann, Kein und Aber Verlag, Zürich 2011.

Im Herbst 2012 ging ich, wie ich es zu der Zeit oft tat, nachmittags im Londoner Stadtteil Hampstead spazieren. Ich hatte gerade angefangen, meine Doktorarbeit zu schreiben und dachte viel darüber nach, wie ein Leben aussehen könnte, das mit Literatur zu tun hat. Wenn ich aus dem Park kam, schaute ich meistens noch bei Oxfam Books vorbei. Der Laden befand sich unweit der Underground Station neben kleineren Restaurants, Einrichtungsgeschäften und dem Everyman Kino auf der Heath Street.

Ich entdeckte Elif Batumans The Possessed im Regal mit Essays und Memoirs. Ich weiß nicht mehr, ob es der Titel war, der mich neugierig machte oder die Zeichnungen auf dem Buchcover. Ein bärtiger Mann schwebt kopfüber ins Bild, den Tennisschläger zur Rückhand nach hinten gestreckt, ein Mädchen schwingt eine Gans am Hals wie einen Schläger und am unteren Rand packt King Kong ein Flugzeug. In der linken oberen Ecke verspricht ein Zitat aus dem Guardian: „A deeply clever and very funny book: half memoir, half love-letter to the Russian literary greats”. Ich kaufte das Buch und nahm die Overground zurück nach Kensal Rise, wo ich wohnte. Noch während der Fahrt begann ich zu lesen.

Elif, die Hauptfigur und Ich-Erzählerin von The Possessed. Adventures with Russian Books and the People Who Read Them, ist Doktorandin in Stanford. Sie beschäftigt sich mit den Kanon-Giganten der russischen Literatur, organisiert eine Konferenz und ist viel unterwegs, nicht nur in Kalifornien und Russland. Elif verbringt den Sommer in Samarkand, wo sie Usbekisch lernt. Sie reist zu ihrer Großmutter nach Ankara, fliegt nach St. Petersburg, um die Replik eines Eispalasts zu besichtigen, nimmt an einer internationalen Tolstoi-Konferenz auf dessen Gut Jasnaja Poljana teil, begibt sich in Florenz auf die Spuren von Dostojewski und gerät dabei immer wieder in absurd-komische Situationen wie aus einem Schelmenroman.

Der Text verbindet schnelle Dialoge, pointenreiche Zusammenfassungen des Plots russischer Weltliteratur mit komischen Begegnungen bei literaturwissenschaftlichen Konferenzen und mit Überlegungen zum Zusammenhang von Leben und Literatur. Wie es für Essays typisch ist, wechseln sich verschiedene Stillagen und Register ab. Es ist in diesem Schreiben Platz für Theorie und Witz, Minireferate zu russischer Literatur und überdrehten Spaß an den Absurditäten des Forschungsalltags. Das Programm ist radikale Subjektivität und vielleicht gefiel mir genau das damals so gut, weil es in der Wissenschaft als verpönt galt, ich zu sagen. Auch sonst war manches anders als in einem akademischen Text. Das erste Kapitel etwa beginnt so:

„Wenn die russische Akademie der Wissenschaften die Gesamtausgabe eines Autors veröffentlich, kann man das, was dabei herauskommt, nicht einfach in einen Koffer packen und wegtragen. Die Tolstoi Milleniumsausgabe umfasst hundert Bände und wiegt so viel wie ein neugeborener Belugawal. (Ich trug meine Badezimmerwaage in die Bibliothek und habe die Edition – jeweils zehn Bände auf einmal – abgewogen.) Dostojewski hat dreißig Bände, Turgenjew achtundzwanzig, Puschkin siebzehn. Selbst Lermontow, ein Lyriker, der mit sechsundzwanzig Jahren in einem Duell starb, hat vier Bände.“

Welche Doktorandin trug eine Waage in eine Bibliothek? Ich ahnte, dass es hier nicht wirklich um Quantitäten ging, sondern darum, alternative Möglichkeiten zu finden, über Literatur zu schreiben. The Possessed ist in gewisser Weise Literatur in zweiter Instanz. Das Buch handelt zwar von russischer Literatur, aber man muss Puschkin & Co. nicht gelesen haben, um Spaß daran zu haben. Ich würde sogar behaupten, man muss sich noch nicht einmal für sie interessieren. Durch den Text trägt Batumans eigene Begeisterung für diese Literatur. Die ist nicht erfunden, sondern ganz real.  

Ich war kurz nach meiner Ankunft in London einem Buchclub beigetreten, der sich ausschließlich mit literarischer Nonfiction beschäftigte. Er hieß Reality Hunger, nach einem Manifest von David Shields für mehr wirklichkeitsgesättigte Literatur. Wir hatten bereits Essays über Alkoholismus und Beat Literatur, die Farbe Blau und den Geschmack von Dorito Chips gelesen und ich beschloss, The Possessed vorzuschlagen. Doch es kam nicht dazu. Steve, der Gründer des Clubs, verschwand vom einen auf den anderen Tag von der Bildfläche, die Gruppe löste sich auf, und später sagte Jyl, die ich dort kennengelernt hatte und noch weiterhin traf, Steve sei wohl nur auf der Suche nach einem Date gewesen. „He succeeded, but dumped us as a group“.

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