Leselampe

2022 | KW 6

© Lilly Urbat

Buchempfehlung der Woche

von Lara Sielmann

Lara Sielmann ist Kulturjournalistin (Print, Online, Hörfunk), als solche bespricht sie regelmäßig Bücher und moderiert Literatur- sowie Kulturveranstaltungen. Als Teil des Labels für Literaturvermittlung "Kabeljau&Dorsch" konzipiert und setzt sie Literaturformate um. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Julia Cimafiejeva
Minsk. Tagebuch
Aus dem Englischen von Andreas Rosteck, Edition Fototapeta, Berlin 2021

Seitdem ich 2012 bei der Leipziger Buchmesse das erste Mal mit belarussischer Literatur in Berührung kam, hat sie mich nicht mehr losgelassen. Unter dem Schwerpunkt „tranzyt“ waren damals verschiedene Autor:innen und Literaturschaffende aus Belarus, der Ukraine und Polen eingeladen zu lesen und zu diskutieren. Ein Querschnitt der unabhängigen belarussischen Gegenwartsliteraturszene war vor Ort. In den letzten Jahren sind glücklicherweise einige Titel ins Deutsche übersetzt worden (nicht zuletzt dank der wahnsinnigen Arbeit, die der Übersetzer Thomas Weiler und sein Netzwerk an Übersetzer:innen „Literabel“ leisten: https://www.facebook.com/literabel.de) – vor allem seit die sogenannte „Friedliche Revolution“ 2020 auch bei uns Schlagzeilen machte. Bei der Protestbewegung zogen von der opppositionellen Kulturszene bis zur Arbeiter:in, belarussische Bürger:innen auf die Straße, um gegen die korrupte Wahl des langjährigen Präsidenten Lukaschenko zu demonstrieren.

Von diesen ersten Monaten handelt Minsk. Tagebuch der belarussischen Lyrikerin Julia Cimafiejeva. In recht kurzen Passagen und Sätzen führt sie einen mit auf die Hauptstraße Minsks, als Teil eines hoffnungsvollen Pulks, der sich binnen Sekunden auflöst, wenn Gefahr in der Luft liegt. Die bald allgegenwärtig wird. Aus dem zunächst euphorischen Ton der Autorin wird ein dunkler: „Manchmal denke ich, dass sie mit imaginären Feinden kämpfen: grausam, brutal, stark, bis an die Zähne bewaffnet, echte Superkriminelle – die nur in den Köpfen der belarussischen Machthaber existieren“. Als Julia Cimafiejeva im März 2021 diese Zeilen schreibt, lebt sie schon zusammen mit ihrem Ehemann, dem belarussischen Autor Alhierd Bacharevic, als „Writer in Exile“ im österreichischen Exil in Graz, wo sie nach wie vor sind. Zu gefährlich wurde es für sie in Belarus  – beide sind Gesichter der intellektuellen Opposition. Minsk. Tagebuch hat Julia Cimafiejeva im Original auf Englisch geschrieben, wie sie mir in einer Mail erzählte, da ihr diese Sprache den nötigen Abstand zu dem Erlebten gab. Und auch, dass sie die Veröffentlichung des Tagebuches nicht geplant hatte, zunächst erschien nur ein Auszug in der Financial Times, auf den mehrere Übersetzungen und Anfragen folgten. Zum Glück hat sie ihr gesamtes Tagebuch zusammen mit der Edition Fototapeta herausgebracht. Ihre Texte sind eine zeitunabhängige literarische Auseinandersetzung mit Angst und Hoffnung und zugleich Zeugnis hochpolitischer Geschehnisse.

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