Leselampe

2022 | KW 27

Buchempfehlung der Woche

von Matthias Weglage

Matthias Weglage hat Klassische Philologie, Philosophie und Literaturwissenschaften studiert, lebt und arbeitet in Berlin. Er ist verantwortlich für die Lesereihe Ich fang nochmal an.

Nina Bußmann
Dickicht
(Roman), Suhrkamp Verlag, Berlin 2020

Dickicht, ein Bild als Titel für den Roman. Ein Waldbild, Unterholz, Bereiche des Waldes, in die das Licht nicht ganz fällt, aus dem Figuren, Menschen, Situationen nur langsam heraustreten, das Auge muss sich erst an das Halbdunkel gewöhnen. Im Dickicht kann man sich leicht verirren, der Leser ist stark gefordert. Im Grunde passt dazu, dass die Figuren, die der Roman vorstellt, selbst Verirrte, Herumirrende sind. Ein Großstadtroman, ja, und doch deutet schon die zentrale Metapher des Titels auf eine Grundstimmung, die am bekanntesten aus Dantes Unterweltszenarien ist. Denn auch dort ist es der Wald, die selva obscura, die den Dichter Dante in das Tal der Verlorenen führt. Verlorene sind die Figuren des Romans fast alle, die Grundstimmung des Romans schafft einen eigenen halbwachen Bewusstseinszustand, in dem besonders einzelgängerisch Veranlagte, Traurige und von ihrem Schicksal wie Gefangenengenommene in den Blick kommen können. „Es gibt kein Weil“, der Satz fällt einmal lakonisch, als es darum geht, warum Ruth nicht mehr aufhören kann zu trinken. Der Satz, der Kausalitäten verbietet, gilt aber wohl für den Roman, seine Poetik, im ganzen. Die Autorin will nicht erklären, sondern lieber beschreiben.

Die Erzählweise des Romans ist die poetische Nahsichtbrille, sie will die Figuren glaubwürdig und lebensnah darin erhalten, dass der Blick so nah wie möglich an sie herangeht. Deren Sorgen sind durchaus sehr konkret, schlechte Arbeitsbedingungen, Mieterhöhungen, das Ringen um ein bisschen Liebe und Anerkennung im nächsten sozialen Umfeld. Manches erinnert mich in diesem Roman an Berlin-Neukölln, die vielen kleinen Paralleluniversen von Kollektiven, autonomen Gruppen, basisdemokratisch organisierten Betrieben, die um gesellschaftliche Wertschätzung ringen. Der Alkohol ist latentes Hauptthema in dem Roman: “Der Alkohol lässt die Einsamkeit widerhallen und macht schließlich, dass man sie allem anderen vorzieht, hatte sie in einem geschenkten Buch gelesen, eine umständliche Art zu sagen: Die Trinkerin will allein sein, um in Ruhe trinken zu können. Sie glaubte: Erst seit sie das Alleinsein gelernt hatte, verstand sie es zu trinken.“ So oder ähnlich klingen die düsteren Mollakkorde, die in dem Roman häufiger auftauchen. Nein, die Figuren sind nicht alle Süchtige. Aber getrunken wird viel, und das nicht um des fröhlichen Genusses willen.

Ruth ist Alkoholikerin. Als sie  auf dem Nachhauseweg von einer Party stürzte und ins Krankenhaus musste, hatte sie freilich keinen Tropfen getrunken. „Ich war in Gedanken“ sagt sie lakonisch gegenüber dem Arzt, als sie befragt wird. Und vielleicht weil sie ein wenig nachtblind sei. Sie sei in dem dämmrigen Park gestolpert. Hunde, eine ganze Hundemeute sei von hinten gekommen, einer habe ihr einen gegabelten Ast in die Kniekehle gerammt. Es war die Wahrheit, die Dramaturgie dennoch ungewöhnlich. Von diesem Moment an wird ihr eigenwilliger und zugleich hilfloser Charakter besonders gut sichtbar, denn von jetzt an ist sie auf die Hilfe anderer angewiesen. Max wird sagen: „Mit Ruth war es von Anfang an schwierig gewesen. Sie hatte sich aus der gemeinsamen Arbeit zurückgezogen, bevor es richtig angefangen hatte.“ Mit der Arbeit ist das linke Aktionsbündnis gemeint, politische Gruppenarbeit. Ruth, sagt Max, sei unfähig zur Aufrichtigkeit gegen sich selbst und andere. Ein manipulativer Charakter, selbstmordgefährdet. Kein besonders sympathischer Charakter.

Max selbst arbeitet für einen Lieferdienst, studiert noch. Er gilt als zuverlässig. Trotzdem hat auch er etwas Unstetes, Vagabundierendes. Bricht sein Studium plötzlich ab, reist, sucht die Nähe zu Menschen ohne jeden gesellschaftlichen Status. Er fühlt sich zu der um einiges älteren Ruth hingezogen, hat ein kurzesVerhältnis mit ihr. Er läuft ihr zum Krankenhaus hinterher, als sie verschwunden ist. Dort hört er, dass sie sich gerade selbst hat entlassen können. Einmal heißt es später sinngemäß, dass viele etwas gern in sie hineinprojizierten. Sie ist kein schwacher Charakter.

Und da ist Katja. Im Krankenhaus lernt Ruth sie kennen. Katja ist hilfsbereit, in gewisser Weise aufopferungsvoll, gut für Ruth, die jetzt einen Menschen braucht. Katja ihrerseits entdeckt sich darin, für andere da sein, in sie hineinhorchen zu können. Das passt. Katja arbeitet als Coach. Sie sagt von sich selbst, dass sie die Menschen spüren kann. Ein besondere Frauenfreundschaft beginnt. Distanz und Nähe mischen sich. „Klein und leicht wie ein Gespenst kam sie Katja vor.“ sagt Katja einmal über Ruth. Aber wenn Katja sich von Milan getrennt hat, verliert sie selbst den Boden unter den Füßen.

Obwohl es zunächst anders scheint, ist nicht Ruth, sondern Katja die eigentliche Protagonistin des Romans, in gewisser Weise scheint der Roman ein Erinnerungsbuch Katjas an Ruth. Katja jedenfalls schreibt Tagebuch, ist spirituell interessiert, sie kann Ruth aus größerer Distanz betrachten. Die wie von Geisterhand geschriebenen freien Gedankenzettel, die in den Roman eingestreut sind, ordnen wir am ehesten ihr zu. Wenn etwas wie Ordnung zu finden, so leicht wäre in dem Roman. Schließlich bewegen wir uns im Dickicht, das Licht scheint nur hier und da durch die Zweige der hohen Bäume ins Dunkel.

„Den Dämon vor uns hinstellen, damit wir ihn besser sehen können.“ heißt es einmal auf einem der eingestreuten Blätter, die über Dämonen, Krankheit und Einsamkeit reflektieren. Auf anderen ist von der heilenden Macht der Sprache die Rede. Und immer wieder dringt das Hauptthema in das Erzählgewebe hinein, die Fatalität der Abhängigseins, besonders bei Ruth, der zugleich fragilsten und stärksten Figur: „Ruths Reden wurden mit steigendem Pegel nicht verwaschen, nur sprunghafter und schneller, Inseln der Genauigkeit, die sie mit Würde davonschwimmen ließ.“ Die dämonische Verführung des Alkohols lässt sich kaum besser auf den Punkt bringen. Was mag die Autorin Bußmann nur dazu getrieben haben, den Leser mit dem Thema auf ein so düsteres, ungefüges Terrain zu schicken? Vielleicht weil sie zeigen will, dass die Menschen trotz allem Begegnungen, Nähe zueinander suchen?

Die Prosa der Autorin ist leicht, krafterfüllt, sie hat etwas von dem sicheren Geleit, das Vergil dem von den düsteren Seelen verschreckten Dante schenkt. Und ist frei von dem leisen Hochmut des christlichen Dichters, nur Passagen abzuschreiten. Ich habe das Buch im Laufe der Zeit mehrmals verstimmt aus der Hand gelegt. Wegen der Ungreifbarkeit seiner Figuren. Weil es Assoziationen nachgeht, Figuren ineinander verschwimmen lässt, das rationale Erzählgefüge auszuhebeln scheint. Aber ich habe es auch immer wieder in die Hand genommen.

Mehr Informationen