Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Rebekka Zeinzinger

Rebekka Zeinzinger wurde 1992 in Niederösterreich geboren. Nach dem Studium in Wien lebte sie drei Jahre lang in Sarajevo (Bosnien-Herzegowina), wo sie deutsche Sprache und Literatur unterrichtete. Sie übersetzt aus dem Bosnischen, Kroatischen und Serbischen, zuletzt Fang den Hasen von Lana Bastašić (S. Fischer Verlag, 2021).

Senka Marić
Körper-Kintsugi
(Roman); Aus dem Bosnischen übersetzt von Marie Alpermann, eta Verlag, Berlin 2021.

„Wie erzählt man eine Geschichte, die auf der Zunge zerfällt und sich weigert, eine feste Form anzunehmen?“

Es ist Februar 2019, und der Winter in Sarajevo dauert schon viel zu lange, als ich auf einem meiner Streifzüge durch die Stadt im Schaufenster der buybook-Buchhandlung dieses schmale Buch von Senka Marić entdecke. Die Smog-Maske nehme ich ab, bevor ich eintrete – damals habe ich nicht die leiseste Ahnung davon, dass es nur etwas mehr als ein Jahr später allgemeine Gewohnheit sein würde, Masken vor dem Betreten von Innenräumen aufzusetzen. Im allwinterlichen Smog, der die Stadt seit Wochen dick vernebelt und keinen Sonnenstrahl durchlässt, sind Bücher meine Luft zum Atmen, ich sehne mich mehr als sonst nach Lektüre, die mich einsaugt und zugleich, im wahrsten Wortsinn, inspiriert. Als ich schließlich mit Kintsugi tijela (dt. Körper-Kintsugi) nach Hause gehe, ist mir noch nicht bewusst, welchen Sog dieses Buch auf mich ausüben wird. Wie hart es mich treffen und zugleich auf die zarteste Weise berühren wird.

Doch worum geht es in diesem Buch? Körper-Kintsugi ist die Geschichte einer Frau, die an Brustkrebs erkrankt. Es ist mitten im heißen herzegowinischen Sommer, als sie sich nicht nur von ihrem Ehemann trennt und plötzlich allein für ihre beiden Kinder sorgen muss, sondern auch einen Knoten in ihrer Brust spürt. Von da an begleiten wir die Protagonistin, die in Mostar in Bosnien-Herzegowina lebt, auf ihrem mühevollen Weg durch Untersuchungen, Operationen und Therapien. Vom ersten Satz an sind wir dabei als Leser:innen durch die Du-Form ganz nahe an der Hauptfigur, erleben alles unmittelbar mit. Wir sitzen mit ihr im Auto auf der scheinbar endlosen kroatischen Autobahn, neben der Mutter, die sie zu den OP-Terminen nach Zagreb fährt, wir lesen die kühl-distanzierte Sprache der medizinischen Befunde, wir spüren den Verlust der Haare und der Brust, den Schmerz, die Übelkeit, Müdigkeit und Schwere, die den Alltag bestimmen. Wir sehen die beiden Kinder durch die Augen der Mutter, die es sich nicht erlauben will, ihnen gegenüber Schwäche und Angst zu zeigen, doch gerade in der Beziehung zu den Kindern ihre lebensbejahende Kraft wiederfindet. Sie sehnt sich nach einer neuen Liebe, nach Nähe und Zärtlichkeit, die sie durch das Stigma ihrer Krankheit aber nicht erleben kann. Rückblenden in die Kindheit und Jugend skizzieren ein Aufwachsen in patriarchalen Strukturen, die auch in der Gegenwart wirksam sind und für viel Scham und Tabus rund um diese „weibliche“ Krankheit sorgen. Die namenlose Protagonistin ist auf sich allein gestellt, schafft es aber gerade durch die Vergewisserung des Selbst, als Siegerin aus diesem kräftezehrenden Kampf hervorzugehen.

Die eigentliche Protagonistin dieses Buches ist jedoch die Sprache. Die Sprache in diesem Text gleicht einem Skalpell: Sie seziert die Ereignisse und Empfindungen genaustens, um durch den Eingriff Heilung zu ermöglichen. Die so kraftvolle und poetische Sprache steht im Kontrast zum geschwächten Körper, den sie beschreibt. Und die Sprache selbst ist es, die den Körper aufleben und wieder erstarken lässt. Dass diese Sprachkraft auch auf Deutsch so wirkmächtig zur Geltung kommt, ist der besonders feinfühligen und gelungenen Arbeit der Übersetzerin Marie Alpermann zu verdanken.

Der Titel Körper-Kintsugi bezieht sich auf eine japanische Kunsttechnik, bei der Zerbrochenes mit flüssigem Gold repariert und somit verschönert wird. Er wirft Fragen nach unserer Wahrnehmung von Körpern auf, besonders Frauen-Körpern, Körpern mit Verletzungen, Beschädigungen und künstlichen Implantaten. Wie nehmen wir unseren Körper wahr, wenn er uns nicht mehr gehorcht, wenn ihn eine Krankheit in Besitz nimmt? Wie gehen wir mit dem unsichtbaren Feind im eigenen Körper um? Und kann es uns gelingen, den Körper dennoch als schön zu empfinden, zu lieben?

Körper-Kintsugi ist ein Buch der Selbstermächtigung einer Frau, das ganz ohne Pathos auskommt und von den ganz intimen Dingen erzählt, die an unser Innerstes rühren. Es macht nicht Halt vor Tabus wie dem Umgang mit Krankheit und Tod oder der Erotik eines durch Krankheit gezeichneten Körpers. Und das alles ohne Beschönigungen, ohne unser Mitleid erregen zu wollen oder etwas zur Schau zu stellen – und vor allem auch, ohne uns deprimiert zurückzulassen. Es ist ein Buch über eine unglaublich starke und zugleich sensible Frau, das mich besonders inspiriert und beeindruckt hat. Ein Buch, das im wahrsten Sinne unter die Haut geht, aber durch die Darstellung der kämpferischen, lebensbejahenden Haltung und des unbeirrbar starken Willens einer Frau vor allem eines tut: Mut macht.

Senka Marić hat mit Körper-Kintsugi ein beeindruckendes Debüt vorgelegt, das 2018 zurecht als bester Roman Bosnien-Herzegowinas ausgezeichnet wurde. Zum Glück ist es heute auch deutschsprachigen Leser:innen in der großartigen Übersetzung von Marie Alpermann zugänglich.

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