Leselampe

2022 | KW 14

© Manuel Miethe

Buchempfehlung der Woche

von Roman Graf

Der Schweizer Autor Roman Graf lebt inzwischen in Münster, wo er aktuell an einem umfangreichen Roman arbeitet. Zuletzt ist von ihm der Roman Mädchen für Morris (Knaus Verlag, München 2016) erschienen.

Vladimir Nabokov
Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie
Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer, Rowohlt Verlag, Reinbek 1991

„Die Wiege schaukelt über einem Abgrund, und der platte Menschenverstand sagt uns, dass unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist.“
Mit diesem Satz beginnen die Lebenserinnerungen des russisch-amerikanischen Schriftstellers, Schmetterlingsforschers und Literaturwissenschaftlers Vladimir Nabokov. Es ist ein Satz, der mir seit jeher nahe geht, dessen Bedeutungen mir aber heute besonders schmerzhaft bewusst werden. Nabokov hatte, wie er selber schreibt, eine paradiesische Kindheit in St. Petersburg und auf dem Landsitz der Familie, die unvorstellbar vermögend gewesen war; es war eine Zeit, in der Russland sich in eine gute Richtung hätte entwickeln können. Doch mit der Oktoberrevolution 1917 änderte sich dies; Nabokovs Familie musste fliehen, über die Krim nach Berlin, der hastig eingepackte Schmuck finanzierte das Leben.

Nabokovs Kindheit, die in jeder Hinsicht, vor allem aber, was das sinnliche Erleben betrifft, so reichhaltig war wie wir uns das heute kaum noch vorstellen können, bildet einen größtmöglichen Kontrast zu dem, was folgte. Die Schilderungen der Flucht, der Jahre in Armut in Berlin, der zunehmenden Unterdrückung durch das NS-Regime, des Gangs ins zweite Exil nach Frankreich und Amerika spiegeln das Schicksal jener Menschen, die heute aus der Ukraine fliehen. Inzwischen wissen wir, dass die fatalen Entwicklungen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Russland über hundert Jahre Dunkelheit gebracht haben. Doch gerade Nabokovs Erinnerungen an die Kindheit in einem Land, das auf einem hoffnungsvollen Weg war, bieten einen Anknüpfungspunkt für die Zeit nach Gewaltherrschern wie Putin; sie zeigen, wie nah uns dieses Land sein könnte und dass zu einem vereinten Europa nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland gehört. Es ist der Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels, der, wenn er sich auftut, erkannt und genutzt werden muss.

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