Leselampe

2022 | KW 20

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Buchempfehlung der Woche

von Isobel Markus

Isobel Markus ist freie Autorin. Sie wirkte bei Kunst- und Fotografie-Projekten mit und schreibt Miniaturen für die "berliner szenen" der taz. Ihre Kurzgeschichten wurden in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Im August 2021 erschien ihr erstes Buch Stadt der ausgefallenen Leuchtbuchstaben im Quintus-Verlag, im März 2022 auch bei Quintus ihr Debüt-Roman Der Satz. In der Lettrétage Berlin veranstaltet sie regelmäßig Salonabende. Die Berliner Salonage präsentiert Künstler·innen verschiedener Genres, regt einen Austausch mit dem Publikum an und wird seit diesem Jahr von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa gefördert.

Sophie Calle
Wahre Geschichten
Aus dem Französischen von Sabine Erbrich, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.

Ein Freund überreichte mir vor ein paar Wochen ein Buch mit dem Titel Wahre Geschichten einer mir zuvor unbekannten Autorin, Sophie Calle, und sagte: „Wo beginnt die Fiktion in der Autofiktion?“
Ich war also neugierig und warf noch am selben Abend einen Blick in das Buch, das ich erst spät wieder zuklappte, so fasziniert war ich von den Geschichten.

Sophie Calle, geboren 1953, ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Konzeptkünstlerinnen Frankreichs. Ihre Kunst verwebt Realität und Fiktion zu einem undurchdringbaren Geflecht, das so ungeheuerlich, wie faszinierend wirkt. Sie wird gern als Meisterin der Indiskretion bezeichnet, da sie Einblicke in eigenes und ungefragt in das Leben anderer gewährt. Nicht zuletzt nach ihrer skandalösen Kolumne in der französischen Tageszeitung Libération, in der sie 1983 darüber berichtet, wie sie die Einträge eines auf der Straße gefundenen Adressbuchs kopierte und folgend Kontakt zu den darin verzeichneten Personen aufnimmt. Sie will durch die Beschreibungen seiner Bekannten und Freund·innen ein Abbild des Adressbuchbesitzers zeichnen.
Hier in Calles Miniaturenband Wahre Geschichten wird die Wahrheit selbst zum Kunstwerk. Die kurzen, verdichteten Texte drehen sich um die großen Themen ihres Lebens: Kindheit, Selbstfindung, eine bedrohlich wirkende Sexualität, ihre Arbeit als Stripteasetänzerin und Barfrau, weibliche und männliche Übergriffe, das Lieben, abgelehnt werden, das Heiraten, Trennung und schließlich Leid und Tod der eigenen Eltern.
Begleitet werden diese 65 eindrücklichen Miniaturen von vermeintlich authentischen Fotografien. Bilder von Erinnerungsstücken, wie einer Tasse, die sie nach einem Frühstück mit einem Liebhaber klaut, um sich an seine Antwort zur Frage zu erinnern:„Was bringt dich morgens dazu, aufzustehen?“.  Ein paar Seiten vorher ein Polaroidporträt von ihr mit einem roten Strich am Hals, das Wochen zuvor entstand, bevor sie ein Mann auf der Straße zu erwürgen versuchte oder ein Foto ihres verkohlten Jugendbettes im Hof, in dem ein Untermieter einem Feuer zum Opfer fiel. Die Texte und Fotografien sind ein Festhalten, ein Nähertreten und gleichzeitig ein Sich-Distanzieren, ein Darstellen und Beleuchten ihrer selbst als Protagonistin – ein Leben in Bildern das nachwirkt, sowohl literarisch als auch fotografisch. Dabei meint man, Calles Wunsch zu spüren, das Leben ordnen zu wollen und durch die kontrollierte Darstellung erlebten Kontrollverlusts, Klarheit in vergangene Ereignisse zu bringen.

In allen von ihren Werken, ob in der Fotografie, ihren Filmen, den Texten, geht es um Emotionen. Dabei verschwimmen Wahrheit und Fiktion. Denn wo genau beginnt die Fiktion in der Autofiktion? Wo das Leben in der Kunst in einem Leben für die Kunst?
Das Leben und seine Ereignisse fungieren für Calle als Material. Ihre Konzepte entstehen aus Ideen, die ebenso wie ihre künstlerischen Ausdrucksformen in alle Richtungen expandieren und dabei initial vielleicht wahren Ereignissen in Ausschnitten folgen. Wer weiß. Wer sie wirklich ist, versteckt sich hinter ihren scheinbaren Selbstoffenbarungen.
Aber, frage ich mich, wer stellt nach einer mitnehmenden literarischen Lektüre eigentlich noch die Frage nach der absoluten Wahrheit der Ereignisse – selbst wenn der Titel „Wahre Geschichten“ lautet? Es ist Kunst, wenn man es fühlt. Und kann nicht gerade die Kunst immer Erfinderin und Erfundene zugleich sein?



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