Leselampe

2022 | KW 47

© Ayşe Yavaş

Buchempfehlung der Woche

von Julia Weber

Julia Weber, 1983 in Moshi (Tansania) geboren, lebt mit ihrer Familie in Zürich. Von 2009 bis 2012 studierte sie literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Im Jahr 2012 gründet sie den Literaturdienst (www.literaturdienst.ch ) und ist 2015 Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe «Literatur für das, was passiert» zur Unterstützung von Menschen auf der Flucht. Julia Webers Debütroman «Immer ist alles schön» erschien 2017 im Züricher Limmat Verlag und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und stand in diesem Jahr auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. 2019 gründet Julia Weber mit sechs weiteren Schriftstellerinnen das feministische Autorinnen Kollektiv «RAUF», welches Aktionen und Veranstaltungen organisiert, um die Sichtbarkeit und Position der Frau innerhalb des Literaturbetriebs zu stärken.
In diesem Frühjahr ist ihr zweites Buch «Die Vermengung» erschienen. 

David Foster Wallace
Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache
Erzählung, Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach (zweisprachige Textausgabe), Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2015.

Eine kurze Geschichte, die in mich hineingewachsen ist. Er hat es irgendwie geschafft, etwas vom Unsagbaren zu sagen. Worte zu finden für die dunkelste Dunkelheit, die in einem Menschen wohnen kann oder der Mensch in ihr. Ein Schreiben über Traurigkeit, in der kein Bild mehr gesehen, kein Besen in die Hand genommen, kein Schritt einfach so gemacht werden kann, für deren Beschreibung auch das Wort dunkelste Dunkelheit noch zu hell ist. Ein lichtloses Dasein, aber beschrieben in Lust. In Dringlichkeit, in Leichtigkeit auch. Federn für die Depression. Und man kann die Welt anfassen. Man kann die Stille klirren hören, wie ein Paillettenkleid, in dem sich jemand im Raum bewegt. Und es wachsen Leerstellen am eigenen Körper und in das Leben hinein. Und wenn man diese Zeilen liest, ist man immer allein, aber immer mit den Worten, niemals einsam.
Es ist schwer über Traurigkeit zu schreiben, finde ich. Es ist auch schwer über die Abwesenheit der Traurigkeit zu schreiben, die durch Medikamente aufgelöste Traurigkeit, bei der leider auch der Mensch, dessen Traurigkeit aufgelöst wurde, sich aufgelöst hat, oder auf einen anderen Planeten gereist ist. Aber in diesem kurzen Text ist das alles fassbar. Er sitzt auf dem Planeten Trillaphon und schaut auf die Welt und sich und die Leben hinab. Und ich kenne diesen Zustand nicht, ich kenne eine Trauer, eine Dunkelheit, aber nicht in diesem Ausmaß. Dennoch könnte ich mir vorstellen, dass es genau so ist. Und ich kann die Füße bewegen wie in einem Sumpf, ich stehe mitten in der Landschaft. Und die Füße sind grün vom Schlamm und der Körper ist schwer. Und alles ist aussichtslos und trotzdem ist da Trost.

Dass ich dieses Mädchen namens May kennenlernte und Bekanntschaft mit ihm schloss, ist bis heute die lebhafteste Erinnerung an meine letzte gute Erfahrung auf der Erde. Ich lernte May eines Tages im Fernsehzimmer kennen, weil sie ihren Rollkragenpullover auf links trug. Ich weiss noch, dass gerade „Die kleinen Strolche“ lief, und ich sah einen blonden Hinterkopf, dessen Besitzer beiderlei Geschlechts sein konnte, denn die Haare waren kurz und struppig. Unter dem Hinterkopf war das Schildchen mit Stoff- und Größenangabe sowie der weißen Naht, die darauf hindeutet, dass jemand seinen Rollkragenpullover auf links trägt. Ich sagte also: „Entschuldigung, weißt du, dass du deinen Pulli falsch herum trägst?"
Und der Mensch sagte, „Ja, weiß ich“

Ich fragte, „warum trägst du ihn verkehrt rum?“ Und May sagte, „Weil das Schild im Nacken kratzt, und das mag ich nicht.“ Meine Antwort war ein naheliegendes „Und warum schneidest du das Schild dann nicht einfach raus?“. Woraufhin May, soweit ich mich erinnere, versetzte: „Weil ich dann nicht mehr weiß wo vorne und wo hinten ist.“- „Häh?“, sagte ich mit aller mir zu Gebote stehenden Geistesgegenwart. May sagte: „Der Pulli hat keine Taschen, keine Aufschrift oder sonst was. Von vorn sieht er ganz genau so aus wie von hinten.

Ich sagte: „ Na ja, wenn Vorder- und Rückseite gleich sind, ist es doch aber egal, wie rum du ihn trägst.“ Und da sah May mich ungefähr 11 Jahre lang sehr ernst an und sagte dann, „Mir ist es aber nicht egal.“

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