Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Andreas Schäfer

Andreas Schäfer, 1969 geboren, studierte Germanistik und Religionswissenschaften und lebt als freier Autor in Berlin. Er schreibt Romane, Essays, Libretti und Texte für die Bühne. Zuletzt erschien im Sommer 2022 Die Schuhe meines Vaters im DuMont Buchverlag.

Sigrid Nunez
Eine Feder auf dem Atem Gottes
Roman, Aus dem Amerikanischen von Annette Grube, Aufbau Verlag, Berlin 2022.

Vor einigen Jahren erschien auf Deutsch „Der Freund“ von Sigrid Nunez, eine Trauer- und Freundschaftsgeschichte und – wie immer bei Sigrid Nunez – eine offenherzige  Selbsterkundung. Eine alleinstehende, nicht mehr junge Frau übernimmt den Hund eines verstorbenen Freundes. Es ist ein Monster von einem Hund, mit dem die überforderte Ich-Erzählerin nun ihr winzigen New Yorker Apartment teilt. Es kommt, wie es vielleicht kommen muss: Die trauernde Dogge sprengt den sorgsam kuratierten Schriftstellerinnen-Alltag und verwandelt in Nullkommanichts das Leben der Erzählerin in ein chaotisches, von Ängsten dominiertes Hausen. Das Buch ist wunderbar elegant geschrieben, traurig natürlich, aber – der Hund macht´s möglich – nicht ohne Situationskomik. Ich fragte mich: Warum lässt die Erzählerin sich den Hund von der Witwe des Verstorbenen überhaupt aufdrängen? Auch in „Was fehlt Dir“, 2021 bei Aufbau erschienen, sagt die weibliche Erzählerin, die große Ähnlichkeiten mit der Autorin aufweist, nicht Nein. Als eine krebskranke Freundin Nunez bittet, sie während ihrer letzten Lebensmonate bis zum selbstgewählten Suizid zu begleiten, packt die Autorin den Koffer und reist mit der Todkranken aufs Land, um darüber ein herzzerreißendes und assoziativ ausgreifendes Buch über den Abschied zu schreiben.

Jetzt ist Nunez´ Debüt aus dem Jahr 1995 in deutscher Neu-Übersetzung erschienen, das Memoir „Eine Feder auf dem Atem Gottes“; nach seiner Lektüre nimmt es nicht mehr Wunder, warum diese Autorin zu Grenzüberschreitungen neigt. 1951 in New York geboren, wuchs sie in Sozialwohnungen als Tochter von Eltern auf, die nicht von unterschiedlicheren Planeten hätten stammen können. Ihr chinesischer Vater, durch Migrations-Wirren in Panama aufgewachsen, lernte seine wesentlich jüngere Frau als amerikanischer Soldat nach dem Krieg in der süddeutschen Provinz kennen. Das Paar zog nach Amerika, wo der Vater an sieben Tagen die Woche als Kellner schuftete und an den Abenden apathisch in der Küche saß, während die Mutter, sie gab den Töchtern deutsche Namen, sich um den Haushalt kümmerte und den Kindern einen veritablen Hass auf alles Amerikanische vermittelte. Schweigen, Streit, Kränkungen. Die Erfahrung von Zugehörigkeit hat das Kind nie erlebt. Den rührenden Porträts der einsamen, in sich selbst versponnen Eltern folgen zwei Teile, die den Weg der jungen Sigrid zu der beschreiben, die sie wurde, eine Autorin, eine Künstlerin, die aus Elend Gold zu spinnen in der Lage ist. Der Preis der Selbstverwirklichung war dabei schon früh die Selbstausbeutung. Um ins Freie zu gelangen, begann das junge Mädchen manisch Ballett zu tanzen. Drill, Disziplin, Magersucht – aber eben auch: „Balance, Symmetrie, Bewegung, Form – in einem Wort: Kunst.“ Was macht den Zauber dieser kristallin klaren Prosa aus? Balance, Bewegung, Form, aber eben auch: Mitgefühl, Weisheit und Mut.

Mehr Informationen