Leselampe

2022 | KW 8

© Jean Pichard

Buchempfehlung der Woche

von Jörg Aufenanger

Der Schriftsteller und Regisseur Jörg Aufenanger, geboren 1945 in Wuppertal, lebt in Berlin. Neben Übersetzungen aus dem Französischen ist er vor allem Autor von Romanen und Lyrik sowie zahlreicher Biographien und Essays zu namhaften Schriftstellern. Zuletzt ist von ihm "Else Lasker-Schüler in Berlin" (bebra verlag, 2019) erschienen.
 

Heimito von Doderer
Die Posaunen von Jericho
(Erzählung), Mit einem Nachwort von Thomas Melle, C.H. Beck Verlag, München 2020

Heimito von Doderer hat Die Posaunen von Jericho als sein bestes Buch, gar als Hauptwerk bezeichnet. Dabei hatte der österreichische Schriftsteller zuvor so bedeutende Romane wie Die Studlhofstiege oder Ein Mord, den jeder begeht verfasst, die seinen literarischen Ruhm begründet haben. Die kurze Erzählung von 1951 aber ist ein literarischer Aberwitz, der seinesgleichen sucht. Sie beginnt mit einer Szene, die aus einem schlecht ausgeleuchteten Filmkrimi stammen könnte. Der Tatort ist ein Hausflur, in den sich der namenlose Ich-Erzähler verirrt hatte und trotz der Dunkelheit eine Person wieder erkannte. „Es war ein Mann, dessen Nase mir in der Schenke als obszöne Aussage aufgefallen war […] Sobald ich diesen Staatspensionisten erblickte, wusste ich, was er hier trieb: es hätte paradox genug, der kleinen Acht- oder Neunjährigen, an die er sich eben heranmachte, gar nicht bedurft, um zu wissen, dass solch eine Nase an diesem allgemein zugänglichen Orte gar nichts anderes tun konnte, als was ihr eben zukam […] Ungewiss blieb was ich gesehen hatte […] Unzweifelhaft erschien jedoch, dass ein hörbares Schimpfen sich gegen den Pensionisten richtete. Die Ausdrücke waren unflätig. Er war ertappt worden.“
Das Ereignis zeitigt Folgen. Schicksalsfäden werden sich kreuzen und verwirren zu einem „fatologischen Gewebe“ wie Doderer es bezeichnet, das den Menschen fest in den Griff nimmt. Der Pensionist namens Rambausek taucht nun täglich in der Schenke auf, nähert sich dem Erzähler, der sich vornimmt, die Nase, wie er den Mann nur noch betitelt, zu peinigen, zunächst allein durch Schweigen. Als die Mutter des Mädchens Rambausek erpresst, Schweigegeld fordert, bittet der unseren Protagonisten um Geld. Das sagt der ihm auch zu unter einer Bedingung: Er soll auf dem Bürgersteig vor dem Tatort allen sichtbar mit ausgestreckten Armen drei langsame Kniebeugen machen. Das tut Rambausek auch. Als der das versprochene Geld erhält, will er dem Spender an die Gurgel, woraufhin der die „Nase“ so eben mal niedergrätscht.
Auch das hat Folgen, denn alles wendet sich plötzlich. Der boshafte Gönner spürt, dass er mit diesem Mann, der ihm plötzlich „wie eine Wäscheklammer im Genick“ sitzt, zu weit gegangen ist. Sein Leben wird durch die Sache mit Rambausek zu einer Rutschbahn, er entwickelt einen bodenlosen Grimm auf alles und alle Welt, verteilt Quetschgriffe vor allem an die Mutter des Mädchens, reißt einem Schmock im Vorübergehen den Bart ab. Seine Rauflust nimmt zu. Die Trinkkumpane aus der Schenke lädt er nach Hause ein, wo es zu Keilereien mit Geschrei kommt und keiner weiß, warum er sich mit dem anderen prügelt. Um alles auf die Spitze zu treiben, heckt man eine „Büberei“ aus. Der Nachbarin, einer feinen älteren Dame, der man den Spitznamen Spitzmaus verpasst, bringen sie vor ihrer Wohnung ein lärmendes Charivari. Vier Musiker erschüttern mit Ihren Posaunen wie die von Jericho das Haus bis in die Grundfeste, die Kumpane ballern mit Schreckschusspistolen drauflos, bis das Überfallkommando der Polizei dem groben Unfug ein Ende bereitet.

Die Erzählung bietet immer neue irrwitzige Verzweigungen auf. Ein Schiffswrack in der Donau wird für das erzählende Ich Doderers zum Sinnbild des eigenen Untergangs. Ausgerechnet hier sieht er jenes Mädchen aus dem Hausflur spielen. Es droht zu ertrinken, und wer rettet es: Rambausek. Der daraufhin in Ohnmacht fällt. „Der Körper war nur ein wurmartiges Anhängsel. Was hier auf dem Uferdamm lag war eine lang hingestreckte Nase. Die war zu einer Interpunktion meines Lebens geworden […] Mit jener Nase hatte der Mann begonnen, in mein Leben einzudringen. Sie bedeutete gleichsam den Henkel des Phänomens Raimbausek, an welchem es zu ergreifen und erledigt werden könnte. Das war unterblieben, der Rutsch war nicht mehr aufzuhalten gewesen, die Posaunen von Jericho ebenso wenig wie das Geknatter der Pistolenschüsse.“
Doderer nennt seine wüste, abgründig groteske Erzählung ein „Divertimento“, also eine Unterhaltung, eine Zerstreuung, was eigentlich eine musikalische Gattung bezeichnet, die man in früheren Zeiten auch zur „Gemütsergötzung“ nutzte. Doch hier führt das Divertimento zu einem existentiellen „Knick im Gemüt“, so der Autor selbst. Wie eben bei seinem namenlosem Alter Ego in den Posaunen von Jericho. Angesichts der Schicksalsschläge und der Zumutungen im Leben, seiner unerbittlichen Mechanismen, der Gewaltphantasien, die den Menschen heimsuchen, wird dieser zum Wutbürger, der „von vorne kein Gesicht und im Hinterkopf eine Mördergrube“ hat, so Doderer. Ihn selbst könnte man aufgrund dieser Erzählung und seiner Kurzprosastücke Acht Wutanfälle einen Wutschriftsteller nennen. Ob man als Leser Doderer in seiner verachtenden Menschensicht nun folgt oder nicht, er fasziniert jedenfalls als Sprachvirtuose und pointensicherer, glänzender Stilist. Je nach Gemütslage wird man als Leser Die Posaunen von Jericho als eine sinistre, unbehagliche Erzählung empfinden oder als unterhaltsam herrlich böse Burleske. Ein verrücktes Buch, das von zwei verrückten Menschen erzählt, geschrieben von einem ebenfalls Verrückten?

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