Leselampe

2021 | KW 25

© Manfred Weis

Buchempfehlung der Woche

von Max Haberich

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Max Haberich wurde 1984 geboren und wuchs in Mün­chen auf. Nach seinem Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Neue­ren deutschen Literaturwissenschaft in York, Aix-en-Provence und Tübingen promivierte er über die deutsch-jüdische Identität von Arthur Schnitzler und Jakob Wassermann an der Universität Cambridge. Veröffentlichungen in verschiedenen Literatur- und Fachzeit­schriften sowie Anthologien. Gründung des Autorenkreises Jung Wien ’14. Er veröffentlichte 2017 die Biographie Arthur Schnitzler. Anatom des Fin-de-Siècle (Kremayr & Scheriau). 2019 erschienen Am Abhang der Wind, Erzählungen und Satiren (Löcker), 2021 der Roman Glanz und Schatten im gleichen Verlag. In diesem Jahr hat er mit zwei schreibenden Kollegen den Verlag Brot und Spiele ins Leben gerufen, welcher  die Kurzgeschichte als eigenständige literarische Form feiern und jungen Autoren eine Plattform bieteten möchte. Max Haberich lebt seit September 2014 in Wien.

Robert Gernhardt
Kippfigur
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2004

Gernhardt war einer der ganz wenigen Humoristen in Deutschland, die es verdienen, mit Loriot in einem Atemzug genannt zu werden. Vermutlich kennen ihn deshalb auch nicht mehr so Viele. Wie der schmerzlich vermisste Herr von Bülow war auch der schmerzlich vermisste Robert Gernhardt Zeichner und Maler. Das erklärt wohl, warum sein Schaffen sich nicht sauber in die von Literaturwissenschaftlern gewünschten Beiträge zu den Sparten Lyrik, Roman, Drama, Essay zwängen lässt, bzw. er in bestimmten Genres, etwa dem Roman, defizitär geblieben ist. Ein überzeugter Germanist würde behaupten: Er hat zu viel gezeichnet. Nun, da kann man nichts machen. Seine Zeichnungen sind auch nicht schlecht. Und jetzt ist es sowieso zu spät.
Gernhardt hat natürlich auch zu viele Gedichte geschrieben. Einige von ihnen sind regelrechte Sprachkunstwerke und sollten an Schulen behandelt werden. Mich interessiert an dieser Stelle jedoch mehr seine Prosa, und damit meine ich nicht seine scharfsinnigen essayistischen Betrachtungen zu künstlerischem Schaffen, zur Psychologie menschlicher Eitelkeit, zu den endlosen Abstufungen an Intensität in den Beziehungen zwischen Mann und Frau. Nein – damit meine ich seine richtigen, ausgewachsenen Erzählungen – von denen es leider weniger gibt, als man es sich erhoffen würde – und zwar die in seiner Sammlung Kippfigur, die 2004, zwei Jahre vor seinem Tod, bei S. Fischer erschienen ist.
In Das Buch Ewald bewerten Gott und Teufel, reichlich mit moralischer Wertung gespickt, die vergeblichen Mühen eines Mannes, eine junge Frau ins Bett zu kriegen – wobei der Teufel mehr Cognac trinkt – bis der arme Kerl schließlich selbst dem ultimativen Verführer, einem Psychotherapeuten, zum Opfer fällt, und Satan triumphiert.
Andernorts, in einem trendigen griechischen Lokal nämlich, steht – oder besser: sitzt – eine Frau zwischen einem Lektor und einem Redakteur, wobei sie sich Gott sei Dank die Entscheidung vorbehält, wie der Abend ausgehen soll. Eine ähnliche Sektion zwischenmenschlicher Dynamik, gemischt mit beruflichem Ehrgeiz, wird auf einer jamaikanischen Traumparty durchgeführt. Den erzählerischen Höhepunkt stellt Flucht in die Falle dar, in der zwei alte Schulfreude, die, wie so oft bei Gernhardt, verdächtig nach Medienleuten riechen, sich bei einem Düsseldorfer Edel-Italiener an Weltgewandtheit zu überbieten versuchen, während die Geschichte um die deutlich jüngere Tanja entrollt wird, mit der einer der beiden von einer krisenhaften Reise nach Siena zurückgekehrt ist.
Elch, Bär, Biber, Kröte bringt einem Paar, dass sich auf einer einsamen Wanderung an einem Waldsee wiederfindet, entscheidende Erkenntnis, aus der man aber, wie bei vielen Paaren, nicht notwendigerweise entscheidende Schlüsse ziehen muss. Die Florestan-Fragmente lassen den Dekameron anklingen – in moderner Form, durch einen Rückzug aufs Land bedingt nicht durch eine Pandemie, sondern durch den Frankfurter Smog.
Und immer wieder die Literatur, und die Kunst. Philosophische Exkurse erleben wir, neben der Anfangsgeschichte, im Dialog eines „klugen Mannes“ mit einer „schönen Frau“; in dem Malermärchen; in den Brozen von Riace. Aber in den anderen Geschichten bringt Gernhardt uns die Schwächen gerade der Leute nahe, denen wir die Verantwortung für das kulturelle Erbe, für die Kultur im weitesten Sinne anvertraut haben. Sie sind, mit ihrer Arroganz, ihrem Ehrgeiz, ihrer Lust eben auch nur Menschen. Auf schmerzhafte Weise lustig wird dies im Kampf in der Berghütte, wo sich in alpenländischer Abgeschiedenheit ein aufstrebender und ein etablierter Schriftsteller um den einzigen Kuli balgen, damit sie ihre Einfälle notieren können. Aber wessen Einfälle sind wichtiger? Eine Tintenpatrone hält schließlich auch nicht ewig.
Ob Gernhardt seine am eigenen Leibe erlittenen oder zumindest erdachten Erfahrungen mit Schriftstellern in anderen Büchern – Glück Glanz Ruhm (1997) oder Wege zum Ruhm. 13 Hilfestellungen für junge Künstler und 1 Warnung (1999) – der Leserschaft mit kunstvoller satirischer Distanz vorsetzt, oder das neuzeitliche grüne Spießbürgertum in Es gibt kein richtiges Leben im valschen (1997) aufs Korn nimmt: Sie, lieber Leser, brauchen Gernhardt. Sie wussten es bloß noch nicht. Gerade heute. Kaufen Sie seine Bücher – es wird Ihnen besser gehen.

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