Leselampe

2021 | KW 48

© Sascha Kokot

Buchempfehlung der Woche

von Martina Hefter

Martina Hefter lebt in Leipzig als Autorin und Performerin. Nach einem Studium des zeitgenössischen Tanzes in Berlin studierte sie Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie veröffentlichte mehrere Romane und Gedichtbände, zuletzt: Es könnte auch schön werden, Gedichte und Sprechtexte (2018) und, aktuell, In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen, beide im Kookbooks-Verlag, Berlin. Martina Hefters Texte bewegen sich zwischen Gedicht, Essay und szenischen Schreibformen. Viele ihrer Texte setzt sie selbst szenisch um und mischt dabei Elemente des Theaters und der Performance. Martina Hefter arbeitet daneben auch als Gastperformerin, z.B für das Urban Collective und Heike Hennig in Leipzig sowie für Tino Sehgal in Dresden und Berlin. Außerdem unterrichtet sie von Zeit zu Zeit, u.a. am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Kunsthochschule Halle Burg Giebichenstein.

Bea Meyer
VOR
(Künstlerbuch), Spector Books, Leipzig 2016

Schrift, Schriftbilder, überhaupt Sprache sind in den Werken der bildenden Künstlerin Bea Meyer schon immer präsent, und immer liegt unter der Oberfläche ihrer Arbeiten auch ein unterirdischer Eisberg an Erzählung. Zuerst offenkundig wird aber etwas anderes, nämlich das, was in der Literatur so gern das “Materialhafte der Sprache” genannt wird. In frühen Arbeiten Meyers sind Wörter und Sätze in Stoff gestickt oder eingewebt, so zum Beispiel der Satz ICH BIN MIR SICHER als Seidenstickerei auf einem Wandvorhang. Später z.B. Claim, eine Installation für den Zuschauerraum der Bauhausbühne Dessau. »Utopia is a perfect social system where everyone is satisfied and happy« steht auf einem handgewebten Absperrband und verweist auf die Frauen des Bauhauses, die nur in der Weberklasse studieren durften. Das Band sperrt den Anteil der Frauen am Bauhaus ab, im Verhältnis zur Anzahl aller Sitzplätze. Später folgen großformatige Stofftafeln mit gestickten handschriftlichen Einträgen aus Taschenbuchkalendern, die Bea Meyers Leben zwischen Alltag mit Familie und künstlerischer Arbeit dokumentieren.

Überhaupt diese Kalender. VOR ist ein Buch und besteht aus unkorrigierten Abschriften sämtlicher Kalendereinträge Meyers zwischen 2000 und 2015. Am 4. Februar 2000, einem Freitag, steht “13.30 Uhr Diplom” - hier beginnt Meyers offizielle Laufbahn als Künstlerin. Um das Leben und Arbeiten in der Kunst, und wie beides auf so alltägliche wie außergewöhnliche Weise in eins fällt, geht es dann auch in VOR. Fast täglich gibt es meist kurze Einträge: Treffen mit Kolleg*innen, Termine in Galerien, bei Fachgeschäften für Folien, in einer Weberei, Tanzen gehen, Notizen zu Materialien, Telefonnummern, Namen, Urlaubszeiten- und Orte. Später, als das erste von drei Kindern geboren wird, Termine für Hebamme, Babyschwimmen, Kitavorstellungen. Einiges ist durchgestrichen, wahrscheinlich das, was dann doch nicht stattfand. Es sind keine Tagebücher, die Bea Meyer führt. Nur selten finden sich Einträge wie “Micha gings schlecht”, oder “Gesund!”. Dafür gibt es immer wieder Seiten mit eingerückten Kästchen, von denen einige Meyers Arbeiten aufführen, mitsamt der verwendeten Materialien. Andere geben Raum für Gedanken über ihre Arbeit als Künstlerin, wie z. B. am 17.5.2002: “Unverständnis, Sprachlosigkeit wird artikuliert. Ich nehme das Chaos wahr und suche mir etwas, was mir liegt, wovon ich etwas verstehe und dehne den Arbeitsaufwand (Zeit) ins Entferntliegende, damit ich auf längere Sicht einer für mich sinnvollen Tätigkeit nachgehen kann.” Manchmal sind es auch kurze Berichte über Ereignisse, und wie sie in Arbeiten umgesetzt werden, wie der längere Eintrag am 11.9.2001, als Bea Meyer in der HGB am Rechner sitzt, als die Anschläge in den USA geschehen. Später wird sie nach Hause fahren, Fernsehbilder auf Video mitschneiden - Ausgangsmaterial für eine spätere textile Arbeit.

VOR habe ich nicht vollständig gelesen. Vielleicht werde ich es nie zu Ende lesen, vor allem nicht in einem Rutsch und chronologisch von der ersten bis zur letzten Seite. Dafür lese ich das Buch die ganze Zeit, dauernd, immer wieder. Es ist für mich eines der spannendsten erzählenden Werke der Literatur, die ich kenne. Und eines der vollständigsten, genauesten. Es genügt mir schon, eine halbe Seite zu lesen, und ich weiß sehr viel über diese Bea Meyer und ihr Leben. Ich weiß, wo sie an diesen Tagen war und was sie so gemacht hat. Ich brauche keine psychologischen oder dramaturgischen Verwicklungen, damit mich das interessiert - mich interessiert gerade die blanke Schilderung der Strukturen, die das Leben ja eigentlich - ausmachen? Die es zumindest stützen, ihm eine Form geben, einen Ablauf. Manchmal ist das auch ein Ablauf, der einen staunend oder besorgt zusehen lässt: So viel, was in einen Tag passt. Was man bewältigen muss. So viel auch, was einen von der künstlerischen Arbeit abhalten kann. Und was sie zugleich auch erst hervorbringt, denn wir schaffen unsere Kunst ja immer aus dem Leben heraus, aus der Reibung mit ihm. Außerdem ist VOR ein Buch, das ich über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder lesen kann, sozusagen ein gewaltiger Fortsetzungsroman. Ich lese diesen Roman nun schon seit seinem Erscheinungsjahr 2016 und kann ihn nur wärmstens empfehlen. Im Anhang befindet sich ein Katalog mit allen Arbeiten von Bea Meyer, auch das höchst sehens- und lesenswert.

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