Leselampe

2021 | KW 15

© Simone Falk

Buchempfehlung der Woche

von Stanisław (Stan) Strasburger

Stanisław (Stan) Strasburger ist Schriftsteller und Kulturmanager. Sein aktueller Roman Der Geschichtenhändler erschien 2018 auf Deutsch (2009 auf Polnisch und 2014 auf Arabisch). Der Autor wurde in Warschau geboren und lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten. Er veröffentlicht u. a. bei der Deutschen Welle World, der FAZ und der Tageszeitung „Rzeczpospolita“. Zudem ist er Ratsmitglied des Vereins „Humanismo Solidario“.

Catherine Millet
Das sexuelle Leben der Catherine M.
Aus dem Französischen von Gaby Wurster, Goldmann Verlag, München 2001 (auch als Hörbuch erhältlich)

Als ich im Sommer vergangenen Jahres einen Essay über Körper, Gesundheit und Sprache anlässlich der Covid-Krise schrieb, stieß ich auf Das sexuelle Leben der Catherine M.. Seitdem begleitet mich die Autofiktion von Catherine Millet.
Die zeitgenössische Pariser Kunsthistorikerin M. berichtet dort mit Staunen darüber, was einem seit Kindesalter mit Nachdruck eingepfercht wird: dass nämlich so wie sich das „stille Örtchen“ allein aufzusuchen gehört, auch die Sexualität in einen abgesonderten, zumeist engen Raum, fern von Augen, Ohren und Nasen der anderen gehöre. Die Fluida unserer Körper, wie Millet sie nennt, sollen verschämt ausgeschieden und gleich weggespült oder abgewaschen werden, sie sollen diskret und spurlos verschwinden.
M. rebelliert genau gegen diese Diskretion. Und sie zeigt auch die Heuchelei und den Zynismus unserer global-westlichen Gesellschaften auf, in denen das Gebot der stillen Örtchen im Bereich der Sexualität immer wieder aufgrund oppressiver Machtkonstellationen unterwandert wird. Dafür steht die von ihr eindringlich beschriebene, oft tief verstörende Verbannung der jugendlichen Sexualität in halb öffentliche, schäbige Durchgangsräume: Treppenhäuser, Keller und Parkplätze. Das gilt aber auch für die sexuellen Übergriffe inmitten familiärer, man würde meinen, sicherer Räume, wie etwa seitens des Opas von M., Übergriffe, an deren erschreckende Ausmaße uns zuletzt die #MeToo-Bewegung erinnerte.
Doch nicht zufällig positionierte sich Millet kritisch gegenüber dieser Bewegung. Als ob sie den Spieß umdrehen wollte und fragte: Wäre es nicht befreiender und vielleicht sogar glücksbringender, wenn wir Sexualität so denken und sozialisieren würden, wie wir es mit unserem Essverhalten tun? Manchmal essen wir tatsächlich im Stillen, alleine oder zu zweit, manchmal aber auch mit Freunden, sind laut, kleckern herum, riechen nach Gebratenem und essen uns gegenseitig von den Tellern. Und manchmal gehen wir zu einem bunten Foodmarket, um mit Hunderten von Fremden eine Essorgie zu feiern.
Millets Autofiktion ist viel mehr als eine Aufzeichnung exzessiver Sexerfahrungen. Wie sind die gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen dem städtischen Raum und unseren Körpern? Das Verstecken und Gesehenwerden, Ver- und Enthüllen, die anerzogene Schüchternheit und die zwischenmenschliche Kommunikation, sowohl die sprachliche, als auch die jenseits von Wörtern: All das wird auf den Prüfstand gestellt.
Der revolutionären Dynamik des Romans von Millet steht der im Text namentlich genannte Georges Bataille Pate. Doch die präzise, nüchterne Sprache der Autorin reißt gerade hier einen Spalt auf: Indem sie ein besonderes literarisches Erlebnis jenseits pornografischer Funktionalität bietet, erliegt sie der kartesianischen Tradition der Versprachlichung des Körpers.
M. lebt den Bataille'ischen Exzess, doch sie berichtet darüber aus einer sterilen Sprachsphäre heraus, aus der Vogelperspektive beobachtend. Als wäre ihr Cogito dann doch außerhalb des Körpers platziert, überall auf einmal und nirgendwo konkret, und würde den von ihm getrennten Körper von oben herab kartographieren. Millet erzählt eine Geschichte, die ihrer literarischen Sprache trotzt. Man kann das als Manko betrachten, aber man kann auch innehalten und fragen: Geht Literatur überhaupt anders?
In Zeiten von COVID, aber auch im Zuge der anhaltenden Nachwirkung von #MeToo und der Debatten um Aneignungen im Bereich von Literatur, Vergangenheit und Geschlechterrollen, scheint mir ein Blick in den Roman besonders wertvoll. Millet ermutigt zu einer Rebellion, die immer noch darauf wartet, von der sterilen Sprache befreit und verkörpert zu werden. Meine klare Empfehlung!

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2021

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